Neue Zeit 1919. Gerhard Jelinek

Neue Zeit 1919 - Gerhard Jelinek


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können. Am 22. Jänner des Jahres 1917 hat Wilson vor dem Senat eine außerordentliche Rede gehalten, unrealistisch und doch vorausschauend. Noch vor dem Kriegseintritt der Amerikaner formulierte der Präsident das Friedensziel. »Der Frieden, der geschlossen werden muss, muss ein Frieden ohne Sieg (»a peace without victory«) sein. Ein Sieg würde dem Verlierer Bedingungen auferlegen, die dieser als Erniedrigung empfinden müsse, nach Jahren der Entbehrung wäre das ein untragbares Opfer, das ein immerwährender Stachel im Fleisch des Besiegten sein würde. »Only a peace between equals can last (…) Right must be based upon the common strength, not upon the individual strength, of the nations upon whose concert peace will depend.« Nur ein Frieden zwischen Gleichberechtigten wird von Dauer sein. – Es waren weise Worte, die schließlich bei den Friedensverhandlungen von Versailles ungehört verklungen waren.

      Die Herangehensweise der Amerikaner mutet hundert Jahre danach redlich, aber ein wenig naiv an. Die »Field Mission« von Archibald Coolidge versuchte drei Zukunftsszenarien für die Reste der Monarchie abzuwägen und auf ihre Realisierungschancen hin abzuklopfen: Der Anschluss an das Deutsche Reich, die Schaffung einer Donauföderation mit Teilen der zerbrochenen Monarchie und ein politisch und wirtschaftlich unabhängiges Österreich. Schon am 30. Jänner, kaum acht Tage nach seiner Ankunft in Wien, analysiert der Harvard-Professor für die amerikanische Verhandlungsdelegation in Paris. Und er wägt die unterschiedlichen Positionen ab: Ein unabhängiges Österreich wäre immerhin größer als die Schweiz, hätte ähnlich wenige Bodenschätze, könnte aber wie die Schweiz überleben, möglicherweise als neutraler Staat. Außerdem hoffen manche in Wien, dass ein kleines Österreich bei den Friedensverhandlungen bessere Bedingungen erhalten könnte als das Deutsche Reich.

      Coolidge zweifelt aber an dieser Version. Die überwiegende Mehrheit seiner Gesprächspartner glaube nicht an die (Über-) Lebensfähigkeit eines eigenen Staates. Österreichs Wirtschaft sei nicht in der Lage, eine große Stadt wie Wien zu versorgen, Wien wäre dem Verfall preisgegeben.

      Für die Idee einer Donauföderation wiederum könnten sich vor allem die alte Aristokratie, die hohen Beamten und die ehemaligen Offiziere der k. u. k. Armee erwärmen. Diese neue Föderation wäre so etwas wie die Fortsetzung des alten Reichs ohne Habsburger. Für diese Variante setzten sich viele Industrielle ein, die die direkte Konkurrenz mit der besser organisierten deutschen Industrie scheuten. Ein einheitlicher Wirtschaftsraum auf dem Boden der alten Monarchie, ohne Zölle und ohne Behinderungen, wäre von Vorteil. Am 22. Jänner speist Coolidge mit seinem Adjutanten wieder bei Josef Redlich: »Es gibt keine praktische Möglichkeit für eine Donauföderation. Die Tschechen, Magyaren und Südslawen wollen sie nicht.« In Österreich werde nicht verstanden, dass die Tschechoslowaken sich »den Anspruch auf volle Dankbarkeit Amerikas gesichert haben, weil sie allein Westsibirien vor dem Bolschewismus gerettet haben«. Die »Rettung Sibiriens« vor der kommunistischen »Roten Armee« wird freilich ein kurzfristiger Erfolg bleiben.

      Die Verfechter eines Anschlusses an Deutschland wiederum sehen die Idee einer »Donaukonföderation« als völlig unrealistisch. Österreich sei immer Bestandteil Deutschlands gewesen. Die historischen und rassischen Verbindungen seien nur durch die Rivalität zwischen den Habsburgern und den Hohenzollern gestört gewesen. Nach der Abspaltung der slawischen Völker sei es nur natürlich, dass sich die Deutschen Österreichs mit ihren Brüdern vereinten. Im Übrigen würde Österreich mit dem katholischen Süden ein starkes Gegengewicht zum protestantischen Preußen schaffen.

