Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934. Bettina Hoerlin
Hoerlin, ausgedörrt, wettergegerbt und glücklich nach seiner einsamen Arbeitsschicht auf 4700 bis 6100 m am Nevado Huascarán.
Auf der Versammlung der American Association for the Advancement of Science zu Weihnachten 1932 nahmen Millikan und Compton an einem Symposium über kosmische Strahlung teil. Mein Vater befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Frachtschiff nach Deutschland. Die beiden Wissenschaftler gingen kaum zivilisiert miteinander um und weigerten sich am Ende der Sitzung sogar, sich die Hand zu geben. Die Presse stürzte sich auf ihre beißende Debatte, welche schnell mit dem Bild von Wissenschaftlern als „[…] nüchtern, sachlich, vorsichtig, genau – und damit wert, gehört zu werden“ aufräumte. „Hier nun waren zwei Nobelpreisträger, die alle Leidenschaft und Fehlbarkeit gewöhnlicher Menschen zeigten.“88
Im Februar 1933 setzten sich schließlich Comptons Erkenntnisse durch: Die Abhängigkeit kosmischer Strahlung von der geografischen Breite war unbestreitbar und kosmische Strahlen somit definitiv Protonen. Mit den Worten eines angesehenen Wissenschaftshistorikers: „[Millikan] sprach fortan nicht mehr von Geburtsschreien der Atome und überließ es dem Klerus zu entscheiden, ob der Schöpfer noch immer am Werk sei.“
Erst im März beendete mein Vater seine Reise und kehrte nach Deutschland zurück. Seine Forschungsergebnisse, die mit jenen Comptons übereinstimmten, wurden erst im Juli 1933 in der renommierten Zeitschrift Nature veröffentlicht. Compton hatte seine Ergebnisse bereits in der Märzausgabe der Physical Review publiziert. Angesichts des großen Bekanntheitsgrads von Compton sowie der Größe und Ausdehnung seiner Forschungen – etwa sechzig Mitarbeiter und acht Expeditionen rund um die Welt – ist es nicht überraschend, dass ihm hauptsächlich die Feststellung des geomagnetischen Effekts auf kosmische Strahlung zugeschrieben wird. Aber wie in vielen anderen Bereichen der Wissenschaft war auch diese Entdeckung mehreren Forschern geschuldet. Einer davon war mein Vater.
KAPITEL 4: WO BÜCHER VERBRANNT WERDEN
Als Hoerlin am 3. März in Bremen von Bord des Frachters ging, waren alle seine Instrumente zur Messung der kosmischen Strahlung intakt und voll funktionstüchtig. Einige von ihnen wären beinahe in den Anden verloren gegangen, als Träger sie in über 6000 m Höhe in einem plötzlichen Sturm am Hualcan zurückließen. Am nächsten Morgen hatte mein Vater als der gewissenhafte Forscher, der er war, die Geräte gerettet, indem er die Teile aus dem Schnee ausgrub und vorsichtig in seine Messstation trug. Auf wundersame Weise überstand die Ausrüstung Schocks aller Art: frostige Temperaturen, enorme Höhen, Ritte auf Packeseln, Feuchtigkeit, Seereisen und … sogar das Zurückgelassenwerden im Schnee. Aber nun war alles sicher zurück in der Heimat. Als ihn sein Professor aus Stuttgart, Erich Regener, mit einem Lächeln und voller Anerkennung am Hafen empfing, trug Hoerlin zwei Pakete die Landungsbrücke hinab – Souvenirs aus Peru. Eines davon gab er Regener, einen edlen Poncho aus Alpacawolle, handgewebt von einem Dorfbewohner aus Huaraz. Das größere Paket, das Hoerlin bei sich behielt, enthielt eine seidige, weiche Decke aus Vikunjawolle, dem feinsten und teuersten Naturpelz. Vikunjas, kleine und grazile Tiere, haben einen mythischen Status in der peruanischen Seele. Mein Vater, der normalerweise nicht abergläubisch war, spürte, dass die Decke irgendwann ein gutes Zuhause finden würde.
Obwohl der Cordillera-Blanca-Expedition von 1932 zahlreiche Erstbesteigungen geglückt waren, wurde sie in Deutschland nicht mit demselben Pomp empfangen wie die Himalaya-Expedition 1930, als Hoerlin seinen Gipfelrekord aufgestellt hatte. Es stimmte zwar, dass die Unternehmung von 1932 „…das moderne Bergsteigen in den Anden eingeführt und […] Peru in der Bergsteigerwelt bekannt gemacht hatte“89, aber die Anden hatten nicht dasselbe Flair wie die Achttausender des Himalaya – ein dramatischerer Rahmen für deutsche Heldentaten. Und es waren Heldentaten, die Deutschland mit dem wiederaufkommenden Nationalismus und dem Anspruch als Herrenrasse suchte und würdigte.
