Er ging voraus nach Lhasa. Nicholas Mailänder
Zimmeter nochmal an diesem Markstein der klettersportlichen Entwicklung. In einem Artikel schilderte der Rechtsanwalt anschaulich, wie es ihnen dabei ergangen ist:
„An einem strahlenden Septembermorgen gingen mein lieber Freund Peter Aufschnaiter und ich die Fleischbank-Ostwand an. Frohgemut kletterten wir darauf los, benützten aber gewissenhaft die vorhandenen Sicherungshaken, die in genügender Anzahl im Fels staken; denn gottlob hatte schon seit geraumer Zeit kein Hakenmarder mehr in der Wand gehaust. Leichtfüßig übertanzten wir die beiden Quergänge, die anstrengende Kaminreihe überlisteten wir in feiner Kletterei an der rechtseitigen Wand, dann kam der hübsche Gang um den Pfeiler und nun standen wir am unteren Ende der bekanntanstrengenden Schlussrisse. […]
Sie beginnen mit einer plattigen Steilrampe; knapp rechts von ihr ist eine mannshohe schwarze Höhle in die Wand geschnitten. Peterl stieg die Rampe hinan; die musste aber ekelhaft schwer sein; denn es schien, als ob er überhaupt nicht vom Fleck käme. Endlich hatte er sie hinter sich und befand sich nun genau oberhalb der Höhle; ich stieg nach; bei Gott, diese Stelle hatte sich gewaschen; die war wirklich bluthart und fürchterlich kraftraubend! Da setzte nun ein schwefelgelber Riss an, der wenig vertrauenserweckend aussah und weiter oben in der Wand versickerte. Ich stand auf einem handtellergroßen Plätzchen; zu meinen Füßen stak ein alter verrosteter Dülferhaken, wohl ein getreuer Zeuge jener berühmten Neufahrt durch Dülfer und Schaarschmidt. Durch einen Schnappring verband ich Haken und Seil und Peterl hing sich an den Riss wie ein Hetzhund an seine Beute. Er verklemmte seinen rechten Fuß ganz verzweifelt in dem Riss, schob sich mühsam und vorsichtig empor und keuchte dabei vor Anstrengung wie eine schadhafte Dampfmaschine. Bald kam er zu einem Felsnagel, der wie ein fauler Zahn wackelte; Peterl gab ihm zwar ein paar wuchtige Hammerschläge auf den Schädel; das nutzte aber auch nicht besonders viel; er kettete das Seil durch einen Federring an den Haken und kletterte wieder weiter. Peter war am oberen Rissende angelangt und musste nun mit weit ausgestrecktem Arm nach links hinüberlangen, um dort einen Griff zu erreichen und sich mit seiner Hilfe aus dem Riss nach links auf kletterbaren Fels hinüberzuschwingen. Ehedem schlug er aber zur Sicherung noch einen Felsnagel und hakte ein. Ich folgte seinem Tun mit gespanntester Aufmerksamkeit. Er befand sich jetzt ungefähr 20 Meter fast senkrecht über meinem Standplatz und langte nun hinüber nach links zu jenem Felszacken, der den Schlüssel zum Weiterweg bedeutet.
Plötzlich stieß sich Peterl mit einem sehr unstandesgemäßen Fluch von der senkrechten Wand weg und sauste auch schon vollkommen lautlos mit unglaublicher Geschwindigkeit knapp neben mir vorbei in die Tiefe. Mein erster Gedanke war: Wenn nur das Seil und die drei Haken halten, sonst liegen wir alle beide in wenigen Sekunden drunten in der Steinernen Rinne! Ich riss das Seil ein wie ein Verrückter. Die beiden oberen Haken wurden durch die fürchterliche Wucht des Sturzes aus der Wand gerissen, als wenn sie in Butter gesteckt hätten. Doch, Gott sei’s gedankt, der ehrwürdige Dülferhaken hielt. Er war eisenhart mit dem Berg verwachsen und hielt treu und fest wie dieser.
