Grenzgänger. Aline Sax

Grenzgänger - Aline Sax


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sie völlig perplex an: Der vierzehnte Oktober war ein Datum, das für mich nicht existierte.

      »Wir sind zu einer Feier eingeladen«, sagte Gudrun halb entschuldigend.

      »Ach so, ja, kein Problem.«

      Sie lächelte mich an und nahm Mutter den nächsten gespülten Teller ab. Mit hängenden Armen stand ich da, das Geschirrtuch in der Hand. Das Gefühl, außen vor zu sein und ohne Raum- und Zeitbezug irgendwo zu schweben, verstärkte sich.

      Und es ließ nicht mehr nach. Als Hermann und Gudrun ihre Kinder auf die Arme nahmen und sich mit dem üblichen Wangenkuss verabschiedeten, spürte ich die Berührung ihrer Lippen überhaupt nicht. Und als ich mich umgezogen hatte, in meine Jacke schlüpfte und zu den Eltern sagte, ich würde bei Rolf übernachten, und sie meine Lüge ohne Argwohn schluckten, fühlte ich mich innerlich völlig hohl. Ich umarmte Mutter, gab Vater die Hand und sagte mechanisch: »Na denn, bis morgen.«

      Schweigend gingen wir zu der Kneipe, in der ich Veronika eine Woche zuvor getroffen hatte. Und wir sagten auch nichts, als wir uns an einem Tisch gegenübersaßen und auf sie warteten.

       SIEBZEHN

      Um Punkt zehn kam sie herein. Ich holte tief Luft und befeuchtete meine Lippen. Die erste Phase des Plans lief gut, denn hinter ihr tauchten keine Stasi-Leute auf. Trotzdem konnte ich den Blick kaum von der Tür wenden.

      Veronika trug einen dunkelblauen Anorak und hatte das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie setzte sich zu uns und knibbelte dann an ihren Fingernägeln herum. Als wüsste sie nicht recht, was sie sagen sollte. Rolf und ich wussten es auch nicht.

      »Wir sollen eine Stunde hierbleiben und dann aufbrechen«, sagte sie schließlich. Also bestellten wir uns etwas zu trinken, sahen uns dann über die Gläser hinweg an und wechselten ab und zu ein paar belanglose Sätze, damit unsere Schweigsamkeit nicht zu sehr auffiel. Die Zeit verging quälend langsam, und ich konnte mich nicht enthalten, immer wieder zur Tür zu schauen. Was, wenn Wolfgang Wichser auftauchte? Er würde Veronika garantiert wiedererkennen … Ich zwang mich, für eine Minute die Augen zu schließen, atmete ruhig durch und sagte mir, dass Wolfgang nicht kommen und alles gut würde.

      »Wo arbeitest du eigentlich?«, fragte Rolf, um die Stille zu durchbrechen.

      »Ich arbeite … äh … habe in einer Marmeladenfabrik gearbeitet«, antwortete Veronika leise.

      Rolf nickte.

      »Und ihr beide?«

      »Ich kann morgen auf dem Bau anfangen«, sagte ich, um einen freudigen Gesichtsausdruck bemüht, was nicht recht gelingen wollte.

      »Schön.« Veronika lächelte mir zu, wandte dann aber schnell den Blick ab.

      Um elf verließen wir die Kneipe. Draußen regnete es. Ich stellte den Kragen meiner Jacke hoch und schob die Hände in die Taschen. Ohne ein Wort gingen wir durch die Straßen, Veronika ein paar Schritte vor uns; sie schien den Weg genau zu kennen.

      In der Kühle des Abends und mit der Aussicht, dass es bald so weit war, ließ meine Nervosität ein wenig nach.

      Aber nach einer Stunde waren wir noch immer nicht am Ziel. Es kam mir vor, als bewegten wir uns im Zickzack, mal in Richtung Grenze, dann wieder davon weg. Was sollte das? Wohin führte Veronika uns? Wozu diese offensichtlichen Umwege? Ich fragte aber nicht, weil ich mir sicher war, ihr trauen zu können. Uns zu verraten, hätte sie schon früher Gelegenheit gehabt.

      Nach über eineinhalb Stunden trat sie plötzlich in einen Hauseingang und legte den Finger an die Lippen. Rolf und ich folgten sofort, um nicht im Lichtkreis der Straßenlaterne zu sein. Wir standen so dicht beisammen, dass ich die nassen Haare der beiden riechen konnte.

