Er ging voraus nach Lhasa. Nicholas Mailänder
hatte sich der kleine Verein von einem Zusammenschluss eher unpolitischer Bergbegeisterter zu einer nationalkonservativen Gesinnungsgemeinschaft gewandelt. Dazu mag auch beigetragen haben, dass 27 von rund 260 Mitgliedern auf den Schlachtfeldern geblieben oder an im Kriegsdienst zugezogenen Leiden verstorben waren.7 Der Jahresbericht des AAVM über die Kriegsjahre schließt mit einer programmatischen Aussage:
„Der Krieg ist anders ausgegangen, als wir hofften. Von innen heraus zermürbt, brach unser Vaterland zusammen, unbesiegt von den Heeren seiner äußeren Feinde. Machtlos stehen wir jetzt da, wehrlos hasserfüllten Feinden preisgegeben, durch innere Unruhen fast an den Rand des Verderbens gebracht. Kein Hoffnungsfünkchen scheint die düstere Zukunft zu erhellen. […] Aber sollen wir nun tatenlos zusehen, wie der Zusammenbruch unseres Vaterlandes weiter und weiter schreitet? Nein und tausendmal nein! So gewiss wie der AAVM im Kriege seine Pflicht tat, so gewiss werden wieder Zeiten kommen, in denen man mit Achtung und Ehrfurcht den deutschen Namen in der Welt nennen wird, Zeiten, in denen kein Welscher mehr wagen wird, deutsches Alpenland zu vergewaltigen.
Mitzuhelfen, dass diese Zeit bald kommen möge, das ist eine Aufgabe, würdig des AAVM […] Lasst uns darangehen, Männer zu erziehen, die die Traditionen unserer Väter hochhalten, Männer, die noch Freude haben an Kampf und Sieg, wie ihn die Bergwelt hundertfach verheißt! Ein körperlich gesundes Geschlecht wird auch gegen geistige Fäulnis gefeit sein.
Da mitzuarbeiten sei unsere vornehmste Aufgabe!“8
Obwohl das Bergsteigen für die tonangebenden Mitglieder des AAVM nach dem Vertrag von Versailles gewissermaßen zu einer Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln geworden war, dürfen wir uns Herbert Kadner und seine Freunde vom AAVM aber nicht als verbissene, allein aufs Politische fixierte Haudegen vorstellen. In einem als „Erlebnis Fels“ titulierten Essay machte der neue Stern am alpinen Himmel deutlich, was ihm am extremen Klettern vor allem wichtig war: „Darum möchte ich mich auch gegen eine allzu scharfe Betonung eines Gegensatzes zwischen Gefühls- und Leistungsalpinismus wenden. Es gibt nur eine Form des Bergsteigens, die Berechtigung hat: Jene, die das Streben nach Erhebung aus den Niederungen des Alltags verkörpert.“9
Als der Artikel von Herbert Kadner im Mai 1921 in der Zeitschrift Der Alpenfreund erschien, hatte ein Spaltensturz in den Ötztaler Alpen dem Leben des Verfassers bereits ein jähes Ende gesetzt. Der Tod Herbert Kadners überschattete noch das Vereinsleben, als Peter Aufschnaiter im Herbst 1921 begann, an den wöchentlichen Versammlungen des AAVM teilzunehmen. Die Trauer um Kadner hielt aber weder die „Aktiven“ noch die „Alten Herren“ davon ab, am 17. Dezember 1921 das 29. Stiftungsfest der alpinen Studentenverbindung im Restaurant „Deutsches Haus“ gebührend zu feiern. Die Bergsteigermaler Rudolf Reschreiter und Ernst Platz sorgten durch ihre pikanten Beiträge zur Kneipzeitung für Erheiterung während des offiziellen Teils der Veranstaltung, nach dessen Beendigung „noch an einem anderen Ort bis Morgengrauen weitergezecht wurde“.10
Im Verlauf des Wintersemesters konnte Aufschnaiter seinen alpinen Lehrmeister Franz Nieberl begrüßen, der bei den Münchner „Akademikern“ einen Vortrag über seine Erfahrungen an der Kleinen Halt im Kaisergebirge hielt, wo ihm noch kurz vor Kriegsausbruch zusammen mit Hans Dülfer die Erstbegehung der abweisenden 700 Meter hohen Nordwestwand gelungen war. Aufschnaiter scheint schnell heimisch geworden zu sein im Kreis der Münchner Studenten-Bergsteiger. In der letzten geschäftlichen Sitzung vor dem Osterfest des Jahres 1922 wählten sie ihn zum Ersten Schriftführer des Vereins.11
Im Winter 1921/22 dürfte Aufschnaiter wiederholt daheim in Kitzbühel gewesen sein, von wo aus er auf die verschneite Goinger Halt im Kaiser gestapft ist und mit Skiern den Kamm Ehrenbachhöhe – Großer Rettenstein – Falsenhöhe überschritten sowie das Kitzbüheler Horn und das Kitzsteinhorn erklommen hat. Im Sommer 1922 suchte „Petrus“ Aufschnaiter – wie er im AAVM-Tourenbericht genannt wird – nicht nur die Hörsäle und Übungsräume der TH München auf, sondern fand auch noch reichlich Zeit, sich in den unterschiedlichsten Gebirgsgruppen herumzutreiben. Die in den Publikationen des AAVM veröffentlichten Fahrtenberichte belegen, dass die bisweilen geäußerte Vermutung falsch ist, Peter Aufschnaiter habe nach seinem schweren Sturz in der Fleischbank-Ostwand das extreme Klettern aufgegeben. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass es ausgerechnet diese Fleischbank-Ostwand war, die als eine der ersten Touren in seinem Fahrtenbericht für das Jahr 1922 aufgeführt wird: Sich mit einer Niederlage abzufinden – darauf hatte Peter offenbar keine Lust. Zu den zahlreichen durchgeführten Touren zählten auch der schwierige Campanile Basso – die „Guglia“ – in der Brenta und mit der Westverschneidung des Predigtstuhls seines Vereinskameraden Emil Gretschmann auch eine der damals schwierigsten Kletterfahrten im Wilden Kaiser.
