Grenzgänger. Aline Sax
ging – so wie ich war – hinüber.
In der Küche war es sehr hell, sodass ich unwillkürlich die Augen zukniff. Das laute Klappern von Tassen, Tellern und Besteck tat mir in den Ohren weh.
»Guten Morgen«, sagte eine muntere Stimme.
Ich öffnete die Augen.
Ein Mädchen mit langen blonden Locken stand am Herd und musterte mich mit amüsiertem Lächeln. Das Fenster war offen, und der hereinstreichende Wind ließ mich frösteln, sodass sich die Härchen an den Armen aufstellten. Dass ich, kaum bekleidet, vor einem wildfremden Mädchen stand, wurde mir erst jetzt bewusst. Aber es war zu spät, sich zu verstecken.
»Willst du dein Ei hart oder weich?«
»Weich«, murmelte ich automatisch. Meine Wangen glühten, obwohl sie mich nicht mehr ansah. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt.
»Wo ist Paula?«, fragte ich zögernd.
»Bei der Arbeit.«
An einem Sonntag? Was mochte Paula arbeiten?
Ich fragte aber nicht.
»Ich heiße Heike.«
»Julian«, sagte ich und hatte das Gefühl, meine Anwesenheit erklären, irgendetwas sagen zu müssen, das mich nicht wie einen x-beliebigen Fremden erscheinen ließ.
Auf dem Tisch standen Butter und zwei Marmeladengläser, lauter mir unbekannte Marken. Ich nahm sie nacheinander in die Hand und las verlegenheitshalber die Etiketten.
Heike stellte die Eier in die Eierbecher, setzte sich an den Tisch und forderte mich auf, ihr gegenüber Platz zu nehmen.
»Du bist von drüben, was?«
Verdutzt starrte ich sie an. Hatte sie das etwa an meiner Unterhose gesehen?
»Ja.«
Wieder lächelte sie.
»Paula hat eine Schwäche für Ostler.«
»Wie bitte?« Ich schaute womöglich noch verdutzter drein. Eine Schwäche für Ostler … etwa so, wie man eine Schwäche für streunende Katzen hat?
Meine Verwirrung schien Heike zu belustigen.
»Sie ist Kommunistin. Absolute Gleichheit. Keine Hierarchien, keine Armen und Reichen. Jeder arbeitet so, wie er kann, und bekommt, was er braucht. Das ist Paulas Credo.«
Ich bestrich eine Scheibe Brot dick mit Butter. Auf politische Diskussionen mit einer Westberlinerin, zumal an einem Sonntagmorgen, verspürte ich absolut keine Lust. Ich köpfte mein Ei, schnitt dann das Brot in Streifen und tunkte einen davon ins Eigelb.
Heike beobachtete mich, die Hände um eine große Tasse gelegt, die den Duft nach echtem Bohnenkaffee verbreitete.
»Ich wohne in Ostberlin, arbeite aber im Westen«, sagte ich mit vollem Mund. »Als Maurer bei Reitmann & Sohn. Mein Kollege Walter hatte gestern Geburtstag, und das haben wir im Chitchat gefeiert. Paula war auch dabei. Seid ihr Freundinnen?«
»Cousinen. In Ostberlin war ich noch nie.«
»Noch nie? Warum nicht? Man kann doch einfach rüber.«
»Ich weiß nicht recht. Es ist mir einfach nie in den Sinn gekommen. Außerdem wohne ich erst seit einem Jahr hier. Ich bin in einem Dorf in Süddeutschland aufgewachsen. Aber dort wollte ich weg. So bin ich hier gelandet, und Paula hat mir Unterschlupf gewährt.« Sie lachte. »Das Abenteuer Berlin, weißt du, die Stadt, in der immer was los ist.«
»Die Stadt, in der ein neuer Krieg ausbrechen wird, meinst du wohl?«
»Glaubst du das?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Denkst du, die Russen werden Westberlin einnehmen?«
»Die Alliierten haben jedenfalls klar gesagt, dass sie nicht abziehen, auch wenn die Stadt eigentlich im sowjetischen Sektor liegt.« Ich schob ein Stück Brot in den Mund. »Aber Politik interessiert mich nicht sonderlich«, sagte ich, ehe sie einen westlichen Einwand machen konnte.
