Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934. Bettina Hoerlin

Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934 - Bettina Hoerlin


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Ebenfalls eingezeichnet sind Klöster, Tempel, Festungen, Hängebrücken, Teegärten, Hütten, Weideflächen und Gletscher. Aus der Karte sprechen Geschichte und Geografie.

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      Hohepriester spielen im Kloster Pemayangtse auf ihren langen Hörnern.

      Während der nächsten drei Wochen passierte die Expedition winzige Dörfer mit einheimischer Bevölkerung. Es ist schwer vorstellbar, wer hier seltsamer wirkte: die europäischen Eindringlinge mit ihren scheinbar unerklärlichen Zielen – oder die lokalen Lamas (Hohepriester), Mönche, Hirten und Dorfbewohner mit ihren scheinbar unerklärlichen Leben. In einem Kloster wurde der Expedition ein Teufelstanz dargeboten. Dabei waren sie sich allerdings unsicher darüber, ob das wilde Getanze in grotesken Tiermasken und kunstvoll geschmückten Kostümen nun die bösen Geister des Kangchendzönga vertreiben sollte – oder die Europäer. Später spielte ein Orchester der Mönche auf dreieinhalb bis viereinhalb Meter langen Hörnern, die stark den Alphörnern der Almhirten in Europa ähnelten. Umgekehrt spielte die Expedition deutsche Kabarett-Lieder und Musik auf einem Grammophon, wobei sich das einheimische Publikum köstlich über das rätselhafte Beispiel westlicher Erfindungsgabe amüsierte.

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      Die Töne von Kabarett-Musik aus dem Grammophon der Expedition unterhalten nepalesische Dorfbewohner.

      Als die IHE schließlich das Basislager 3000 Meter unterhalb des Gipfels erreichte, sahen die Bergsteiger die einzigartige Herausforderung des Himalayas. Mit den Worten von Smythe war „der Vergleich zwischen den Alpen und dem Kangchendzönga, wie wenn man einen Pygmäen mit einem Riesen vergleicht“. Der Koloss schien sich vorzüglich hinter unglaublich steilen Eiswänden und unablässigen Lawinen zu verschanzen, die Tag und Nacht hinabdonnerten. Einmal zählte der Arzt der Expedition zwischen 8 Uhr morgens und 10 Uhr abends 64 Lawinen, also eine alle dreizehn Minuten.34 Um der gewählten Aufstiegsroute zu folgen, mussten die Bergsteiger eine 300 Meter hohe, teils senkrechte bis überhängende Eiswand überwinden.

      Es ist nie eine leichte Arbeit, Stufen im Eis zu schlagen, die groß genug für beladene Träger sind; in einer Höhe von 6400 Metern ist es besonders zermürbend. Nachdem sie sich sieben Tage lang mit der Arbeit abgewechselt hatten, hatten die Bergsteiger es beinahe geschafft. Dann geschah die Katastrophe. Ein gewaltiges Eisstück löste sich aus der Wand, stürzte hinab und löste eine Lawine aus. Diese verfehlte etliche Bergsteiger nur knapp – und es war geradezu ein Wunder, dass nur ein Todesopfer zu beklagen war: Chettan, ein angesehener Träger, der Schneiders persönlicher Sherpa35 gewesen war. Beide hatten nur wenige Meter voneinander entfernt gestanden und es schien anfangs, als wäre auch Schneider ums Leben gekommen. Er hatte aber Glück gehabt.

      Nach der düsteren Begräbniszeremonie versammelte Dyhrenfurth die tief erschütterte Mannschaft, um die zukünftige Strategie zu diskutieren. Auch die Nerven der Träger waren zerrüttet. Diese fürchteten, dass die Götter an ihnen, den Abtrünnigen, Rache übten. Einige der Bergsteiger hielten einen Aufstieg zum Kantsch von ihrer gegenwärtigen Position aus für aussichtslos; insbesondere der jähzornige Smythe erhob seine Stimme. Dyhrenfurth jedoch, dessen selbstherrliche Seite zum Vorschein kam, ließ sich nicht beirren. Er, der routinemäßig die schlafenden Bergsteiger mit einem Hornsignal zum Aufbruch rief, war der Meinung, es sei Zeit für einen Angriff, nicht für einen Rückzug. Am nächsten Morgen versuchten Hoerlin, Wieland und Smythe einen anderen Grat – den Nordwestsporn. Der Zustieg führte durch ein steiles Schneecouloir, eingezwängt zwischen einem Wirrwarr von Felsund Eistürmen. Mein Vater führte das letzte Stück der Kletterei. Als er den Ausstieg aus dem Couloir erreichte, begrüßte ihn eine bedrückende Szenerie aus zerborstenen, lockeren Felsen, die ins Nirgendwo führten. Er querte ein kurzes Stück hinaus auf einen zerbröckelnden Vorsprung, drehte sich zu Smythe um und erklärte in perfektem Englisch: „This rock is shit.“ Während seines ganzen Lebens benutzte mein Vater fast nie derartige Flüche, aber diese Situation schien danach zu schreien. Die Route war unbegehbar. Als am Abend ein Schneesturm mit Wucht über das Lager der IHE hereinbrach, wurden alle weiteren Gedanken an eine Besteigung des Kangchendzönga fallen gelassen. Stattdessen bestiegen in den folgenden Tagen einige Mitglieder der Expedition zwei Siebentausender (nach damaligen Messungen)36 – die höchsten Gipfel, auf denen sie bis dahin gestanden hatten.