Auf derselben Doppelseite, auf der Aufschnaiters Fahrtenbericht abgedruckt ist, finden sich auch die Tourenlisten zweier ebenfalls neu aufgenommener Mitglieder des AAVM, denen namhafte Besteigungen in den Schweizer Hochalpen geglückt waren: Paul Bauer und Julius „Jules“ Brenner. Beide sollten in Peter Aufschnaiters Leben noch eine wichtige Rolle spielen. Ihnen war im Sommer 1922 die Besteigung von nicht weniger als zwölf Viertausendern im Wallis gelungen, darunter sehr anspruchsvolle Berge wie das Matterhorn und die Dufourspitze des Monte Rosa! Diese Leistung ist noch beachtlicher, wenn man die Umstände bedenkt, unter denen diese Unternehmungen stattfanden. Die Bedingungen schildert Paul Bauer in eindrucksvoller Eindringlichkeit:
„Der Geburtsort unserer Auslandsbergfahrten ist das Isartal vor München. Freund Brenner und ich hatten uns einmal mittellos – 1922 in der Inflationszeit – dorthin zurückgezogen. […] Das Feuer lohte des Nachts, die Stadt, das ganze Deutschland, für das wir fünf Jahre lang jede Stunde zum Sturm anzutreten bereit waren und das uns nun so schrecklich fremd geworden war, das alles lag in unserem Rücken meilenfern […] Nahe war uns nur die Natur, unsere stets getreue Freundin, die uns so manchesmal mit einem goldenen Abendhimmel die schwersten Schlachttage, die bittersten Verluste hatte vergessen lassen […] Unsere Gedanken wanderten von einem Ende der Welt zum anderen und verweilten überall, wo Menschen im Kampf stehen mit der unberührten Natur; schließlich hefteten sie sich an den silbern schillernden Fluss vor uns, sie folgten seinem Lauf zu den Bergen, sie flogen von Gipfel zu Gipfel bis zu Fernen, die uns, den von einem Wall der Verleumdung, der Feindschaft, der Armut eingeengten Deutschen, damals unerreichbar waren. […] Die Worte flossen langsam über das Feuer hinüber und herüber, sie wurden bestimmter, zielgerichtet. Als der Morgen graute, da erhoben wir uns von unseren Felsen, der Plan war in allen Einzelheiten fertig: Proviant für sechs Wochen aus Deutschland mitnehmen, Entfernungen mit dem Rad zurücklegen, im Zelte wohnen. – Es wäre zum Lachen, wenn es uns nicht gelingen würde, allen Schwierigkeiten zum Trotz die hohen Berge dort drunten zwischen Italien und der Schweiz aufzusuchen; es musste gelingen, denn es war höchste Zeit für uns, aus der drückenden Enge, in die der Krieg Deutschland geschlagen hatte, herauszukommen.“12
Für Paul Bauer und Julius Brenner hatte dieser Befreiungsschlag auch eine politische Dimension: Sie waren entschlossen, „den Wall, den wirtschaftliche Knechtung und die feindliche Hasspropaganda um Deutschland aufgerichtet hatten, niederzureißen, um deutschem Bergsteigertum in der Welt wieder Anerkennung zu verschaffen. Der erste Vorstoß erfolgte im Jahre 1922 in die Schweiz …“13
Ihre alpinen Leistungen schützten Bauer und seine Freunde jedoch nicht vor dem Spott ihrer Vereinskameraden. Eine Karikatur in der AAVM-Kneipzeitung des Jahres 1922 zeigt sie in total abgerissener Montur vor einem Schweizer Hotel. Bildunterschrift: „Würdige Vertreter des Deutschtums im Ausland“. Die Kneipzeitung des Jahres 1925 enthält eine Zeichnung, auf der Paul Bauer gerade verspätet einen Sitzungsraum betritt. Sprechblase: „Ich weiß zwar nicht, was mein Vorredner gesagt hat, aber ich bin dagegen!“ In Münchner Bergsteigerkreisen dürfte sich niemand darüber gewundert haben, dass Adolf Hitler für diesen streitbaren Geist und seine Freunde „bereits 1923 der Mann [war], den wir nicht antasten ließen.“14 Aber das war nur eine Seite der Medaille. Paul Bauer war auch ein treuer Kamerad, dem das Wohl eines ihm nahestehenden Bergfreundes weit wichtiger war als weltanschauliche Unterschiede. So setzte sich Paul Bauer nach dem Sturz der Münchner Räterepublik im Mai 1919 erfolgreich für die Freilassung des inhaftierten Rotarmisten Otto Herzog ein.15