»Wohnst du schon immer in Berlin?«
»Ja, nur im Krieg war ich eine Zeit lang bei einer Großtante auf dem Land. Aber da war ich noch so klein, dass ich mich kaum erinnere.«
»Ich mag die Stadt sehr«, sagte Heike. »Die vielen Autos. Die Leute, die den Ku’damm entlangflanieren, als gehörte ihnen die Welt. Die Schaufenster und die Leuchtreklamen. Die Mädchen, die mit den amerikanischen Soldaten flirten. Man hat den Eindruck, hier wäre jeder wichtig und würde fabelhafte Sachen erleben. Das Leben in Berlin ist wie ein schneller Wirbel. Ein bisschen wie im Film …« Verträumt blickte sie an mir vorbei.
Was für ein plattes Klischee! Ich nahm rasch einen Schluck Kaffee, damit sie meinen Gesichtsausdruck nicht bemerkte.
»Wahrscheinlich findest du es komisch, dass mir gerade das gefällt«, fuhr Heike fort, »wo du doch schon dein ganzes Leben hier wohnst.«
»Ganz und gar nicht. Du hast beschrieben, was auch alle Ostberliner an Westberlin gut finden.«
»Alle außer dir?«
Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Es hat so seinen Reiz. Aber wohnen wollte ich nicht in Westberlin, da würde ich schnell zu viel kriegen.«
»Darum ziehst du dich abends gern in deine anonyme Mietskaserne zurück?«
Ich starrte sie an.
»Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen. War nicht so gemeint.«
Ich starrte sie weiter an. Hatte sie nicht eben erwähnt, sie sei noch nie im Osten gewesen? Warum sagte sie dann so etwas?
»Tut mir leid«, wiederholte sie, diesmal leiser.
Wir aßen schweigend weiter. Heike traute sich offenbar nicht, ein neues Thema anzuschneiden, und ich hatte keine Lust, weiter über Ost und West zu reden.
Das Ei und der Kaffee hatten die aufkommende Übelkeit zurückgedrängt, aber mein Kopf fühlte sich immer noch an, als hätte ihn heute Nacht jemand mit Zement ausgegossen, der jetzt härtete.
Nach dem letzten Schluck stellte ich die Tasse ab und schaute auf meine Uhr. Fast elf.
»Ich muss los, meine Mutter macht sich bestimmt Sorgen, weil ich nicht nach Hause gekommen bin.«
»Du kannst gern noch duschen, wenn du willst«, sagte Heike. »Das wird dir guttun. Die letzte Tür im Flur. Warte, ich geb dir ein Handtuch.«
Sie hatte recht. Die warme Dusche entspannte mich und schien sogar den Zement in meinem Kopf aufzuweichen.
Ich trocknete mich ab und schlüpfte in die Kleider.
Heike hatte in der Zwischenzeit das Geschirr abgeräumt. Auf dem Tisch lag jetzt ein rechteckiges flaches Päckchen.
»Ich … äh … das ist für dich. Das heißt, für deine Mutter. Dann findet sie es vielleicht nicht so schlimm, dass du die ganze Nacht weg warst.« Ein leicht verlegenes Lächeln.
Ich griff danach. Es war eine Nylonstrumpfhose, original verpackt.
»Paula hat mal erwähnt, die Frauen im … äh … ich meine, dass man bei euch … nicht so leicht an solche Strumpfhosen kommt.« Das stimmte. Außerdem war Mutter ganz versessen auf Nylons aus dem Westen. Trotzdem zögerte ich. War mein Ostler-Stolz stärker als die Aussicht, meiner Mutter eine Freude zu machen?
»Danke, darüber wird sie sich freuen«, sagte ich dann und steckte das Päckchen ein. »Und danke auch fürs Frühstück und für die Dusche.«
Heike strahlte. »Gern geschehen.«
Auf dem Weg zur Grenze versuchte ich, mir Paulas Gesicht vorzustellen, was nicht gelang, weil sich immer wieder Heikes Bild davorschob. Völlig in Gedanken versunken, bemerkte ich erst nach einer Weile, dass es angefangen hatte zu regnen. Und auch Wolfgang Wichser sah ich erst, als es schon zu