Er ging voraus nach Lhasa. Nicholas Mailänder
8 Mann für 27000 RM schaffen zu können; die Zahl ist abgesehen von den Reisekosten lediglich gegriffen. Dyhrenfurth, der sich auf die Kosten anderer Expeditionen in jener Gegend beruft, veranschlagt […] 90 – 100000 RM, darunter nicht, erkläret mir Graf Oerindur!“16
Bei so viel Gegenwind von solch prominenter Seite ist es erstaunlich, dass sich der Hauptausschuss des DuÖAV am 10. Mai zur Unterstützung der Münchner Kangchenjunga-Expedition mit 3500 Reichsmark durchringen konnte. Zwar war diese Subvention entscheidend, damit die Expedition gegenüber den englischen Behörden als offizielles Unternehmen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins auftreten konnte. Den kümmerlichen Betrag muss Paul Bauer jedoch als blanken Hohn empfunden haben. Entmutigen ließen sich er und seine Freunde dadurch aber nicht.
Jeder Expeditionsteilnehmer hatte je nach Vermögen zwischen 1000 und 4000 Reichsmark in die Expeditionskasse einbezahlt. Die Alten Herren des AAVM hatten über 4000 Reichsmark gestiftet, die Sektion Hochland mehr als 8000 Reichsmark und die Sektion Oberland 3000 Reichsmark. Dazu kamen Sachspenden von Freunden und Bekannten.17
Inzwischen zählte auch Peter Aufschnaiter zur Expeditionsmannschaft. Erstmals erwähnt wird er in dem wahrscheinlich in der zweiten Februarhälfte 1929 verschickten sechsten Rundschreiben an die Teilnehmer. Darin heißt es: „Als Reserveleute sind neu hinzugekommen: Julius Brenner, Sepp Dreher und voraussichtlich Peter Aufschnaiter.“18
Peter Aufschnaiter mag sein Vorhaben, in die USA auszuwandern, verschoben oder aufgegeben haben. Nach dieser Entscheidung beteiligte er sich offenbar mit Feuereifer an den Expeditionsvorbereitungen. Sein Freund Ernst Reisch holte bei einem ihm bekannten Colonel Palmers, der in Indien gedient hatte, Informationen über das Zielgebiet der Expedition ein. Die Ratschläge des erfahrenen Kolonialoffiziers sollten sich später als höchst wertvoll erweisen:
„Ich glaube, dass Stürme die größten Schwierigkeiten bereiten. Die Träger sind im Allgemeinen sehr abergläubisch und scheuen sich davor, in die höheren Gebiete hinaufzusteigen, weil sie sagen, dass die hohen Berge von bösen Geistern bewohnt sind. In der großen Hauptsache natürlich hängt die Expedition von den Trägern ab, und es müssen unbedingt Vorkehrungen getroffen werden, dieselben auf das Beste zu schützen. In Bezug auf Kleidung und Essen darf nichts fehlen. […] Tragtiere tragen 2 Pakete, jedes wiegt 80, also zusammen 160 Pfund, und ein Träger trägt ungefähr 80 Pfund, in den höheren Regionen wahrscheinlich weniger.“19
In gemeinsamer Arbeit wogen die Expeditionsmitglieder das gesamte Expeditionsmaterial gemäß Colonel Palmers Empfehlung ab und verstauten es in Säcken und Blechtonnen. Am 27. Mai schickten sie die Trägerlasten nach Hamburg zur Einschiffung. Einen Monat später, am Samstag, den 22. Juni, verabschiedete sich die Expeditionsmannschaft – ausschließlich Mitglieder des AAVM – auf dem Münchner Hauptbahnhof: Eugen Allwein, Peter Aufschnaiter, Ernst Beigel, Julius Brenner, Wilhelm Fendt, Karl von Kraus, Joachim Leupold, Alexander Thoenes und last but not least Paul Bauer. Um 23 Uhr 10 setzte sich der Zug nach Genua fauchend in Bewegung.20
Von Genua aus brachte der Passagierdampfer „Saarbrücken“ die Mannschaft ohne Zwischenfälle durchs Mittelmeer, das Rote Meer und den Indischen Ozean nach Colombo auf Ceylon. Dort empfing sie der deutsche Konsul von Pochhammer mit der freudigen Nachricht, dass für das gesamte Gepäck der Expedition zollfreie Einfuhr bewilligt worden sei und dass der Einreise nach Sikkim nichts im Wege stünde. Nach fünftägigem Aufenthalt ging es mit dem Frachtschiff „Rothenfels“ weiter nach Kalkutta, das am Morgen des 27. Juli erreicht wurde.21 Hier verlor das Himalaya-Expeditionsteam keine Zeit. Um 20 Uhr desselben Tages saßen die neun Bergsteiger im Zug nach Siliguri am Fuß des Himalayas.