      Hier also war es. Ich wusste, in welcher Straße wir uns befanden – gar nicht einmal weit weg von zu Hause. Etwa dreihundert Meter weiter unterquerte die Straße eine Eisenbahnbrücke und endete dann an der Grenze. Das Gebäude, in dessen Eingang wir uns zusammendrängten, stand an der letzten Kreuzung vor der Grenze. Das Eckhaus gegenüber war den Bomben zum Opfer gefallen; nur noch ein mit Gebüsch bewachsener Trümmerhaufen war davon übrig.

      Auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Es hatte aufgehört zu regnen, und das Licht der Straßenlaterne in unserem Blickfeld spiegelte sich in den Pfützen. Minutenlang warteten wir, aber nichts tat sich. Es war so still, dass ich glaubte, den Sekundenzeiger von Rolfs Uhr ticken zu hören. Ansonsten waren da nur unsere Atemzüge und hin und wieder Tropfen, die vom Dach auf die Straße klatschten. Unwillkürlich überlegte ich, wie hoch der Regen das Wasser in der Kanalisation hatte steigen lassen.

      Plötzlich nahm ich aus dem Augenwinkel etwas wahr. Im Gebüsch gegenüber. Eine Bewegung? Und war da nicht eben ein Lichtschein gewesen?

      Auf einmal liefen zwei Personen geduckt zu dem Gullydeckel mitten auf der Straße. Mein Mund wurde staubtrocken. In meiner Wahrnehmung wurde die Strecke zwischen Hauseingang und Gully immer größer und die beiden Gestalten immer kleiner. Ich würde keinen Schritt tun können. Rolf müsste mich mitzerren … »Wir gehen als Letzte«, hörte ich Veronika flüstern, ohne recht zu begreifen, was sie meinte. Die zwei Personen – es waren Männer, wie ich nun sah – hoben gemeinsam den Gullydeckel hoch. Er entglitt ihnen und krachte auf den Boden. Die beiden erstarrten, und auch ich hielt die Luft an. Dann stieg einer von ihnen hinab, der andere machte ein Handzeichen zu dem Gebüsch hin. Zwei weitere Personen liefen los, den Bewegungen nach zu urteilen Frauen. Sie knieten sich neben die Öffnung.

      Was, wenn sie uns vergaßen? Wenn der Deckel zugemacht wurde, ehe wir … Hätte ich gekonnt, ich wäre losgerannt.

      Die erste der beiden Frauen machte sich an den Abstieg. Schwaches Licht kam aus der Öffnung, von einer Taschenlampe vermutlich. Einen Moment lang beleuchtete es den Deckelmann, aber zu kurz, um sein Gesicht genau zu sehen.

      »Wann sind wir dran?«, flüsterte Rolf.

      »Wenn er uns ein Zeichen gibt«, flüsterte Veronika zurück.

      Ich ließ den Deckelmann nicht aus den Augen. Er half gerade der zweiten Frau beim Hinabsteigen. War ihm klar, dass noch drei weitere Personen – wir – warteten? Und wusste er auch, wo?

      In dem Moment, als er den Arm der Frau losließ, erklangen Rufe: »Halt! Stopp! Hände hoch!«

      Von zwei Seiten her kamen Soldaten gerannt. Dem Deckelmann blieb keine Möglichkeit zu entkommen. Er sah sich um, und ganz kurz streifte sein Blick uns. Taschenlampen richteten sich auf ihn, und wieder tönte es: »Keine Bewegung! Wir schießen!«

      Gefangen in den Lichtkegeln, ging der Mann in die Hocke. Eine Sekunde lang sah ich Panik in seinen Augen, dann war er auch schon in den Gully gesprungen. Die Gewehrsalve kam zu spät.

      Die Soldaten hatten den Gully erreicht – sie waren zu viert. Einer leuchtete hinein, ein anderer kniete sich hin und feuerte mehrmals in die Kanalisation. Das Echo der Schüsse klang hohl. Die beiden anderen hoben ihre Lampen, um die Umgebung abzusuchen.

      »Nichts wie weg!«, zischte Rolf und versetzte mir einen Stoß.

      Schlagartig löste sich meine Starre, und ohne eine Sekunde zu überlegen, rannte ich los. Die Soldaten schrien uns eine Warnung zu.

      Ich zog beim Rennen den Kopf ein, aber es fiel kein Schuss. Adrenalin pulste durch meine Adern, verlieh mir eine ungeahnte Ausdauer. Ich rannte, rannte, rannte – ohne jede Ahnung, wohin.

       ACHTZEHN

      »He!« Eine Stimme dicht hinter mir.

      Ich rannte noch schneller.

      »Mensch, warte doch!«

      Es war Rolf.

      Ich nahm das Tempo ein wenig zurück. Rolf holte mich ein und griff nach meinem Arm.

      »Wir haben sie abgehängt!«, keuchte er. »Bleib stehen!«

      Ich


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