Grenzgänger. Aline Sax
Besonders beim Rückeneincremen und als sie im Wasser die Arme um mich schlang.
Erst als ich Heike sah, verstand ich, warum.
Am späten Nachmittag – ich spielte gerade mit Walter, Max und Paula Karten – tauchte sie mit einem halben Ölfass und einer großen Tasche voller Essen auf.
»Jetzt wird gegrillt!«, rief Max. Er und Walter füllten Sand in das Fass, schichteten Reisig und Papier darauf und hielten ein Streichholz daran. Rasch noch einen Rost darüber, und kaum eine Viertelstunde später stieg mir der Duft gebratener Frikadellen in die Nase und erinnerte mich daran, dass ich, abgesehen von ein paar Keksen, seit dem Morgen nichts gegessen hatte.
Die letzten Schwimmer kamen aus dem Wasser, die Handtücher wurden im Kreis um das Grillfass gelegt, und Heike stellte Schüsseln mit Salat, Tomaten und Mais bereit – alles ohne mich auch nur ein einziges Mal anzusehen. Walter hatte inzwischen einen Eimer Bierflaschen besorgt.
Wir aßen, rissen Witze, lachten. Heike saß mir im Kreis gegenüber, und ich schaute durch die flirrende Hitze zu ihr hin. Plötzlich lächelte sie mich an, und ich wünschte mir nichts mehr, als neben ihr zu sitzen statt neben Paula.
Als alle satt waren, wurde der Ölfassgrill zum Lagerfeuer umfunktioniert. Es dämmerte bereits, war aber noch angenehm warm. Max nahm seine Gitarre zur Hand und spielte ein paar bekannte Titel von Chuck Berry und Elvis. Als er eine langsame Ballade intonierte, die einige mitsangen, schmiegte Paula sich an mich. Ich murmelte eine Entschuldigung und stand auf. Ihr penetrantes Gehabe ging mir auf die Nerven. Ich lief zum Ufer. Das Wasser war ebenso schwarz wie die Silhouetten der Bäume, die unser Strandstück säumten. Irgendwo auf dem See flog ein Wasservogel auf. Ich setzte mich in den Sand, und die Gitarrenklänge und Stimmen wurden zu einer Art Hintergrundrauschen. »Keine Lust mitzusingen?« Heike stand neben mir. Ich hatte sie überhaupt nicht kommen hören.
»Oder keine Lust auf Paula?«
»Oje, war das so deutlich?«, fragte ich halb schuldbewusst.
»Für mich schon, für sie eher nicht.« Sie lachte verhalten.
»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was letzte Sonnabendnacht passiert ist«, gab ich zu. »Aber es sieht ganz so aus, als würde Paula daraus irgendwelche Rechte ableiten.« Ich drückte mich bewusst vage aus, um Heike nicht vor den Kopf zu stoßen.
»Keine Bange, es ist nichts passiert. Das hat Paula mir erzählt.«
»Erzählt?«
»Frauen reden nun mal über solche Dinge.« Wieder lachte sie. »Paula hat die Tendenz, sich an Männer ranzuschmeißen. Mach dir nichts draus …« Sie setzte sich neben mich und legte ihre Hand, die mir noch viel wärmer vorkam als der Sand, auf meine. »Was hat deine Mutter zu der Strumpfhose gesagt?«
Ein paar Enten flogen über das Wasser.
»Sie war begeistert«, log ich. »Danke noch mal.« Verdammt. Ich hätte mich damals überzeugender bedanken sollen.
Hinter uns stimmte Max All I have to do is dream von den Everly Brothers an. Diesmal sang keiner mit, alle lauschten der Melodie. Heike rückte näher, legte den Kopf an meine Schulter und summte leise mit. Ich schlang meinen Arm um sie, und so saßen wir da, bis das Lied zu Ende war. Auch als Max ein schnelleres Stück zu spielen begann und die anderen wieder mitsangen, machte sie keine Anstalten aufzustehen. Nur der Zeigefinger ihrer rechten Hand bewegte sich – sie malte damit kleine Kreise auf meinen Schenkel. Ich erwiderte die Zärtlichkeit, indem ich mit dem Daumen über ihren Oberarm strich.
Und als sie mir das Gesicht zuwandte, küsste ich sie.
DREI
Die Erinnerung an den Sonntag am See trug mich durch die Woche. An Paula versuchte ich nicht mehr zu denken. Zugegeben: Es war feige von mir, ihr auszuweichen, aber letztlich war ich ihr keine Rechenschaft schuldig, war sie es doch, die sich aufdrängte. Und was für Gefühle hegte ich für Heike? Hatte ich mich von der romantischen Stimmung hinreißen lassen, oder war da mehr im Spiel?
