Grenzgänger. Aline Sax
FÜNF
Als es klingelte, schielte ich mit einem Auge zum Wecker. Sie waren viel zu früh dran – typisch für meinen Schwager Hermann. Wir wollten doch erst um elf zu unserer Datsche ein Stück außerhalb der Stadt aufbrechen.
Stöhnend drehte ich mich um und zog mir die Decke über den Kopf, hörte aber trotzdem die schnellen Schritte von Marthe und Florian im Flur.
»Tag, Oma!«, rief Marthe. »Ich hab heut Geburtstag!«
Als wüsste das nicht jeder in der Familie.
Heike und ich waren gestern mit Marthe im Zoologischen Garten gewesen, quasi als verfrühtes Geburtstagsgeschenk. Dort hatte die Kleine zu allen möglichen Leuten »Morgen werde ich sooooo viel Jahre« gesagt und dabei vier Finger hochgehalten.
Die Wohnungstür schlug zu. Meine ältere Schwester Gudrun sagte etwas. Was, konnte ich nicht verstehen, aber ihre Stimme klang aufgeregt. Und auch Hermann sprach ungewöhnlich laut. Was war da los?
Als ich ins Wohnzimmer kam, saß Vater vor dem Radio. Mutter, Gudrun und Hermann standen neben ihm, lauschten angestrengt und starrten den Apparat an, als könnten sie ihm dadurch mehr Informationen entlocken. Weil die Nachrichten schon fast zu Ende waren, begriff ich nicht, worum es ging.
Vater stellte den amerikanischen Sender RIAS ein.
»… Senat und Bevölkerung von Berlin erwarten, dass die Westmächte energische Schritte bei der sowjetischen Regierung unternehmen werden«, tönte die Stimme des Westberliner Bürgermeisters Willy Brandt.
»Was ist los?«, fragte ich, und erst jetzt bemerkten die anderen mich.
»Sie machen die Grenze dicht.«
»Die Grenze dicht? Warum das?«
Gudrun zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Jedenfalls heißt es im Radio, dass sie Stacheldraht spannen und keinen mehr durchlassen.«
»Für wie lange?«
»Wer weiß das schon? Für immer?«
Wie konnte das sein? Gestern noch hatten wir zweimal die Grenze passiert, um in den Zoo zu gehen. Dabei war uns nichts aufgefallen; alles war wie immer gewesen.
»Ich seh mir das an!«, rief ich, bereits im Flur, um die Schuhe anzuziehen.
»Sei vorsichtig«, mahnte Mutter. »Wenn die Russen …«
Aber ich hörte schon nicht mehr hin.
Draußen rannte ich los. Es waren jede Menge Leute auf der Straße. Nicht das übliche Sonntagmorgenvolk, wie mir auffiel, als ich Männer in Hemdsärmeln überholte und Frauen, die ihre Babys auf dem Arm trugen, statt sie im Kinderwagen zu schieben. Man sah, dass sie in aller Eile vom Frühstückstisch aufgebrochen waren. Und die Aufregung war regelrecht zu spüren. Wie von einem riesigen Magneten angezogen, strebten alle in dieselbe Richtung: zur Grenze.
Was Gudrun gesagt hatte, wollte ich erst glauben, wenn ich es mit eigenen Augen sah. Die Grenze dicht machen, womöglich auf ganzer Länge – das war doch ein Unding! Das konnten sie einfach nicht machen! Berlin war eine Stadt, wenn auch in Ost und West geteilt.
Die Leute vor mir – inzwischen wahre Massen – bogen ab, folgten dem lauten Gehämmer. Und dann blieben plötzlich alle stehen. Ich drängte mich nach vorn, so gut es ging.
Gudrun hatte recht.
Unmittelbar vor der Kreuzung mit der Bernauer Straße rammten Bauarbeiter Betonpfähle in den Boden. Hinter ihnen lagen große Stacheldrahtrollen, das Ganze bewacht von Volkspolizisten mit Maschinenpistolen. Mit starrem Blick standen sie da, als würden sie uns gar nicht wahrnehmen.
Ich war wie versteinert, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nur noch entgeistert hinschauen. Das Dröhnen der Presslufthämmer, mit denen die Straße aufgebrochen wurde, betäubte mich geradezu. Mir war, als sähe ich einen Film, nicht ein reales Geschehen.
