Grenzgänger. Aline Sax
hatte gestanden: »Ein Handlanger der kalten Krieger konnte seinen Auftrag nicht zu Ende führen. Eine Laus am Körper unseres Arbeiter- und Bauernstaates wurde zerdrückt, bevor sie beißen konnte.«
»Ich bin hier unglücklich.« Ich zog die Beine hoch, zupfte an meinen Schnürsenkeln herum und fragte mich, warum ich damit überhaupt zu Rolf gegangen war. Hatte ich insgeheim auf seine Unterstützung gehofft? Was für eine Idee, wo ich doch gerade gesagt hatte, ich wollte weg – weg von der Familie, weg von ihm! Oder hatte ich etwa gehofft, er würde mir mein Vorhaben ausreden? Unsicher geworden, legte ich den Kopf auf die Knie und schloss für einen Moment die Augen.
»Und wie willst du das machen?«
Ich blinzelte überrascht.
»Ich hab mir gedacht, dass es Stellen geben muss, die ihnen entgangen sind. In nur drei Wochen kann man doch nicht ein ganzes Land lückenlos abriegeln. Und so eine Stelle muss ich finden.«
Rolf sagte nichts dazu, aber ich wusste, dass er das Gleiche dachte wie ich. Die Grenze war mit einer Mauer aus Betonblöcken und Stacheldraht gesichert und wurde von Soldaten bewacht. An der Spree und den anderen Wasserwegen patrouillierten Scharfschützen. Die Zugänge der U-Bahn-Stationen waren abgeriegelt und wurden ebenfalls bewacht.
Rolf zog an seiner Zigarette, inhalierte tief und blies den Rauch aus.
»Bist du ganz sicher, dass du das willst?«, fragte er.
»Ja.« Jetzt war ich mir meiner Sache wieder vollkommen sicher. Ich hatte mir das Ganze schon x-mal durch den Kopf gehen lassen. Und ich war hier, weil ich einen Entschluss gefasst hatte und ihn meinem Bruder mitteilen wollte.
»Ich liebe Heike wirklich, Rolf.« Meine Stimme klang heiser. »Ohne sie ist alles sinnlos. Und überleg doch mal, wie wir hier leben! Nichts als Vorschriften und Verbote! Bis hierher und nicht weiter … im wahrsten Sinn des Worts! Ich will frei sein und selber über mein Leben bestimmen.«
Rolf nahm wieder einen Zug.
»Hast du schon mit Mutter darüber gesprochen?«
»Nein. Die Eltern dürfen nichts erfahren, sonst macht man sie später mitverantwortlich.«
Die Wohnungstür ging, und im Flur waren Schritte zu hören.
»Honey, we’re hoo-ome!«, rief Rolfs Mitbewohner Alex, und Sekunden später steckte er den Kopf herein. »Hast du schon gegessen? Wir haben Hähnchen und Bier geholt. Ach, da ist ja Julian. Bleibst du zum Essen?«
»Nein danke.« Ich stand auf. Jetzt konnten wir ohnehin nicht mehr ungestört reden.
»Hast du morgen Zeit?«, fragte Rolf.
Ich verzog das Gesicht. »Ich hab immer Zeit. Mich will ja keiner einstellen.«
»Gut, komm am Abend her, dann reden wir weiter.« Er stand ebenfalls auf und klopfte mir auf die Schulter.
»Danke. Ich … äh …«
Rolf fasste mich am Arm und zog mich zur Tür. »Bis morgen.«
Draußen auf der Straße holte ich tief Luft. Ich würde es tun. Auf jeden Fall! Wie zur Bekräftigung klatschte ich mit der flachen Hand gegen die Tür. Dann nahm ich mein Rad, das an der Hauswand lehnte, schwang das Bein über die Stange und sauste davon.
ELF
Beim Abendessen plagten mich Schuldgefühle. Ich saß neben Vater und gegenüber Mutter. Franziska war bei einer Freundin. Im Radio liefen die Nachrichten, aber ich bekam kaum etwas davon mit. Ich konnte einzig und allein an mein Vorhaben denken und welchen Einfluss es auf das Leben meiner Eltern haben würde. Und dass sie von alldem nichts ahnten …
Mutter schöpfte schweigend die Suppe aus. Als sie merkte, dass ich ihr zusah, lächelte sie mich an. Mein Herz krampfte sich zusammen.
