Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934. Bettina Hoerlin
sind ein gigantisches Bergmassiv aus fünf Gipfeln, gleißenden Gletscherfeldern und kolossalen Eisterrassen. Der Berg, der nur 262 Meter niedriger ist als der Mount Everest, demütigte geradezu die Gruppe, welche dem Gedanken an einen Aufstieg in diese Höhen eine fast mystische Ehrfurcht beimaß. Bis 1930 hatte es weniger als zehn ernsthafte Versuche gegeben, einen der drei höchsten Berge der Welt zu besteigen, die sich allesamt im Himalaya und Karakorum befinden: Everest (8848 m), K2 oder Chogori (8611 m) und Kangchendzönga (8586 m).24 Eine Gipfelbesteigung war Bergsteigern bislang versagt geblieben, auch wenn sie Höhen von über 8000 m erreicht hatten. 1924 wurden die britischen Bergsteiger George Mallory und Andrew Irvine weniger als 300 Meter unterhalb des Everest-Gipfels letztmalig gesehen. Fünfundsiebzig Jahre später wurde Mallorys gefrorene und bemerkenswert gut erhaltene Leiche in 8160 m Höhe gefunden25 – allerdings ohne einen Beweis, ob ihm die Erstbesteigung des welthöchsten Berges gelungen war.
Die Internationale Himalaya-Expedition von 1930: (hinten, v. l. n. r.) Hermann Hoerlin, Erwin Schneider, Uli Wieland, Günter Oskar Dyhrenfurth, Marcel Kurz, George Wood-Johnson; (vorne, v. l. n .r.) Helmut Richter, Hettie Dyhrenfurth, Charles Duvanel, Frank Smythe
Keiner der Teilnehmer der Internationalen Himalaya-Expedition (IHE) war zuvor im Himalaya gewesen. Obwohl sie allesamt hochklassige Alpinisten waren, beschränkte sich ihre Erfahrung auf die Alpen. Smythe warnte: „Es gibt nur einen Weg, das Bergsteigen im Himalaya zu lernen – und das ist, im Himalaya bergzusteigen. Auch wenn eine Liste brillanter Besteigungen in den Alpen ein nützlicher Vorteil ist, ist sie kein Sesam-öffne-Dich für einen ähnlichen Erfolg im Himalaya, zu unterschiedlich sind die äußeren Bedingungen.“26 Was Bergsteiger in den Alpen in einigen wenigen Tagen leisten konnten, bedurfte im Himalaya wochenlanger, wenn nicht monatelanger Unterstützung und Versorgung, wodurch es die Bezeichnung „Extrembergsteigen“ verdiente. Neben der andauernden körperlichen Anstrengung in unvorstellbar großen Höhen mussten die Bergsteiger sintflutartige Monsunregenfälle und enorme Lawinen aushalten. Hoerlin teilte die Geisteshaltung seiner Kollegen: Die Aussicht auf Erfolg war es wert, übermenschliche Härten zu ertragen. Was sie antrieb, war eine mysteriöse Mischung aus roher Körperlichkeit, heldenhafter Entschlossenheit, der Nervenkitzel des Forschens und Entdeckens sowie eine Wiederentdeckung ihrer Spiritualität.
Die IHE zeichnete sich durch ihre multinationalen Mitglieder aus, obwohl man sie heute nur noch bedingt als „international“ bezeichnen würde. Dyhrenfurth versuchte auf symbolische Weise den Nationalismus beiseitezuschieben und stattdessen für Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen den Ländern zu werben. Die Botschaft gefiel meinem Vater und anderen, die der Einladung gefolgt waren, darunter seinen guten Freunden Erwin Schneider und Uli Wieland. Mit Ausnahme von Pallas und Schneider war keiner der anderen Expeditionsmitglieder zuvor miteinander geklettert. Trotzdem zeigte das Team nach den Berichten von Smythe, Dyhrenfurth und meinem Vater einen außergewöhnlich guten Zusammenhalt, auch wenn sich Smythe später kritisch über die Expeditionsleitung äußern sollte.
Um die IHE zu finanzieren, hatte Dyhrenfurth um Unterstützung jeder Art gekämpft und eine seltsame Bandbreite von Sponsoren an Land gezogen: die London Times, den Berliner Scherl-Verlag, die Deutsche Himalaya-Stiftung, den britischen Alpine Club und insgesamt 81 deutsche, Schweizer und britisch-indische Firmen. Letztere steuerten ein Potpourri von Lebensmitteln bei, das von Alkohol bis zu Reiscrackern reichte. Umfangreiche Filmausrüstung für den Dokumentarfilm wurde ebenfalls gestellt; allein für ihren Transport wurden 40 Träger benötigt. Vier Firmen spendeten Schokolade und drei Tabak; die Imperial Tobacco Company steuerte 100.000 Zigaretten als „Belohnung“ für die Bergsteiger und vor allem für die Träger bei.27 Fast könnte man die heutige globale Tabak-Epidemie, die gerade in Entwicklungsländern eine wesentliche Todesursache ist, auf scheinbar unschuldige Gesten wie diese zurückverfolgen.28
Um dem Monsun zuvorzukommen, dem der Kangchendzönga seinen Ruf als Berg mit dem höchsten jährlichen Schneefall in Asien verdankt, durfte keine Zeit mit der Auswahl einer Legion von 400 Trägern verschwendet werden. Vielen von ihnen widerstrebte es, das für sie heilige Land um den Kangchendzönga zu betreten. Sie zögerten, weil sie fürchteten, den Sitz der Götter zu stören und die Berggötter zu verärgern. Diesen Glauben hatte die Expedition nicht in ihre Planungen einbezogen. In dieser und anderer Hinsicht war die Anwesenheit von Hettie ein definitiver Vorteil. Wenn eine westliche Frau sich dem Zorn der Götter zu stellen wagte, konnten die Träger dies auch. „Memsahb“, wie sie genannt wurde (eine Abkürzung für „Memsahib“, die respektvolle koloniale Bezeichnung für eine verheiratete Europäerin), hatte die Träger beeindruckt, als sie sich freiwillig gegen Pocken impfen ließ. Mit einer Geste, die Katharina der Großen würdig gewesen wäre,29 ertrug sie als Vorbild für die Männer den kurzen Stich der Spritze, die Schutz vor der in dieser Region häufigen und oft tödlichen Krankheit bot. Die Rekruten folgten ihrem Beispiel mit der richtigen Einschätzung, dass es im Vergleich zum Tragen von 30 bis 40 Kilo schweren Lasten in unwegsamem Gelände ein schnell vergehendes Übel war.