Walter stieß mich an, als wir unsere Kellen sauber machten. »Ich glaube, du hast Besuch.« Er grinste.
Am Bauzaun stand Heike. In einer kurzen Hose und einer weißen Bluse.
Ziemlich unsicher ging ich auf sie zu. Wie sollte ich sie begrüßen? Mit einem einfachen »Hallo«? Oder mit einem Kuss?
Sie nahm mir die Entscheidung ab, indem sie mich umarmte und auf den Mund küsste. Ich spürte Walters Blick im Rücken.
»Na du?«, sagte sie munter. »Fertig mit der Arbeit?«
Ich sah mich um. Walter machte mir ein Zeichen, dass ich gehen konnte.
»Ja, gerade eben.«
»Fein, dann mal los. Im City läuft ein klasse Film.« Sie nahm meine Hand.
Ich wechselte im Bauwagen schnell die Kleider und ließ mich nur zu gern mitziehen. Das City war eines der Grenzkinos mit ermäßigtem Eintritt für Ostberliner. Dort liefen amerikanische Streifen, die in der DDR nicht gezeigt wurden, und europäische Filme waren im City viel früher zu sehen als bei uns. Vorab kamen immer die Nachrichten der Woche, aus westlicher Sicht, versteht sich.
Mein Stolz ließ es nicht zu, den Ostpreis zu zahlen; ich holte mein Westgeld aus der Tasche und kaufte zwei Karten. Wie der Film hieß und wovon er handelte, hatte ich schon am Abend, als ich über die Grenze ging, vergessen. In deutlicher Erinnerung dagegen blieb mir, dass Heikes Arm die ganze Zeit den meinen berührt hatte. Haut an Haut.
Heike gegenüber hatte ich keinerlei Gefühl des Fremdseins. Es war viel eher so, als würden wir uns seit Jahren kennen und wären uns ebenso lange vertraut. Sie holte mich öfter von der Arbeit ab, und dann aßen wir zusammen in der Stadt oder gingen mit Walter und der Clique in die Kneipe. Ost-West-Politik war kein Thema zwischen ihr und mir, stattdessen sprachen wir über Filme, Musik und unsere Zukunftspläne. Ich stellte fest, dass wir in vielem übereinstimmten.
Heike arbeitete als Stenotypistin in der Bestellabteilung eines großen Möbelhauses. Sie erzählte mir von der grässlichen Kollegin am Schreibtisch gegenüber und von ihrem Chef, der dauernd anzügliche Scherze machte. Wenn sie merkte, dass ihre Geschichten mich amüsierten, vergaß sie den Ärger und brach selbst in Lachen aus. Und wir überlegten uns Dutzende Arten, wie man es dem Abteilungsleiter heimzahlen könnte.
Paula hatte mittlerweile einen anderen an der Angel und dachte nicht mehr an mich. Wenn sie mit ihm unterwegs war, ging ich abends mit Heike nach Hause, die dann für uns beide kochte. Irgendwann kam die unvermeidliche Frage: »Wann nimmst du mich mal mit in den Osten?«
Bisher hatten wir uns immer im Westen getroffen, und mir fiel wieder ein, dass sie beim Kennenlernen gesagt hatte, sie sei noch nie in Ostberlin gewesen.
VIER
Als Walter sein Kofferradio ausschaltete, wusste ich, dass die Arbeit für heute beendet war. Statt noch ein paar Worte zu reden wie sonst, ging ich rasch in den Bauwagen und zog mich um. Ich hatte meine Levi’s und ein weißes Hemd mitgenommen. Heike sollte von einem schick gekleideten Julian abgeholt werden. Dass ich in dieser Aufmachung jenseits der Grenze auffallen würde, war mir egal. Ich schlüpfte in meine feuerroten Westschuhe und packte die Arbeitskleidung und meine Sicherheitsschuhe in die Tasche. Walter, der dabei war, ein paar Sachen wegzuräumen, rief ich einen Gruß zu und machte mich auf den Weg. Die Sonne schien, und ich pfiff einen Song von Elvis, der vorhin im Radio gelaufen war.
Heike erwartete mich bereits an der Wohnungstür. Sie trug einen weiten Rock und ein kurzes Jäckchen, hatte die Haare hochgesteckt und Lippenstift aufgetragen – wie um groß auszugehen. Ein klein wenig ähnelte sie der jungen Marilyn Monroe.
»Bist du bereit für einen Besuch im sozialistischen Paradies?«
Einen Moment lang meinte ich, Zweifel in ihrem Blick zu erkennen, dann aber lächelte