      Auch die Sozialdemokraten würden einen Anschluss stark forcieren, da sie fürchten, in einem ländlich geprägten Österreich nie die Mehrheit erringen zu können, aber gemeinsam mit der mächtigen deutschen Sozialdemokratie würden sie Teil einer dominierenden Ideologie sein. Coolidge sieht noch keinen eindeutigen Willen der Mehrheit. Die öffentliche Meinung sei noch in einem »sehr flüssigen Zustand« und könne durch Ereignisse in die eine oder andere Richtung beeinflusst werden. Der am 12. November proklamierte Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich sei ohne das genaue »Wie« erfolgt. Es sei nicht zu spät, diese Beschlüsse noch zu ändern oder die Zustimmung der Alliierten an unerfüllbare Bedingungen zu knüpfen. Obwohl sich alle drei Parteiführer für einen Anschluss ausgesprochen hätten, könnten die Christlichsozialen ihre Meinung ändern. »Das konservative Element lehnt das moderne Deutschland ab und verachtet den Sozialismus, auch die katholische Kirche hat noch keinen endgültigen Standpunkt bezogen. Der Einfluss der Hierarchie und Roms ist noch immer groß. Wird er in die Waagschale geworfen, kann er entscheidend sein.« Viele Katholiken würden einen Anschluss an das durch das protestantische Preußen dominierte Deutschland nicht schätzen. Das imperiale Wien würde auf den Status einer deutschen Provinzstadt sinken.

      Abseits der theoretischen Überlegungen über die Staatsform sorgt sich der amerikanische Militärberater Captain Frederick Dellschaft, wie man in Österreich das Vordringen des Bolschewismus verhindern könne. Österreich sei der Brückenkopf der westlichen Zivilisation gegenüber dem Osten. Würde Österreich von den »Roten« übernommen, würden andere Staaten wie Italien oder Spanien sofort kommunistisch werden. Frederick Dellschaft formuliert schon am 31. Jänner 1919 so etwas wie eine antikommunistische Dominotheorie. Gegen die Bolschewiken würden drei Maßnahmen helfen: Soldaten, Kohle und Nahrungsmittel (»troops, coal and food«). Dellschaft will 30 000 Mann mit einer »large number of machine-guns« hauptsächlich in den Industrieregionen rund um Wiener Neustadt, Mürzzuschlag, Kapfenberg, Donawitz, Leoben, Graz, Köflach und St. Pölten stationieren. Das aus der Sowjetunion drohende Gespenst einer bolschewistischen Revolution ist in diesen Tagen allgegenwärtig – wobei die Amerikaner freilich den Einfluss der »Roten Garden« und der Kommunisten auf die österreichischen Arbeiter bei weitem überschätzen.

      »NUR MEISTER, GESELLEN UND LEHRLINGE«

      Die Zeitschrift der »Zentralvereinigung der Architekten« erhält einen Brief aus Weimar, den sie an die Leserschaft des Architekten weitergibt. »Die Hochschule für bildende Kunst soll vom neuen Direktor Walter Gropius zu einem ›staatlichen Bauhaus‹ ausgestattet werden.« Der deutsche Architekt hat beste Beziehungen nach Wien. Die vielfältige Künstlermuse Alma Mahler-Werfel hat in Gropius das Genie erkannt und mit dem Deutschen eine gemeinsame Tochter. Nach der Trennung der beiden zieht sich der Architekt wieder nach Thüringen zurück und baut die von Professor van der Velde gegründete Kunstgewerbeschule in der Goethe-Stadt Weimar zu einer Hochschule des Kunsthandwerks um. Die »Besucher« sollen zuerst die Grundlagen eines Handwerks, etwa das eines Steinmetzes, Holzbildhauers, Keramikers oder Stukkateurs erlernen, ehe mit dem zeichnerisch-malerischen und wissenschaftlich-theoretischen Unterricht begonnen wird. Damit ist das Fundament des neuen Bauhaus gelegt. In der kurzen Zeitspanne von nur 15 Jahren bis zur Auflösung der Hochschule durch die Nationalsozialisten wird das Bauhaus zu einer Ikone der Moderne.

       15. Jänner 1919

      »Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht!«

       Mit der Ermordung von Rosa Luxemburg bricht der Spartakusaufstand zusammen

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       Ein hübsches Mädchenbild von Rosa Luxemburg. Die Anführerin der Spartakistenbewegung wird ein schreckliches und gewaltsames Ende finden. Sie wird bewusstlos geschlagen und erschossen, ihre Leiche in den Landwehrkanal geworfen. Soldaten der »Garde-Kavallerie-Schützen-Division« haben den kommunistischen Aufstand mit Härte und Brutalität niedergekämpft und deren Anführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet.

      Am 15. Jänner wird die Kommunistin und Anführerin des »Spartakusbundes«, Rosa Luxemburg, in der Privatwohnung der befreundeten Familie des Arbeiterrates Siegfried Markussohn in Berlin-Wilmersdorf durch die lokale »Bürgerwehr« verhaftet und verschleppt. Nach Wochen des Versteckens und einer fiebrig aufgeregten Flucht durch Berlin werden sie und ihr Mitstreiter Karl Liebknecht ins Eden-Hotel an der historischen Adresse Kurfürstendamm 246, gegenüber dem Elefantentor des Zoos gebracht.

      Das Eden-Hotel ist eine der ersten Adressen der Stadt. In der eleganten Bar treffen einander Schriftsteller wie Heinrich Mann, Erich Maria Remarque und Schauspieler wie Gustaf Gründgens oder Marlene Dietrich. Die


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