Als ich glaubte, dass der Sturz bald beendet war, hielt ich das Seil mit der übermenschlichen Kraft des Verzweifelten; blutige Hautfetzen flogen aus den Handflächen, doch mich beherrschte nur der einzige Gedanke: Nur das Seil nicht auslassen! Endlich hatte ich die Gewalt des Sturzes gebrochen, ich war Herr des Seiles geworden und fühlte, dass mein Freund frei schwebte; durch eine Kette unerhörter Glücksfälle war Peter gerade in die Höhle rechts der Rampe hineingependelt; er hatte sich dabei allerdings den Fuß schwer verletzt und seinen Schädel tüchtig angehaut, dass ein Teil der Rampe wie die richtige Fleischbank eines Metzgers aussah; er redete auch, als ich mich voll Angst um sein Schicksal zu ihm hinuntergeseilt hatte, allerhand irrsinniges Zeug daher, doch ich war heilfroh und dankte dem Himmel, dass ich ihn lebend antraf. […]
Wie ich dann um Hilfe schrie und gehört wurde, wie uns noch in später Abendstunde der Oberländer Dr. Hamm von der Steinernen Rinne aus Rettung für morgen früh versprach und uns dadurch das Warten zu einem aufregenden Erlebnis machte, wie wir mitten in der Fleischbank-Ostwand eine zwar bitterkalte, aber hochromantische, mondscheinumglänzte Beiwacht hielten und dabei wie die Murmeltiere schliefen, wie uns dann die wackere Kufsteiner Rettungsmannschaft mit ihrem Obmann Klammer an der Spitze aus den Felsen holte und dabei alles wie am Schnürchen ging, wie ich noch einen Morgenbummel über die Karlspitze machte, wie mir dann am Ellmauertor durch den Stripsenjochwirt mit einer Flasche Schnaps, die ich vor Freude und Durst unsinnigerweise über den Kopf austrank, der bisher größte Rausch meines Lebens angehängt wurde, sodass ich auf Grutten den Fernsprecher nicht mehr bedienen konnte – das soll alles nur nebenbei gesagt sein!“1
Wir können also davon ausgehen, dass Peter Aufschnaiter im Herbst 1921 mit einigen Kopfblessuren sein Studium der Landwirtschaft an der Technischen Hochschule München antrat. Den im Programm der Technischen Hochschule des Jahres 1921/22 enthaltenen dringenden Rat, „vor Beginn des Hochschulstudiums sich längere Zeit in der Landwirtschaft praktisch auszubilden“, hatte der lädierte Studienanfänger in den Wind geschlagen.2 Dies dürfte eine entschuldbare Unterlassung gewesen sein; denn am Beginn des agrarwissenschaftlichen Studiums an der Technischen Hochschule München stand damals die Aneignung der theoretischen Grundlagen im Vordergrund: „Da bei einem großen Teil der Fächer des Landwirtschaftsstudiums und seiner Grund- und Hilfswissenschaften im Winterhalbjahre mit den grundlegenden Vorlesungen begonnen wird und das Sommerhalbjahr auf das im Winter gewonnene Wissen aufbaut, so ist das Studium im Winterhalbjahr zu beginnen.“3 Den Weg von seiner Studentenbude in der Adelgundenstraße 10 im Stadtteil Lehel zur rund zweieinhalb Kilometer entfernten Hochschule legte Peter Aufschnaiter wohl auf dem Fahrrad zurück, um dann von der Luisenstraße einige Treppenstufen zu ersteigen und weiter in den Hörsaal zu humpeln.
Ziemlich sicher ist auch, dass der Studienanfänger nach dem erlittenen Schaden nicht für den gutmütigen Spott sorgen musste, als er eines Abends das Nebenzimmer des Restaurants „Domhof“ betrat, wo seit neuestem die Versammlungen des Akademischen Alpenvereins München (AAVM) stattfanden. Die Quellen weisen darauf hin, dass der frischgebackene Studiosus agrarius in diesem sowohl gesellschaftlich als auch alpinsportlich elitären Zirkel von Beginn an willkommen war.4 Damals schon hatte dieser zwar kleine, aber feine Verein bereits international einen sehr guten Namen.
Die Gründung des AAVM war im Jahr 1892 von jungen Münchner Spitzenbergsteigern wie Albrecht von Krafft und Rudolf Reschreiter sowie den Brüdern Josef und Ernst Enzensperger ausgegangen, die durch anspruchsvolle Erstbegehungen in den Nördlichen Kalkalpen von sich reden gemacht hatten. Der Akademische Alpenverein München war keine Sektion des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, sondern eine verbandsunabhängige alpinistisch orientierte Studentenverbindung. Viele ihrer Mitglieder gehörten auch der DuÖAV-Sektion Bayerland an, einer Sektion, deren „Ideal der bergsteigerischen Tat“ dem AAVM sehr nahestand.5
International in Erscheinung trat der AAVM, als sein Mitglied Adolf Schulze am 26. Juli 1903 als erster Mensch den Gipfel der extrem schwierigen Uschba im Kaukasus erreichte. Im August desselben Jahres setzten seine AAVM-Kameraden Ludwig Distel, Georg Leuchs und Hans Pfann noch eins drauf und überschritten den Süd- wie den Hauptgipfel des Bergriesen in einer fünftägigen Gewalttour. Neun Jahre später markierten die „Akademiker“ Hans Dülfer und Werner Schaarschmidt den Beginn der „klassischen Moderne“ im Klettersport durch ihre Erstbegehung der Peter Aufschnaiter inzwischen gut bekannten Fleischbank-Ostwand im Kaisergebirge. Im darauffolgenden Jahr legten Hans Dülfer und Wilhelm von Redwitz mit der Erstbegehung der Direktführe durch die Westwand des Totenkirchls die Latte noch etwas höher.
Nach dem Ersten Weltkrieg hatten Mitglieder des AAVM sofort an diese stolze alpine Tradition angeknüpft. Der 1893 in München geborene Jurastudent Emil Gretschmann war in der Vorkriegszeit als Mitglied der Alpenvereinssektion Bayerland mit dem ebenfalls zu dieser Sektion gehörenden Klettergenie Paul Preuß in Kontakt gekommen und hatte sich unter dessen Einfluss dem lupenreinen Freiklettern verschrieben. Gretschmann gab diese Haltung an seinen AAVM-Kletterlehrling und alpinen Senkrechtstarter Herbert Kadner weiter, der sich wenige Monate zuvor, am 1. Mai 1919, im Zuge der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beim Sturm auf den von der „Roten Armee“ besetzten Hauptbahnhof eine schwere Schussverletzung zugezogen hatte.6
Kadner war nicht der einzige AAVMler