Neue Zeit 1919. Gerhard Jelinek

Neue Zeit 1919 - Gerhard Jelinek


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Noske, in Wien die Sozialdemokraten mit Karl Renner, Otto Bauer und Karl Seitz. Das Bürgertum verhält sich still, beobachtet verängstigt die Kämpfe um die soziale Revolution.

      Harry Graf Kessler muss sich einer Halsoperation unterziehen und erlebt die Berliner Straßenkämpfe sediert durch Schlafmittel und die Nachwirkungen seiner Narkotisierung: »In der Nacht ist ein regelrechtes Gefecht um das Haus des Mosse’schen Verlages entbrannt. Bisher hatten es die Spartakisten.«

      Der »Spartakusaufstand« entwickelt sich aus einer Großdemonstration im Herzen von Berlin. Über die Lindenstraße, den Pariser Platz ziehen Tausende bewaffnete Spartakisten, Matrosen in ihrer Uniform, Arbeiter und Soldaten. Sie protestieren gegen die Absetzung des »linken« Berliner Polizeichefs Emil Eichhorn. Die Straßen sind nass, die Witterung aber eher mild, bewaffnete Arbeiter besetzen das Berliner Zeitungsviertel. So wollen sie die vornehmlich bürgerlichen und sozialdemokratischen Massenmedien in die Hand bekommen, die Revolution braucht die gedruckte Presse. Als eines der ersten Zeitungsgebäude wird der sozialistische Vorwärts-Verlag am Belle-Alliance-Platz besetzt, dann folgen alle anderen wichtigen Zeitungshäuser und das Büro der Wolff’schen Telegraphenagentur. Die gewaltsame Besetzung des Berliner Nachrichtenzentrums provoziert einen massiven militärischen Gegenschlag der sozialdemokratischen Regierung. Reichswehrminister Gustav Noske wird zum bestimmenden Mann der nächsten Tage. Er verlegt – für die Regierung – verlässliche Truppen in die Hauptstadt. Am 6. Jänner, dem Dreikönigstag, eskaliert die Lage. Auf der Chausseestraße haben Regierungstruppen Maschinengewehrstellungen aufgebaut, die Straße ist gesperrt. Demonstranten versuchen durchzubrechen. Es wird geschossen. 16 Kommunisten sterben im Kugelhagel. Kessler notiert: »Ganz Berlin ist ein brodelnder Hexenkessel, in dem Gewalten und Ideen durcheinanderquirlen … nie seit den Tagen der großen französischen Revolution hat so viel bei den Straßenkämpfen in einer Stadt für die Menschheit auf dem Spiel gestanden.« Doch die Revolutionäre bleiben isoliert, ihre Bewegung auf das eng umgrenzte Zeitungsviertel beschränkt. Rosa Luxemburg hämmert jeden Tag anfeuernde Artikel in die Tasten ihrer Schreibmaschine, die in der Roten Fahne gedruckt werden. Doch die Masse der Arbeiter schließt sich dem kommunistischen Kampf nicht an.

      Der Berliner Fotograf Willi Ruge ist ein wichtiger und auch geschäftstüchtiger Chronist der Zeit. Er dokumentiert die Kämpfe in Berlin, zeigt die Folgen und verkauft seine Fotos an Zeitungen, er lässt aber auch in Großauflage Bildkarten drucken, die als Ansichtskarten verschickt werden.

      Arthur Schnitzler fährt nach Grinzing in die Armbrustergasse und bespricht mit Josef Redlich in dessen weitläufigem Garten die Lage in Deutschland. Schnitzler notiert am Abend Stichworte des Gesprächs: »Thorheit eines Anschlusses an Deutschland in diesem Augenblick: Zusammenbruch des Sozialismus. Rolle der Juden im Bolschewismus.« Während Schnitzler beim »Thee« räsoniert, wird der Häuserkampf im Berliner Zeitungsviertel blutig. Die Regierungsarmee setzt neben einem Panzer Maschinengewehre und schwere Artillerie ein. Nach und nach werden die revolutionären Spartakisten eingeschlossen. Nach zwei Tagen sind bereits 30 Menschen tot. Am 8. Jänner erhält der sozialdemokratische Minister Noske die Vollmacht, den Aufstand niederzuschlagen. Sein kolportierter Satz, den er vor dem Schreibtisch von Reichspräsident Friedrich Ebert gesagt haben soll, wird berüchtigt: »Meinetwegen. Einer muss der Bluthund werden!« Am 11. Jänner stürmen Soldaten das Gebäude der SPD-Zeitung Vorwärts. Dabei sterben fünf Soldaten, angeblich durch das Feuer eines Maschinengewehrs, das Rosa Luxemburg bedient haben soll. Dieses falsche Gerücht ist ein Vorspiel für die Ermordung der kommunistischen Gallionsfigur wenige Tage später. Die Sturmtruppen erobern die Redaktion des Vorwärts. Gefangene werden in die »Garde-Dragoner-Kaserne« geschleppt und dort im Hof erschlagen.