Nach einem Jahr im Ausland war die Rückkehr nach Deutschland für meinen Vater ein gewaltiger Schock. Wenige Tage zuvor, in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar, war in Berlin der Deutsche Reichstag abgebrannt.90 Hitler nutzte die Gelegenheit und stellte den Brand als unwiderlegbaren Beweis dar, dass die Kommunisten einen Regierungsumsturz planten. Am nächsten Tag unterzeichnete er die Notverordnung „Zum Schutz von Volk und Staat“, mit der quasi die Grundrechte der Weimarer Republik außer Kraft gesetzt wurden. Das Recht auf freie Meinungsäußerung (inklusive der Pressefreiheit), das Versammlungsrecht, das Recht auf Unversehrtheit der Wohnung und des Eigentums wurden eingeschränkt oder aufgehoben. Mein Vater war gerade aus einem Land – Peru – zurückgekommen, in dem eine Revolution im Gange war, die aus der Notwendigkeit sozialer Reformen und demokratischer Ideale geboren wurde. Nun kehrte er in ein anderes Land – sein eigenes – zurück, in dem eine neue politische Partei eifrig dabei war, genau diese Ideale aufzugeben.
Hoerlin war sieben Monate unterwegs gewesen, als er an der Himalaya-Expedition 1930 teilgenommen hatte, und ein volles Jahr während der Cordillera-Blanca-Expedition 1932. Nach jeder Rückkehr musste er feststellen, dass sich die Lage in Deutschland erheblich verschlechtert hatte. Eine weltweite Wirtschaftskrise hatte das Land besonders hart getroffen; eine hohe Arbeitslosigkeit sorgte für Not und Aufruhr. Bittere Kämpfe zwischen den großen politischen Parteien hatten das Parlament ineffektiv werden lassen, und die anhaltende Instabilität der Regierung erzeugte ein Klima der Unsicherheit. Kommunisten, gemäßigte Sozialdemokraten und überzeugte Nationalsozialisten wetteiferten in einer Reihe von Wahlen um die Macht. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt – der Beginn einer der fürchterlichsten Schreckensherrschaften aller Zeiten. Mein Vater hatte es kommen sehen. Er sagte einmal zu mir: „Für längere Zeit weg zu sein, gab mir den Vorteil neuer Blickwinkel. Ich sah den Vertrauensverlust und Hitlers Beharrlichkeit in seinen Planungen, die Lücke zu füllen.“
Die neue Regierung der Nationalsozialisten infiltrierte mit blitzartiger Geschwindigkeit alle Aspekte des Lebens in Deutschland: den intellektuellen und kulturellen Unterbau des Landes, die wissenschaftlichen Gemeinschaften und sogar den Sport. Am 24. März verabschiedete der Reichstag das Ermächtigungsgesetz, das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, welches die rechtliche Basis für Hitlers Diktatur bildete und ihm ungehinderte Macht gab.91 Kommunisten, Radikale, Juden, Zigeuner und Behinderte wurden systematisch an den Rand gedrängt und bedroht. Der Antisemitismus, der in großen Teilen Europas in unterschiedlicher Intensität seit langer Zeit existiert hatte, wurde nun in Deutschland durch Hitlers Politik bewusst angefeuert. Gleichzeitig dienten neue Gesetze dem Zweck, das Land von jüdischem Einfluss und letztlich von den Juden selbst zu befreien. 1933 lebten in Deutschland insgesamt etwa 525.000 Juden, weniger als 1 % der Gesamtbevölkerung – aber sie wurden zum Sündenbock für das gesamte Land. Einem bekannten Historiker der damaligen Zeit zufolge überwog „… ein Gefühl der Dringlichkeit, aber nicht der Panik“92, obgleich die Warnsignale leuchteten. 37.000 Juden flohen 1933 aus Deutschland, der größte Exodus bis 1937.
Während andere die Augen vor den unheilvollen Zeichen einer totalitären Machtübernahme verschlossen, wurde mein Vater Zeuge der zunehmenden Übergriffe und Ungerechtigkeiten. In den Monaten nach der Wahl wurde „Heil Hitler“ zum Standardgruß und Tumulte nahmen überhand. Antisemitische Pamphlete und rassistische Graffiti waren überall in deutschen Städten zu sehen. Juden wurden verspottet, beschimpft und körperlich misshandelt, wenn sie die Straßen entlanggingen. Hoerlin war zutiefst und unwiderruflich getroffen von „einer völlig grotesken und fröstelnden Welt, die unter dem Schleier einer noch mehr fröstelnden Normalität verborgen war“.93 Das Leben veränderte sich nicht nur für diejenigen, die sich in der Schusslinie befanden, sondern auch für reinrassige Arier. Im ersten Regierungsjahr Hitlers gab es sofortige Auswirkungen auf Hoerlins Arbeitsumfeld, seine Heimatstadt und sein geliebtes Bergsteigen. Das Leben unter den Nationalsozialisten wurde nach 1933 zunehmend schrecklicher, aber die Wurzeln des Horrors waren auch schon früh durchaus sichtbar.
Eine Naziflagge über dem Technischen Institut in Stuttgart war das nicht gerade subtile Signal, mit dem der zurückkehrende Bergsteiger/Wissenschaftler am Institut