Neue Zeit 1919. Gerhard Jelinek

Neue Zeit 1919 - Gerhard Jelinek


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der »Garde-Kavallerie-Schützen-Division«, die den kommunistischen Spartakusaufstand mit Härte und Brutalität niedergekämpft hat. Jetzt wird abgerechnet.

      Die deutsche Hauptstadt ist seit einer Woche Schauplatz von Straßenkämpfen, Barrikaden wurden errichtet, Zeitungshäuser besetzt, Hunderte sind gestorben. Daneben strömen die vergnügungssüchtigen Berliner in Kinos und Varietés. Sie tanzen auf einem Vulkan. Die Stimmung ist hysterisch, die Lage unübersichtlich, sicher ist nicht das Leben, sicher ist nur die Gefahr.

      Die Linke ist in drei Flügel gespalten. Die »Mehrheits-Sozialisten« wollen den neuen Staat als parlamentarische Republik aufbauen, die linke Abspaltung USPD will die Revolution, den sozialistischen Staat, und von ganz links attackieren die Kommunisten und Spartakisten die regierenden Sozialdemokraten. Reichskanzler Friedrich Ebert versucht aus den Zerstörungen des wilhelminischen Deutschlands eine demokratische Republik aufzubauen. Die Macht hat Reichswehrminister Noske. Er macht bereitwillig die »Drecksarbeit«. Kaiser Wilhelm hat der Republik einen verlorenen Krieg als Erbe hinterlassen und ist ins holländische Exil geflüchtet.

      Aus der versteckten Redaktion der Roten Fahne schreit Rosa Luxemburg auf beinahe stündlich produzierten Flugblättern die Revolution der Spartakisten in den Berliner Straßen aus. Doch der Revolution fehlt die behauptete Massenbasis der Arbeiter. Die sozialistische Utopie der Weltrevolution bleibt ein intellektuelles Ziel, das an der Wirklichkeit zerbricht. Die Masse der Arbeiter und der Kriegsheimkehrer will endlich Frieden, sicheres Einkommen, aber keine bolschewistische Revolution. Und das Bürgertum geht in Deckung, es überlässt den internen Kampf um die Macht den linken Fraktionen der Weimarer Republik, um dann mit dem Militär zurückzuschlagen.

      Hauptmann Waldemar Pabst verhört die Verhafteten noch in der Nacht. Das Urteil über sie ist längst gesprochen. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sollen exekutiert werden. Es ist ein angekündigter politischer Mord. Schon seit Tagen kursieren in Berlin Flugzettel, die zur Tötung aufrufen. »Arbeiter, Bürger! Das Vaterland ist dem Untergang nahe. Rettet es! Es wird nicht von außen bedroht, sondern von innen: Von der Spartakusgruppe. Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht!«

      Luxemburg wird nach einem Verhör zu einem Wagen geführt. Sie soll befehlsgemäß ins Gefängnis Moabit überstellt werden. Die heimliche Order aber lautet auf Mord. Beim Einsteigen in den Wagen wird sie von einem Soldaten mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Beim Abfahren springt ein Leutnant aufs Trittbrett des Wagens und erschießt die Ohnmächtige aus nächster Nähe. Auf der Lichtensteinbrücke, nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt, wird die Leiche aus dem Auto in den Landwehrkanal geworfen. Der Mord an den beiden Symbolfiguren der Revolution schlägt in Deutschland, aber auch in Wien, wie eine Bombe ein. Das Fremdenblatt berichtet auf der Titelseite: »Die leitenden Personen der Spartakistenbewegung Deutschlands haben gestern ein schreckliches, gewaltsames Ende gefunden. Sie fielen nicht im Kampf, sondern nach dem sie die Freiheit verloren, büßten sie auch das Leben ein, aber nicht infolge eines gesetzmäßigen Urteilsspruches. Sie standen nicht außerhalb des Gesetzes, doch jenseits des Gesetzes ereilte sie das Schicksal. Noch bedürfen die Umstände der jüngsten Berliner Tragödie der näheren Aufklärung, noch liegt namentlich über Art und Weise der Ermordung Rosa Luxemburgs einiges Dunkel, aber die eine Tatsache steht fest, daß sich abermals die Wahrheit des Satzes erwiesen hat: Gewalt ruft Gewalt hervor.« Schon am Tag nach der Tat wird »das fürchterliche Ende der Rosa Luxemburg« als Mord bezeichnet. Die Arbeiter-Zeitung druckt die offizielle Version der Garde-Kavallerie-Schützen-Division ab, um dann empört zu kommentieren: »Die entsetzliche Bluttat am Abend des Mittwoch in Berlin, der Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Opfer gefallen sind, läßt die Seele dennoch im furchtbarsten Schauer erbeben.« Während Rosa Luxemburgs Leiche erst Wochen später aus dem Landwehrkanal geborgen werden kann, wird Karl Liebknecht im Leichenschauhaus aufgebahrt. Tausende stellen sich an, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Sie bekommen den Leichnam nicht zu Gesicht, und das mit Grund. Die Illustrierte Kronen Zeitung übernimmt Informationen der B. Z. am Mittag. Demnach habe Liebknecht drei Schusswunden erlitten. Die Kugeln hätten den Körper aus nächster Nähe von vorne getroffen. In Wien bewertet die Arbeiter-Zeitung das politische Erbe der beiden Toten: »In jüngster Zeit standen Liebknecht und Luxemburg in heftigem Kampfe gegen die deutsche Sozialdemokratie. In diesem Kampfe hatten sie unrecht. Sie haben mit Unrecht geglaubt, daß die Vernichtung der demokratischen Errungenschaften der Revolution, daß die Diktatur einer kleinen Minderheit das rechte Mittel sei, eine sozialistische Welt zu gründen. Ihr Irrtum hat dem Proletariat furchtbaren Schaden zugefügt: es ist in einen unseligen Bruderkampf verwickelt, dessen Ergebnis nur der Bourgeoisie, nur der Konterrevolution nützt.«