      Die Gleichzeitigkeit von großstädtischem Leben und blutigem Häuserkampf wird schon von den Zeitgenossen bemerkt. Die Berliner Mittagszeitung berichtet von der »Flucht der Theaterbesucher«. »Während der Kampf um das Mossehaus in den späten Abendstunden an Stärke etwas abnahm, entwickelte sich um das Straßenviertel längs des Gendarmenmarktes und des Schauspielhauses eine lebhafte Schießerei (…) Eine eigenartige Note bekam das Straßenbild dadurch, daß zur Zeit des heftigsten Feuers gerade die Vorstellung im Schauspielhause beendet war. Es begann nun eine wilde Flucht der Theaterbesucher. In wertvolle Kleidung gehüllt, quetschten sich die Damen und Herren hart an den Häuserwänden entlang, allenthalben Schutz suchend. Es ging die Flucht bis zum Eingang der Untergrundbahn, dem rettenden Loch, dem bombensicheren Unterstand.«

       13. Jänner 1919

      »Wir sprachen viel über den Krieg«

       Präsident Woodrow Wilson schickt einen Amerikaner nach Wien

      Archibald Cary Coolidge besucht kurz vor Mittag Josef Redlich in dessen Villa in der Döblinger Armbrustergasse 15. Das Haus in der Heurigengegend wird in den 1970er-Jahren die Tradition eines verschwiegenen Ortes der politischen Begegnung fortsetzen. »Die Armbrustergasse« und das kleine Vorstadtpalais gehen als »Kreisky-Villa« in die Zeitgeschichte ein.

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       Im Auftrag des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson kommt der amerikanische Historiker Archibald Cary Coolidge nach Wien. Er soll die amerikanische Delegation bei der Pariser Friedenskonferenz über die Lage in Wien informieren. Noch glaubt er an das Wort seines Präsidenten: »a peace without victory!«

      Der ehemalige Finanzminister und Rechtswissenschaftler Redlich begrüßt seinen unangemeldeten amerikanischen Gast »in großer Rührung und Freundschaft«. Redlich und Coolidge sind alte Bekannte, die sich schon aus den Tagen vor dem »großen Krieg« kennen. Der aus einer prominenten Bostoner Familie stammende Professor für Geschichte hat immer wieder im diplomatischen Dienst gearbeitet und kennt Wien aus seiner Zeit als Sekretär der amerikanischen Gesandtschaft in der k. u. k. Monarchie. Archibald Cary Coolidge ist ein wichtiger Mann. Im Auftrag des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson ist er nach Wien gekommen, um die politischen Vorgänge in der jungen Republik zu beobachten und der amerikanischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Paris Informationen über die Lage zu geben. Die Amerikaner wollen nicht nur durch die französische Brille auf die Lage in Mitteleuropa blicken und haben eine »Field Missions of the American Commission to Negotiate Peace« in Marsch gesetzt. Archibald Coolidge ist der Chef, und er vertraut Redlich, der seit Jahrzehnten hinter den Kulissen agiert und in Wien bestens vernetzt ist. Der Amerikaner bittet um die Expertise des Abgeordneten zur provisorischen Nationalversammlung. Redlich soll den Amerikanern helfen, ein einigermaßen vollständiges Bild der verworrenen Lage zu bekommen. Zunächst versorgt ihn der Wiener Finanzexperte mit Literatur. Coolidge interessiert sich nicht nur für »Deutschösterreich«. Die revolutionäre Situation in Ungarn beunruhigt die Amerikaner. Sie wollen die Ausbreitung des Bolschewismus Richtung Westen stoppen. Archibald Coolidge hat eine Handvoll Mitarbeiter für seine Mission. Er schickt zwei Herren nach Prag, nach Laibach und nach Polen.

      Während des Krieges war Coolidge mit einer amerikanischen Mission im Fernen Osten des Zarenreichs. Der Harvard-Professor ist ein Mann für alle Krisen, ein brillanter Wissenschaftler, ein Kenner Europas und ein Freund Österreichs. Er bittet Redlich, »die vielen Briefe durchzusehen, die er empfangen hat, und ihm zu raten, was er antworten soll«. Redlichs Villa mit dem schönen Park in der Grinzinger Heurigengegend wird zur Anlaufstelle für ausländische Experten. Redlich speist mit dem britischen Verbindungsoffizier Oberst Sir Thomas Cuninghame bei Richard Coudenhove-Kalergi und übt sich in der Verständigung mit dem einstigen Kriegsgegner: »Cuninghame war sehr nett, wir sprachen viel über den Krieg.«

      Die Amerikaner und Engländer hegen in den ersten Wochen des Waffenstillstands kaum negative Gefühle gegen den einstigen Kriegsgegner. Tatsächlich bestand für die Habsburgermonarchie nie ein ernsthaftes Motiv gegen England oder gar die Vereinigten Staaten ins Felde zu ziehen. US-Präsident Wilson wird mit seiner Deklaration der »14 Punkte« als Hoffnung bei den Pariser Verhandlungen gesehen. Sein Diktum vom »Selbstbestimmungsrecht der Völker« müsse doch wohl auch für die deutschsprachigen


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