Auch drüben, auf der Westberliner Seite, hatte sich eine Menschenmenge eingefunden. Die Leute standen ebenso regungslos da wie wir. Nur dass sie nicht von bewaffneten Polizisten in Schach gehalten wurden. Eine eisige Kälte befiel mich. Sie schlossen tatsächlich die Grenze, und zwar nicht nur für ein paar Stunden, wie das schon öfter der Fall gewesen war. Diesmal war es ernst, todernst.
Heike!, zuckte es mir durch den Kopf. Heike wollte doch mit uns zur Datsche! Meine Gedanken überschlugen sich. Wie spät war es? Wie lange waren die Bauarbeiter schon zugange? Hatte sie es noch geschafft, nach Ostberlin zu kommen? Vielleicht mit der U-Bahn? Gut möglich, dass die Bahnen noch fuhren … Ich musste schleunigst nach Hause, wahrscheinlich wartete sie dort auf mich. Kaum dass ich den Vopos den Rücken zukehrte, löste sich meine Starre, und das Blut pulsierte wieder. Ich rannte los, weg von der Grenze. Unterwegs hielt ich Ausschau nach Heike. Ich sah etliche blonde Mädchen, nicht aber sie.
Völlig außer Puste kam ich zu Hause an. Im Wohnzimmer saß mein Vater noch immer vor dem Radio. Florian und Marthe tobten herum. Mutter und Gudrun besprachen etwas, was nicht einfach war, weil die Kinder einen Höllenlärm machten.
Mein Kommen nahm keiner wahr.
»He! Hört mal zu!«, rief ich laut.
Erst da sahen sie mich.
»Ist Heike gekommen?«
Mutter schüttelte den Kopf. Ihre Miene wurde mitleidig, als ihr klar wurde, was das bedeutete.
»Ach, Julian …«, sagte sie leise.
Ich biss mir auf die Lippe. Vielleicht kam Heike ja noch. Bestimmt war sie auf dem Weg hierher.
»Onkel Julian, bist du fertig?« Florian zupfte mich am Ärmel.
»Wir wollen doch zur Datsche!«, ergänzte Marthe.
Ich ging nicht auf die beiden ein.
»Wir haben uns entschlossen, doch zu fahren«, sagte Gudrun leise. »Schon der Kinder wegen. Hier können wir ja nichts ausrichten.«
»Aber wenn Heike …«
»Ach, Julian …«, sagte meine Mutter wieder. »Die Grenze …«
»Ein bisschen warten können wir wohl noch!«, fiel ich ihr ins Wort.
Vater löste den Blick vom Radio. »Was habt ihr vor?«, fragte er wie geistesabwesend.
»Wir fahren zur Datsche«, sagte Gudrun. »Es hat keinen Sinn hierzubleiben. Wenn es zu Kämpfen kommt …«
Ich schüttelte entschieden den Kopf. Solange ich nicht wusste, was mit Heike war, konnte ich unmöglich mitgehen.
Franziska kam ins Zimmer, mit Sonnenbrille und einem grotesk großen Strohhut auf dem Kopf. »Gehen wir?«
»Heike ist noch nicht da!«, fuhr ich sie an.
»Die kann jetzt sowieso nicht mehr mit.« Sie reckte das Kinn in die Luft.
Gudrun legte mir die Hand auf den Arm. »Du verstehst doch, Julian, dass es sinnlos ist, hier herumzusitzen. Und wir wollen doch Marthes Geburtstag feiern. Die Kinder freuen sich so darauf.«
Ich nickte, ohne weiter hinzuhören. »Dann geht. Ich bleibe hier.«
Ich blieb mitten im Wohnzimmer stehen, und sie gingen an mir vorbei, ohne dass ich es so recht registrierte. Wie eine gestrandete Boje im ablaufenden Meerwasser kam ich mir vor.
»Aber mach keine Dummheiten«, sagte Mutter noch, bevor sie die Tür hinter sich zuzog.
Als ihre Schritte auf der Treppe verhallten, war es still in der Wohnung. Minutenlang stand ich da und lauschte auf die Türklingel. Aber da war nur ein Dröhnen in meinem Kopf, das Dröhnen der Presslufthämmer.
Ich schaute auf meine Armbanduhr. Heike hätte längst hier sein müssen. Vielleicht sollte ich noch einmal zur Grenze gehen. Womöglich stand sie inzwischen dort, auf der anderen Seite.
Es klopfte.
Ich