Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934. Bettina Hoerlin
dass Sie nicht [bei der Nanga-Parbat-Expedition] dabei sein sollen und ich hoffe nur, dass Ihre Teilnahme noch möglich werden wird. … Es wäre meine größte Freude, wenn Sie im März mit uns starten würden.“138 Doch all solches Flehen konnte Pallas nicht überzeugen. Wie sich am Ende herausstellen sollte, rettete ihm der Verzicht wahrscheinlich das Leben und veränderte es definitiv. Denn durch den Nanga Parbat lernte er meine Mutter kennen. Aber dies geschah erst Monate später.
Am 25. März 1934 verließ der Zug mit der Vorgruppe der Expedition – Merkl, Wieland, Schneider und dessen Landsmann Aschenbrenner – unter dem Jubel von Freunden und Verwandten den Bahnhof von München in Richtung Genua, wo sie den Dampfer „Victoria“ bestiegen. Sechzehn Tage später folgte die Hauptgruppe und ging am 13. April in Venedig an Bord der „Conte Verde“. Zu ihrer Überraschung teilten sie sich das Schiff mit Dyhrenfurths Internationaler Karakorum-Expedition. Zeitungsberichte spielten Animositäten zwischen den beiden Expeditionen hoch, diese Berichte decken sich jedoch nicht mit den tatsächlichen Schilderungen der Überfahrt.139 Die Bergsteiger vertrieben sich die Zeit mit freundlichen Rivalitäten bei einem Wurfringspiel an Deck. „Quoits“, bei dem Seilringe über einen Holzpflock geworfen wurden, war die Inspiration für das amerikanische Hufeisenwurfspiel. Offensichtlich hofften beide Expeditionen, bald einen noch größeren Seilring über einen noch größeren Pflock – einen Achttausendergipfel – werfen zu können.
Obwohl beide Expeditionen von einem Münchner Sporthaus mit der neuesten Bergausrüstung ausstaffiert worden waren, endeten damit die Gemeinsamkeiten. Das Mitteilungsblatt des Alpenvereins schrieb in seiner Juniausgabe, die Karakorum-Expedition stünde unter der „Leitung“ von Dyhrenfurth und die Nanga-Parbat-Expedition unter der „Führung“ von Merkl.140 Obwohl sich beide Worte in ihrer Bedeutung ähneln, deutet Letzteres „befehlen“ an und spiegelt einen subtilen Unterschied zwischen beiden Männern wider. Hettie und Günter Dyhrenfurts bewusster Betonung der Internationalität ihres Unternehmens und ihrer negativen Haltung gegenüber dem Dritten Reich, verstärkt durch ihren jüdischen Hintergrund, standen Merkls Verpflichtung zu einem rein deutschen Versuch und sein unbedingter Wille gegenüber, die Führung des Dritten Reichs zufriedenzustellen. Solche Angelegenheiten sind jedoch selten eindeutig. Einerseits hatte das angeblich „rein deutsche“ Nanga-Parbat-Team zwei österreichische Teilnehmer, Schneider und Aschenbrenner – und Schneider war offen gegen Hitler. Ebenfalls zu den Teilnehmern zählte ein junger Geologe, Peter Misch, der jüdischer Herkunft war und nach dem Arier-Paragrafen des Berufsbeamtengesetzes von der Nanga-Parbat-Expedition hätte ausgeschlossen werden müssen.141 Auf der anderen Seite zählte zu Dyhrenfurths Mannschaft der Eigenwerbung betreibende Bergsteiger und Filmemacher Hans Ertl, der später als „Hitlers Fotograf“ eine Schlüsselfigur in der Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten wurde.142 So war die Zusammensetzung beider Expeditionsmannschaften ein ethnischer wie politischer Mischmasch.
Wenn sich auch beide, sowohl Dyhrenfurth als auch Merkl, auf eine Großexpedition mit Hunderten von Trägern festgelegt hatten, waren ihre Ziele doch verschieden. Merkl war zielstrebig: Sein vorrangiges Ziel war die Bezwingung des Nanga Parbat; geologische Forschungen und eine Filmdokumentation waren zweitrangig. Dyhrenfurth trat für einen weiter gefassten Plan ein: die Erforschung und Besteigung unbestiegener Gipfel im Karakorum und die Produktion des ersten Spielfilms im Himalaya. Das Drehbuch von „Der Dämon des Himalaya“ beinhaltete melodramatische Helden und gefährliche mythische Kräfte, die sich inmitten der majestätischen Gipfel bekämpften.143 Schneider spottete darüber in einem Brief an meinen Vater: „Sie [Dyhrenfurths Expedition] wollen in Gegend K2 einen ‚leichten‘ Achttausender behüpfen und einen Film drehen, dessen Manuskript ich einmal sah. Ich sage Dir, dabei wurde mir schon ganz schwach.“144 Es ist verständlich, dass Schneider weiche Knie bekam. Später wurde der Film als „Hoch-Kitsch“ verrissen, der die Würde des Bergsteigens erniedrige.