      Um das Gebiet weiter zu erforschen, verlagerte die Expedition anschließend ihr Basislager. Sie umrundete den Kangchendzönga auf einem gefährlichen Gletscher und über den hohen Jongsong La (Pass). Erneut teilten sich Träger und Bergsteiger in kleine Gruppen auf und unternahmen staffelartige Vorstöße. Memsahb verließ als Letzte das Basislager. Anfangs führte sie 20 Träger an, die dann aber mit ihren Lasten vorangingen, während sie wegen Magenkrämpfen nur langsamer vorwärtskam. Nur in Begleitung eines 17-jährigen Trägers kämpfte sich die 38 Jahre alte „Hausfrau“ durch einen heftigen Schneesturm über den 6120 m hohen Pass.37 Vier Jahre später bestieg sie als erste Frau einen Siebentausender, den Sia Kangri (7424 m) im Karakorum. Dieser Rekord sollte 20 Jahre Bestand haben.38

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      Die beeindruckende Nordansicht des Kangchendzönga-Massivs vom Ostgipfel des Jongsong Peak, © Pradeep Ch.Sahoo/The Himalayan Club.

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       Die abweisende Gletscherlandschaft des dritthöchsten Berges der Welt, Kangchendzönga

      Memsahb sah nicht gerade wie eine Bergheldin aus: Sie war zierlich und adrett und schien eher für die Salons der Intellektuellen ihrer Heimatstadt Breslau als für die Härten einer Expedition gebaut zu sein. Als die Expedition vorüber war, sprach sie über ihre Freude, zu heißen Bädern und weichen Betten zurückzukehren. „Pudern konnte ich mich allerdings nicht, denn ich war einfach schwarz geworden – so dunklen Puder gibt es sicher gar nicht.“39 Hettie stammte aus einer bekannten Familie jüdischer Industrieller und war Meisterin im Damentennis. Sie scheute sich nicht, soziale Konventionen hinter sich zu lassen und die körperlichen Anforderungen und die Unbequemlichkeit einer Himalaya-Expedition auf sich zu nehmen. Dass sie drei junge Kinder zuhause zurückließ, um ihren Mann bei der Erfüllung seines Lebenstraums, dem Bergsteigen im Himalaya, zu begleiten, wurde von vielen argwöhnisch betrachtet. Aber es war erst nach der Expedition, als Memsahb erfuhr, wie negativ die Engländer ihre Teilnahme gesehen hatten. Smythe hatte mehrfach gewarnt, dass Frau Dyhrenfurth nur für Probleme sorgen würde. Als einzige Frau sei sie den Anforderungen des Expeditionslebens nicht gewachsen. Nach und nach belehrte sie ihn eines Besseren. Andere Expeditionsmitglieder hingegen respektierten sie sehr und profitierten von ihren großen organisatorischen Fähigkeiten, die sie selbst ihren alltäglich zu meisternden Aufgaben als Mutter und Hausfrau zuschrieb.40 Pallas zählte zu ihren stärksten Unterstützern; er fand sie warmherzig und fröhlich.

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       Hettie Dyhrenfurth

      Von ihrem zweiten Basislager aus hatte die Expedition Zugang zu mehreren unbestiegenen Bergen, der höchste davon der Jongsong Peak (7483 m). Sein Gipfel war das Dreiländereck von Tibet, Nepal und Sikkim und wartete mit seinen eigenen Herausforderungen auf: starke Winde, Hängegletscher, Eiswände und weicher Schnee, in dem Bergsteiger wie Träger bis zum Bauch versanken. Der bevorstehende Monsun, missmutige Träger und zur Neige gehende Lebensmittel drängten zu einem schnellen Aufstieg. Während sie aufgrund tobender Stürme einige Nächte lang festsaß, hatte die führende Seilschaft Schneider, Hoerlin, Smythe und Wood-Johnson keinerlei Brennstoff mehr – nicht einmal, um Tee zu kochen. Sie ernährten sich von Schokolade und Plum-Pudding. Am 3. Juni riss der Himmel auf und die vier begannen den Gipfelaufstieg von Lager 3. Am Ende hatten nur Pallas und Erwin die Kraft, den höchsten Punkt zu erreichen. Es war der damals höchste bestiegene Berg der Welt.41

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