Grenzgänger. Aline Sax
ist … Frank«, sagte das Mädchen. »Er ist hier bei uns zuständig. Für das … äh … Reisebüro.«
Der Mann musterte uns. »Ihr wollt also fliehen?« Seine Stimme war kühl, sachlich.
Rolf und ich nickten.
»Warum?«
Ein schneller Blick von Rolf.
Es war meine Idee gewesen, also war es nur recht und billig, wenn ich die Frage beantwortete. Ich schluckte kurz. Ob man diesem Frank trauen konnte? Dass er in Wirklichkeit nicht so hieß, war klar – das Zögern des Mädchens, bevor sie seinen Namen nannte, war mir nicht entgangen. Womöglich waren die beiden doch Spitzel und wollten uns aushorchen und verhaften lassen, sobald wir unsere Fluchtabsicht laut und deutlich geäußert hatten. Wieder schluckte ich, aber meine Kehle war und blieb trocken. Wenn es doch nur regnen würde … Andererseits – die beiden konnten sich ja auch nicht sicher sein, was uns betraf, und dachten vielleicht, wir wollten ihre Organisation infiltrieren und auffliegen lassen.
»Meine Freundin ist im Westen«, sagte ich schließlich heiser. Frank verzog keine Miene.
Dass ich mein Leben in Ostberlin als sinnlos und leer empfand, würde ihn wohl kaum interessieren, darum fuhr ich fort: »Ich habe in Westberlin gearbeitet und habe dort Freunde. Und, wie schon gesagt, meine Freundin. Ich lebe auf der falschen Seite der Mauer.«
»Und du meinst, auf der kapitalistischen Seite gefällt’s dir besser?«
Ich zuckte zusammen. Also doch …
Aber er grinste. »Kleiner Scherz, schon gut.« Dann wandte er sich an Rolf: »Und du?«
Rolf hatte sich inzwischen eine Zigarette angezündet, nahm einen Zug und blies den Rauch aus.
»Ich möchte Paris sehen. Und ich will meinen kleinen Bruder nicht allein gehen lassen. Der ist leichtsinnig und schlägt gern mal über die Stränge.«
An der Art, wie er den Glimmstängel hielt, merkte ich, dass seine Lässigkeit nur Schein war.
»Und wie habt ihr euch die Flucht vorgestellt?«, fragte Frank.
»Ich hab mir die Häuser an der Bernauer Straße angesehen«, sagte ich. »An der Ecke Ruppiner Straße war ein Kellerschacht zum Westen hin offen …«
»Aber jetzt ist da alles zugemauert«, ergänzte Rolf. »Und eine andere Möglichkeit haben wir noch nicht gefunden. Ich war mehrmals am Teltowkanal und an der Spree …«
Das war mir neu. Davon hatte er noch gar nichts erzählt … oder bluffte er?
»… aber da ist wohl auch nichts zu machen.«
»Tja, und dann habe ich sie …« – ich zeigte auf das Mädchen.
»Veronika«, sagte sie rasch.
»… habe ich Veronika kennengelernt, und sie hat mir von eurem Unternehmen erzählt.«
Frank ließ uns nicht aus den Augen.
»Hast du ’ne Kippe für mich?«, wandte er sich plötzlich an Rolf. Der zog eine Selbstgedrehte aus seiner Hemdtasche und reichte sie ihm. Dann beugte er sich zu ihm hinüber, um ihm Feuer zu geben.
»Gut.« Frank blies den Rauch über unsere Köpfe hinweg.
»Am vierundzwanzigsten September geht die nächste Gruppe. Wenn ihr wollt, könnt ihr mit.«
»Am vierundzwanzigsten September?«, wiederholte Rolf. »Das heißt: kommende Woche?«
Er nickte.
Schon in einer Woche … eine Woche war so schnell vorbei … was würde ich bis dahin noch alles erledigen müssen? Es kam mir fast vor, als hätte man mir gesagt, mir bliebe nur noch eine Woche zu leben.
»Wir müssen schnell handeln. Kann gut sein, sie machen demnächst auch die Kanalisation dicht.« Es klang, als hätte er das schon x-mal zu Leuten gesagt, die ähnlich dachten wie ich im Moment. »Ihr könnt aber auch auf die Warteliste, dann …«
»Wir gehen mit«, unterbrach ich ihn entschlossen.