Als Peter Aufschnaiter morgens aus dem Fenster seines Abteils blickte, verschlug es ihm schier den Atem: Früh um 6 Uhr sieht man bei schönstem Wetter einige Schneeriesen (PANDIM?). Unten liegen die Hills mit üppigen, massigen Wäldern bedeckt, blau und mit Wolkenschwaden, die gegen den Himalaja hinaufdrücken. In Siliguri war für die Weiterreise bereits vorgesorgt: Acht Autos warten auf uns. Die Unternehmer, Tibeter, sehen sehr energisch aus. Man fährt zunächst noch in der Ebene dahin. Unser Chauffeur ist ein kleiner flinker Mongole. Bald steigt die Straße in den Jungle hinauf. Die Steigung ist sehr schwach. Die Vegetation ist wunderbar, aber fremd und unbekannt. Affen. Scharen von Weibern in schönen und bunten Gewändern. Alle tragen Schmuck. […] Ghom liegt auf der Passhöhe. Von hier einige Meilen abwärts liegt Darjeeling. Eine Menge Kulis ist schon da und rauft sich um unser Gepäck. […]
Am Abend des übernächsten Tages, es war der 30. Juli, trafen die Expeditionsmitglieder im Darjeeling Club die Spitzen der Behörden und andere Honoratioren. Peter Aufschnaiter vermerkte darüber in seinem Tagebuch: Ich sitze neben dem Polizeipräsidenten Laden-La, einem Tibeter mit einem netten siebenhaarigen Schnurrbärtchen. Ein Gentleman, der sich unser aller Sympathie im Nu erringt. Er ist einer der Haupthelden in Bells Tibetbuch („Rückzug der Chinesen über Indien im Jahre 1922 habe ich gemanagt, it was a very interesting job“). Er war auch in Deutschland. Gebildet, intelligent, witzig und – naiv. Heute Nachmittag kam er auch nach Charlemont, wo er unter den Kulis gleich eine Mordsbewegung hineinbrachte. Er ist befreundet mit Professor Scherman vom Völkerkundemuseum München. Im Club ist außerdem noch da: Colonel Tobin, Shebbeare, Preice, der Sekretär des Darjeeling Club, Graf Basswitz u. a. Die Engländer singen einen Trinkspruch auf „Jolly Good Fellow“ (Freimaurerlied). Es liegt ein Tagebuch von Shebbeare von der 24er Everestexpedition auf mit guten Bildern. In der Nacht Packen.
Am folgenden Morgen beteiligte sich Aufschnaiter an der Musterung der Kulis: Welch nette, fröhliche und einfache Leute sind das! Das Gepäck ist bis Mittag fertig. Bei strömendem Regen packen die Leute ihre Sachen und nehmen ihre Lasten auf. Und so wie sie alle zusammen sind, juchzen sie. Bei der Vorschusszahlung warten draußen die Weiber, um ihren Männern das Geld abzunehmen. Sie helfen ihnen, um die Gepäckstücke bequem zu machen.22
Paul Bauer (Mitte) forderte von seiner Expeditionsmannschaft einen fast militärischen Gehorsam, bei den Trägern war er seiner Fürsorglichkeit wegen beliebt.
Unter der Führung des Sirdar Nursang brach der erste Trägertrupp auf und machte sich auf den langen Weg durch die feuchtheißen Vorberge hinein in die Hochregion des Kangchenjunga-Gebiets. In der Ortschaft Pedong stieß der englische Begleitoffizier Oberstleutnant Tobin zu der Truppe. Er war bei allen Expeditionsmitgliedern beliebt; bald sahen sie in ihm nicht nur einen angenehmen Begleiter, sondern einen Kameraden und Freund. Nach der Überschreitung des 1770 Meter hohen Gangtok-Passes folgte die Marschkolonne dem steil ins Tal des Tista hinabführenden Weg und dem reißenden Bergfluss hinauf bis zur 2700 Meter hoch gelegenen Siedlung Latscheng. Wenige Kilometer oberhalb zweigte linker Hand das zum Teil weglose Zemu-Tal ab. Aufschnaiter, Kraus, Leupold und zwei Träger gingen voraus, um den besten Weg zu suchen, ihn zu markieren und die Lager vorzubereiten. Der Tross folgte reibungslos auf der wohlpräparierten Strecke, sodass bereits am 16. August in einem oberhalb der Waldgrenze gelegenen grasbewachsenen Moränental auf 4370 Meter Meereshöhe der für das Hauptlager vorgesehene Ort erreicht war.
Um sich vor dem kalten, vom Zemu-Gletscher herabwehenden Talwind zu schützen, begannen die Sahibs mit dem Bau einer Mauer aus Steinen, Rasenstücken und Holzverstrebungen. Bald waren auch die Kulis mit bei der Sache; und selbst Lieutenant Colonel Tobin krempelte seine Ärmel hoch, um Rasenpolster auszureißen und Steinbrocken zu schleppen, was für ihn eine gänzlich neue Erfahrung gewesen sein dürfte. Am Abend stand in dem Hochtal eine kleine Stadt mit einer Küche und zwei Schlafhäusern, dazwischen Zelte, die bereits den Kaukasus, das Pamirgebirge und den Mount Everest gesehen hatten. Darüber wehten die deutsche und die englische Flagge.
Am 18. August begannen die Erkundungsvorstöße am Berg. Der Aufstieg auf den Kangchenjunga über den auch von Dyhrenfurth projektierten Nordostsporn war nun endgültig zum Ziel erklärt worden. Auch Bauer erschien er als die sicherste Aufstiegsmöglichkeit. Allerdings bildete der Sporn zwischen 5500 und 6500 Metern einen langen, schmalen Grat, dessen Besteigbarkeit mehr als fraglich war: „Der Anblick war niederschmetternd […] Die steile Fels-