Das Kangchendzönga-Massiv liegt auf der Grenze dreier Regionen, was sich in der unterschiedlichen Herkunft der Träger widerspiegelte: Sikkim im Süden und Osten, Nepal im Westen und Tibet im Norden.30 Die Beschaffung der notwendigen Genehmigungen, den Berg von einer dieser Seiten angehen zu dürfen, war eine äußerst politische und umständliche Angelegenheit. Wenige Tage bevor die IHE plante, den Weg durch Sikkim einzuschlagen, erreichte sie ein überraschender Brief. Er war am 29. März 1930 vom Privatsekretär des Maharadschas von Nepal abgeschickt worden und erteilte die niemals zuvor gegebene Erlaubnis, durch das Königreich anzureisen. Der Brief fuhr fort: „Seine Majestät schätzt Ihre Anmerkungen zum internationalen Charakter der Expedition, welche die Festigung der internationalen Freundschaft und Verständigung zwischen den betreffenden Ländern sowie die Erweiterung der ästhetischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Ziel hat. Er ersucht mich hiermit, Sie darüber zu informieren, dass er Ihrem Ansuchen mit Freude einwilligt. Seine Majestät hofft, dass die Expedition in jeder Hinsicht ein voller Erfolg werde …“31 Der Brief versprach zudem, dass alle relevanten lokalen Behörden über die IHE in Kenntnis gesetzt und gebeten würden, mit der Expedition zu kooperieren. Die Expeditionsmitglieder konnten ihr Glück kaum fassen. So konnten sie Regionen erforschen, die nur ein einziges Mal, 1899, von westlichen Reisenden besucht worden waren. Schnell wurden die Pläne umgestellt und am 7. April brach die IHE auf, begleitet vom Jubel einer Gruppe Einheimischer.
Neben der Besteigung des „Kantsch“, wie der Berg unter den deutschen Bergsteigern hieß, wollten die Expeditionsteilnehmer wissenschaftliche Forschungen auf dem Gebiet der Geologie, Topografie, Meteorologie und Medizin durchführen. Ponys trugen die dafür notwendige Ausrüstung. Zusammen mit der Bergausrüstung und den Lebensmitteln kamen 180 ansehnliche Kisten mit einem Gesamtgewicht von rund sechseinhalb Tonnen zusammen. Einige Ausrüstungsgegenstände erscheinen angesichts des heutigen technischen Fortschritts geradezu lachhaft. Bergschuhe mit 60 Nägeln in der Sohle wogen sechseinhalb Pfund (2,95 kg) pro Paar, Steigeisen vier Pfund (1,8 kg). So trug ein Bergsteiger allein an den Füßen eine Last von zehneinhalb Pfund (4,77 kg)! Die dicken Expeditionspullover (mit Abzeichen) wogen 1,2 kg. Zelte bestanden aus schwerem Segeltuch, zum Abspannen dienten Holzpflöcke. Auch die Schäfte der wuchtigen Eispickel waren aus Holz. Jeder Bergsteiger genoss den Luxus eines Privatzelts und verspeiste Konserven mit Delikatessen wie Kaviar oder Gänseleberpastete – gut gemeinte Spenden von Firmen, die sich aber weniger nach den Bedürfnissen der einzelnen Bergsteiger richteten. Aber mit zunehmender Höhe sank der Appetit auf derartige Köstlichkeiten sowieso.
Damals herrschte im Allgemeinen ein Mangel an Informationen, was im Bergsteigen „Usus“ war, und das Wissen über die Bedingungen im Himalaya war minimal. Einige erste Erkundungen des Kangchendzönga-Gebiets und möglicher Aufstiegsrouten waren für die IHE von beschränktem Nutzen.32 Die einzige verfügbare Karte der Region stammte aus dem Jahr 1922 und war vom Leiter der indischen Landvermessung erstellt worden. Die IHE erwarb einige Exemplare zur Orientierungshilfe, das Stück für etwas mehr als eine Rupie.33 Eine solche Karte hängt heute an der Wand meines Arbeitszimmers. In ihrer Schönheit und den verschlungenen Details gleicht sie einem feinen indischen Druck. Kurven