Vater hatte sein gesundes Ohr dem Radio zugewandt und begann mechanisch zu löffeln. Dass er schlürfte, schien er gar nicht zu merken. Wahrscheinlich würde es auch ihm leidtun, wenn ich fort war, auch wenn er sich nichts würde anmerken lassen. Er würde etwas Unverständliches brummen und das Radio anschalten, um die Stille zu durchbrechen. Das Radio war seine Zuflucht in allen Lebenslagen.
Schon öfter hatte ich mich gefragt, wie er früher gewesen war, vor dem Krieg, als er Mutter kennenlernte. Der Krieg hatte ihn verändert, keine Frage. Auch an meiner Mutter waren diese Jahre nicht spurlos vorbeigegangen. Sie hatte mit drei kleinen Kindern allein dagestanden, zum Kriegsende hin in einer schwer umkämpften Stadt. Ich wusste noch, dass sie große Angst vor den Russen gehabt hatte, nicht aber, wie sie damit fertiggeworden war. Seltsam, dass man die eigenen Eltern immer nur in ihrer Elternrolle wahrnimmt und nicht ahnt, wie sie als Mann und Frau, als Freund und Freundin, als Bruder oder Schwester sind oder waren.
Auch Mutter hatte zu essen begonnen.
Sie würde mir am meisten fehlen …
Trotzdem fühlte es sich richtig an. Ich wollte mein Leben nicht in einer Stadt verbringen, in der bewaffnete Soldaten bestimmten, wo ich zu gehen und zu stehen hatte, wo eine Grenze aus Steinen und Stacheldraht mich von Heike trennte. Ich musste und wollte fort, und ich würde es schaffen.
Ein Klopfen an der Wohnungstür.
Ich ging öffnen.
»N’Abend, Julian.« Frau Schulze drängte sich an mir vorbei und steuerte auf unser Wohnzimmer zu.
»Ach, ihr seid gerade beim Essen«, sagte sie.
Was sonst – um sechs Uhr abends?
»Ich störe hoffentlich nicht?« Sie saß bereits, noch ehe Mutter den Mund aufmachen konnte. »Haben Sie schon gehört, dass die Baums, also Heinz Baum und seine Frau, ihr Auto bekommen haben? Dabei standen sie erst drei Jahre auf der Warteliste. Da fragt man sich doch, wo die sich lieb Kind gemacht haben. Denn so, wie ihr Sohn sich benimmt … eine Schande ist das … gegen alle sozialistischen …«
Weil ich ihr Geschwätz nicht mehr hören mochte, schaltete ich auf Durchzug. Ich sah nur noch die Mundbewegungen, ließ ihre Worte nicht in mein Gehirn dringen. Das mit ganz anderen Dingen beschäftigt war. Die Schulze würde ich jedenfalls nicht mehr lange zu ertragen brauchen. Schon öfter hatte ich überlegt, ob sie uns wohl im Auftrag der Partei indoktrinierte. Was mich nicht wundern würde. Die alte Schulze als Instrument der Partei … bei diesem Gedanken musste ich grinsen. Vielleicht war sie gar kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern ein Roboter, der eingespeicherte Propagandatexte abspulte.
Niemand achtete auf mich, als ich aufstand, meine Jacke anzog und die Wohnung verließ.
»Willst du immer noch in den Westen?«, fragte Rolf, als wir in seinem Zimmer saßen.
»Ja, ich hab mir das gut überlegt.«
Er blickte von der Zigarette auf, die er gerade drehte, und musterte mich eingehend.
Wahrscheinlich würde er gleich sagen, dass ich dann meine Familie nicht mehr sehen könnte und Mutter furchtbar wehtun würde.
Aber er schwieg.
»Ich finde schon eine Möglichkeit. Irgendwo muss eine Schwachstelle sein, und die muss ich finden, ehe sie selber darauf aufmerksam werden. Also habe ich nicht viel Zeit. Je länger ich warte …«
»Ich gehe mit.«
Entgeistert starrte ich ihn an.
»Ich gehe mit«, wiederholte Rolf mit fester Stimme.
»Aber du … hast doch gesagt … Mutter …«
»Mutter wird’s überleben. Um dich mache ich mir mehr Sorgen als um sie. Das Ganze ist kein Ausflug, Julian, sondern brandgefährlich. Zu zweit haben wir bessere Chancen.«
»Aber du hast doch dein Leben hier.«
»Ich lass dich auf keinen Fall allein gehen.« Rolf lehnte sich zurück. »Seit gestern Abend habe ich nachgedacht. Über das, was du gesagt hast,