Die beiden Expeditionen unterschieden sich auch in der finanziellen Unterstützung, was ihre Ziele beeinflusste. Der größte Teil von Merkls Budget kam von der Deutschen Reichsbahn, während Dyhrenfurth von India-Ton finanziert wurde, einer kleinen Berliner Filmfirma, welche den Spielfilm produzieren wollte.145 Die Verwicklung der Filmemacher und Schauspieler mit der Expedition führte später zu Spannungen. Aber auch die Investition der Reichsbahn in die Nanga-Parbat-Expedition verkomplizierte Dinge. Die Eisenbahngesellschaft war sich sicher, dass ihr die Unterstützung der publicityträchtigen Unternehmung im Himalaya zur Ehre gereichen würde. In einem Dankschreiben gelobte ihr Merkl: „So etwas ist nur in Deutschland möglich. Für Deutschland werden wir kämpfen und werden alles daran setzen, den ersten Achttausender für Deutschland zu erobern. Heil Hitler!“146 Dies war gespielte Tapferkeit, denn Merkl hatte zuvor an Hoerlin mit größerer Bescheidenheit geschrieben: „Wir alle bedauern sehr, dass Sie nicht bei uns waren. Hoffentlich wird es [das Unternehmen] aber doch was.“147 Seine kurze Nachricht war auf einer Postkarte mit dem „Himalaya-Pfennig“ geschrieben, die ein Foto des Nanga Parbat zierte. Sie war Teil einer landesweiten Kampagne, Reklame für die Expedition zu machen und weitere Finanzen aufzutreiben. Mit solch sichtbarem Sponsoring war der Erfolgsdruck enorm.
In Deutschland war die Besteigung des Nanga Parbat zu einer fixen Idee geworden. So wie die Briten den Everest für sich beanspruchten, sahen die Deutschen den Nanga Parbat als „ihren“ Berg an. 1854 war er von den drei deutschen Brüdern Schlagintweit vermessen worden, und ein erfolgloser Besteigungsversuch unter der Leitung von Merkl 1932 hatte das Interesse der deutschen Öffentlichkeit geweckt. Die Nationalsozialisten sahen im möglichen Erfolg der Nanga-Parbat-Expedition eine Gelegenheit zur weithin sichtbaren Demonstration teutonischer Überlegenheit und Wiedererstarkung nach dem Ersten Weltkrieg. In den Worten des Reichssportministers: „Die Eroberung des Gipfels wird zum Ruhme Deutschlands erwartet.“148 Andere sahen die Expedition in einem anderen Licht. Mitglieder des Alpenvereins bestanden auf der Wichtigkeit ihrer wissenschaftlichen Forschungen neben den bergsteigerischen Zielen.149 Wiederum andere betonten die „spirituellen Werte“ des Bergsteigens, seine ursprüngliche Verbindung mit der Natur und seine im Grunde apolitische Haltung.150 Diese variierenden Konstrukte – politisch, wissenschaftlich und spirituell – mit ihren innewohnenden Konflikten sollten sich auf tragische Weise auf der steilen und eisigen Bühne des neunthöchsten Berges der Welt erschöpfen.
Die Expedition von 1934, eine zeitgenössische Version der Suche nach dem Heiligen Gral, zog die Aufmerksamkeit der Massen in Deutschland auf sich. Die Medienberichte hatten das öffentliche Interesse entfacht und machten das Unternehmen „… zum weitaus meistpublizierten bergsteigerischen Ereignis in der deutschen Geschichte“.151 Der Alpenverein beabsichtigte umfassende Berichte in seinem monatlichen Rundbrief und bat Hoerlin, der Koordinator aller Mitteilungen an die deutsche und auch an die weltweite Presse zu sein.152 Der designierte Pressesekretär der Expedition war Dr. Willi Schmid, ein eminenter Musikkritiker der Münchner Neuesten Nachrichten, einer der auflagenstärksten Zeitungen in Deutschland.
Käthe (l.) und Willi Schmid (r.), das Presseteam vom Nanga Parbat, bei einem Abschiedsfest für die Expedition in ihrem Haus (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Alpenvereins)
©Deutscher Alpenverein, München
Obwohl er in gewisser Hinsicht eine ungewöhnliche Wahl war, hatte Schmid bereits bedeutende Arbeit als freier Journalist geleistet und würde von seiner Frau Käthe gekonnt unterstützt werden. Um sich um die zahlreichen Einzelheiten der Expedition kümmern zu können, hatte man in der geräumigen Wohnung der Schmids ein Büro eingerichtet, das zu einem zentralen Versammlungsraum für Besprechungen wurde. Das Paar stand Merkl nahe, den Willi durch gemeinsame Freunde kennengelernt hatte. Käthes Verhältnis zu Merkl war wie das einer etwas älteren (ein Jahr) Schwester: etwas rechthaberisch, warmherzig und kritisch. In ihren Briefen zu Expeditionsangelegenheiten an Merkl wechselt sie zwischen Tadel („Dass sie passierte, ist Deine Schuld“153), Fürsorge („Schau, dass Du zu genügendem Schlaf kommst“154) und Ratschlag („Ach Bub, das ist’s ja gerade, dass man als guter Führer vor allem u. bei allen ein guter Psychologe sein muss“155). Die Sammlung an Briefen umfasst