      Der Mord an den beiden Kommunistenführern bleibt ungesühnt. Anklagen führen zwar zu Prozessen, sie sind allerdings eine Farce und enden mit Freisprüchen – oder mit Schuldsprüchen, denen die Täter entkommen. Es gibt viele Mitwisser. Die Befehle dazu sollen von ganz oben gekommen sei. 1962 wird Hauptmann Waldemar Pabst in einem Spiegel-Interview gestehen: »Ich ließ Rosa Luxemburg richten. Daß ich die Aktion ohne Zustimmung Noskes gar nicht durchführen konnte – mit Ebert im Hintergrund – und auch meine Offiziere schützen mußte, ist klar. Aber nur ganz wenige Menschen haben begriffen, warum ich nie vernommen oder unter Anklage gestellt worden bin. Ich habe als Kavalier das Verhalten der damaligen SPD damit quittiert, daß ich 50 Jahre lang das Maul gehalten habe über unsere Zusammenarbeit.«

      Die weitere Karriere des Offiziers als »schillernd« zu bezeichnen, wäre eine krasse Untertreibung. Nach einem gescheiterten Putschversuch 1920 flieht er nach Innsbruck und bleibt in Österreich. Er wird in den 1930er-Jahren Stabschef der faschistischen »Heimwehr«. Ein Angebot von Adolf Hitler, für ihn zu arbeiten, lehnt Pabst ab. Er fühlt sich als »Konservativer«. Hitler hält er für einen »Sozialisten«. Pabst wird ein enger Vertrauter des Hirtenberger Munitionsfabrikanten Mandl und verstrickt sich in allerlei höchst lukrative Waffengeschäfte.

      IN MONTE CARLO SCHLÄGT DIE BESTE TENNISSPIELERIN DER WELT AUF

      Die Welt ist gerade erst aus den rauchenden Trümmern des Ersten Weltkriegs in einen Revolutionswinter getaumelt, aber an der französischen Côte d’Azur findet ein »distinguiertes Publikum« Gefallen an sportlicher Spitzenleistung. Im »Lawn-Tennis-Club« von Nizza findet ein exquisites Mixed-Doppel statt: Suzanne Rachel Flore Lenglen, »Championspielerin der Welt«, und Joseph Negro treten gegen Richard Norris Williams, dem Champion der Vereinigten Staaten, und Pierre Albarran vom Tennis-Club de Paris an. Mit der Französin Lenglen steht die beste Tennisspielerin der Zeit, wenn nicht aller Zeiten, auf dem gepflegten Rasenplatz. Die französischen Zeitungen haben ihr den – nicht unbescheidenen – Titel »Die Göttin« verliehen. Die Pariserin gilt mit 81 Turniersiegen und 341 gewonnenen Spielen (bei nur sieben Niederlagen) als erste weibliche Superathletin. Nach den ersten zwei überraschend verlorenen Sätzen findet Mademoiselle Lenglen zu ihrer Bestform. Sie und ihr Partner Joseph Negro schlagen ihre Gegner in fünf Sätzen: 3:6, 2:6, 6:1, 6:0, 6:2.

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      Der Wiener Eislaufverein beim Konzerthaus muss das »anberaumt gewesene Kunst- und Schnellaufen« absagen. Es ist zu warm. Die Konkurrenten konnten wegen des milden Wetters zu wenig üben.

       23. Jänner 1923

      »Für den privaten Geschäftsgeist wird noch weiter Raum bleiben«

       Karl Renner gibt einer amerikanischen Journalistin ein Interview

      Karl Renner hat eine Lieblingsjournalistin. Am 23. Jänner trifft der Staatskanzler die Amerikanerin Elizabeth Jane Cochran aus Pennsylvania und gibt ihr ein ausführliches Interview. Die außergewöhnliche Dame ist unter dem Pseudonym Nellie Bly bekannt. Die Weltreisende gilt als erste »investigative« Journalistin der Welt. Für eine Reportage über ein Frauenasyl auf der Insel Blackwell’s Island bei New York täuscht sie eine Geisteskrankheit vor und lässt sich für elf Tage in die Klinik einweisen. Ihre aufwühlende Reportage erscheint in der Zeitung New York World. Eigentümer und Herausgeber ist Joseph Pulitzer. Nellie Bly wird so zu einer Pionierin des versteckten Recherchierens. Pulitzers Zeitung finanziert eine Abenteuerreise ihrer Spitzenjournalistin,


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