»Gut. Ihr werdet zu sechst sein. Also noch drei andere. Wer, das braucht ihr nicht zu wissen. Kein Gepäck. Dunkle Kleidung bitte. Und weder Seile noch Taschenlampen mitnehmen. Wenn ihr mit so was erwischt werdet, ist es für die ganze Gruppe aus. Ein siebter, der Deckelmann, macht den Kanaldeckel auf und schließt ihn hinter euch wieder. Unten geht ihr geradeaus. An der Grenze sind die Gänge mit Sperrgittern versehen, aber unter denen kann man durchtauchen. Jenseits davon stehen zwei Westler. Die führen euch zu einem Ausgang außer Sichtweite der Grenze. Unterwegs nicht sprechen und kein Licht machen. Das Ganze muss schnell und leise vor sich gehen.«
Seine Erläuterungen waren äußerst präzise, dabei kurz und knapp.
»Selbstverständlich redet ihr mit keinem darüber. Ihr verhaltet euch bis zum vierundzwanzigsten wie sonst auch. Geht zur Arbeit, kauft ein – alles wie immer. Kein Abschied von Familienangehörigen und so. Und keine Briefe hinterlassen, das würde euren Leuten nur Scherereien machen.«
Ich schluckte.
»Noch Fragen?«
Mir fiel so schnell nichts ein. Und auch Rolf schüttelte den Kopf. »Also gut. Sonntagabend um zehn wartet Veronika in der Kneipe, wo ihr sie kennengelernt habt, auf euch.« Die beiden standen auf und gaben uns nacheinander die Hand.
Und ehe ich mich’s versah, waren sie auch schon verschwunden. Rolf und ich saßen allein da und sahen einander ungläubig an: Würden wir tatsächlich schon nächste Woche im Westen sein?
»Mir scheint, wir sind Glückspilze«, meinte Rolf schließlich. »Besser organisiert könnte die Flucht gar nicht sein. Das hätten wir selber nie so hinbekommen.« Er grinste.
Ich erwiderte das Grinsen halbherzig. Irgendwie konnte ich es noch nicht fassen.
Auch als ich zu Hause in meinem Zimmer am Fenster stand und es endlich zu regnen begonnen hatte, kam mir unser Vorhaben noch unwirklich vor. In einer Woche würde ich nicht nur bei Heike sein, sondern auch als Staatsfeind gelten und meine Familie nie mehr wiedersehen.
FÜNFZEHN
Es wurde die merkwürdigste Woche meines Lebens. Ich war ängstlich, erleichtert, aufgeregt und deprimiert – alles zugleich. Die Zeit verging zu schnell und doch nicht schnell genug. Ich versuchte, Franks Anweisung zu befolgen und mich so zu verhalten wie sonst auch. Aber das war schwierig, weil ich mich so völlig anders fühlte.
Am Esstisch prägte ich mir das Gesicht meiner Mutter ein, ihre Augenfarbe, ihre Haarfarbe und die feinen Fältchen in den Mundwinkeln. Jeden Satz, den sie sagte, wollte ich mir merken.
Auch meinen Vater betrachtete ich heimlich. Und wieder einmal wurde mir bewusst, wie wenig ich ihn doch kannte. Zu gern hätte ich gefragt, woher sein Starrsinn und seine Härte rührten, warum er sich wie mit einem Panzer gegen uns abschottete. Der Krieg hat ihn innerlich umgebracht, hatte meine Mutter einmal gesagt, aber nicht erklärt, wie sie das genau meinte. Er selbst mied das Thema Krieg. Als er ’46 aus russischer Gefangenschaft zurückkehrte, traf er zu Hause Kinder an, die ihn den größten Teil ihres Lebens nicht gesehen hatten. Ich – damals fünf – hatte ihn überhaupt noch nie gesehen. Mein Vater war für mich das Foto auf Mutters Nachttisch. Ein stattlicher Offizier in Wehrmachtsuniform mit lachendem Gesicht. Und auf einmal stand ein ausgemergelter Mann in der Tür, der meine Mutter küsste und von da an bei uns wohnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass der wortkarge Mann, der mich schlug, wenn ich im Weg herumstand oder meinen Teller nicht leeraß, derselbe war wie auf dem Foto. Für ihn wiederum war ich das Kind, von dem er nur aus Briefen meiner Mutter wusste. Gudrun und Rolf hingegen hatte er als Säuglinge und Kleinkinder erlebt.
Als ich in die Pubertät kam, rechnete ich des Öfteren nach, traute mich aber nicht, meine Mutter direkt zu fragen, ob er neun Monate vor meiner Geburt auf Heimaturlaub gewesen war.
Jedenfalls