Grenzgänger. Aline Sax
ging ich wieder ins Wohnzimmer, und Rolf folgte mir. »Habt ihr es schon gehört?« Sein Gesicht war gerötet.
Ich nickte düster. »Die anderen sind zur Datsche gefahren.«
»Zur Datsche? Wo hier …« Rolf sah mich ungläubig an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Gudrun wollte nicht in der Stadt sein, wenn ein neuer Krieg ausbricht.«
Rolf setzte sich auf die Sofakante. »Glaubst du auch, dass es Krieg geben wird?«
Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Die Amerikaner werden nicht so einfach hinnehmen, dass Westberlin komplett abgeriegelt wird.«
»Die Russen sind darauf eingestellt«, meinte Rolf. »Ich hab auf dem Weg hierher ihre Lastwagen gesehen. Panzer nicht, aber sie behalten alles genauestens im Blick.«
Ich schluckte. Sollten sie wirklich wieder einen neuen Krieg anzetteln? So kurz nach dem letzten?
»Machen sie die Grenze denn auf der ganzen Länge dicht?«, fragte ich.
Jetzt war es an Rolf, mit den Schultern zu zucken. »Ich weiß nur, was ich im Radio gehört habe.« Er seufzte. »Die Partei will uns im Osten halten. Mit Stacheldraht …«
»Ich gehe zur Grenze«, sagte ich. Hier herumzusitzen und zu grübeln, ob es Krieg gab oder nicht, brachte uns nicht weiter. »Kommst du mit?«
»Nein, ich …«
Ich wartete Rolfs Antwort nicht ab. »Meine Freundin Heike wollte mit uns zur Datsche. Vielleicht ist sie gerade noch rübergekommen.«
»Wohl eher nicht. Aber wenn du auf Nummer sicher gehen willst, dann häng einen Zettel an die Tür.«
An diese Möglichkeit hatte ich überhaupt nicht gedacht.
Liebste Heike,
bin in der Stadt. Warte bitte hier auf mich.
Die anderen sind zur Datsche gefahren. Bin bald wieder da.
Gruß
J
Ich klebte den Zettel an die Wohnungstür. Dann ging ich zum zweiten Mal an diesem Tag die Treppe hinunter, holte mein Fahrrad aus dem Keller und fuhr in Richtung Westen. Wenn die Amerikaner etwas gegen die Grenzschließung unternehmen würden, dann bestimmt am Brandenburger Tor.
Vor acht Jahren war es zu einem Aufstand gekommen. Ein Bauarbeiterstreik hatte sich zu einer umfassenden Protestbewegung ausgeweitet. Die Russen hatten mit Panzern dagegengehalten. Und die Vopos hatten die Demonstranten unter Beschuss genommen. Ob es heute wieder so sein würde?
Ich trat kräftiger in die Pedale. Mir fiel auf, dass jetzt noch viel mehr Leute auf der Straße waren. Und auch mehr Polizei. Ein Lastwagen mit Soldaten überholte mich.
Am Pariser Platz angekommen, sah ich, dass von einem Aufstand nicht die Rede sein konnte. Ganz im Gegenteil: Es herrschte Grabesstille. Die Vopos bildeten mit gezückten Waffen eine undurchdringliche Reihe vor den Stacheldrahtrollen. Jenseits des Brandenburger Tors drängten sich jede Menge Westler und verfolgten das Geschehen mit unverhohlener Neugier. Auf sie waren keine Waffen gerichtet, nur ein paar Polizisten standen dort herum, mit den Händen in den Taschen. Auf unserer Seite waren inzwischen nicht nur Wasserwerfer, sondern auch Panzer aufgefahren worden. Eine überflüssige Maßnahme, wie es schien, denn keiner traute sich an die Grenze heran.
Wo blieben die Amis? Wo ihre Bulldozer, um den Stacheldrahtverhau platt zu walzen?
Die Hand am Fahrradlenker, ging ich an der Grenze entlang. Ein Stück weiter sah ich Leute aufgeregt miteinander reden. Ich steuerte auf sie zu, vielleicht wussten sie ja mehr.
Plötzlich kam Bewegung in die Menge der Westberliner auf der anderen Seite.
»Kommt rüber!« Ein paar von ihnen gestikulierten heftig, andere begannen, am Stacheldraht zu zerren. »Los, wir reißen den Zaun ein!« Und ehe ich mich’s versah, hatten auch schon drei Ostler die Barriere überwunden.
Sollte ich auch … in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Einfach das Rad hinwerfen und rüber … in den Westen, zu Heike? Alles zurücklassen? Ich hatte nichts bei mir, würde auch nicht Abschied nehmen können.
Aber da war die Gelegenheit schon vorbei. Die Grenzwächter hatten Verstärkung herbeigerufen und Bauarbeiter, die den Stacheldraht wieder richteten. Zwei Vopos postierten sich davor, die Waffe im Anschlag, um uns auf Abstand zu halten.
»Manfred!« Eine Frau neben mir rannte auf die Grenze zu. Ein Mann – ihr Liebster? – auf der anderen Seite setzte sich ebenfalls in Bewegung, wurde aber von Westberlinern zurückgehalten, die auf ihn einredeten, um ihn von der Rückkehr abzubringen.
»Manfred, ich komme auch!« Die Frau hatte den Stacheldraht erreicht und wollte darüberklettern, blieb aber mit der Jacke hängen. Sie wurde von den Vopos gepackt und, erbärmlich schluchzend, weggeschleift. Niemand unternahm etwas dagegen. Mir wurde innerlich eiskalt. Man hatte nicht nur mitten durch meine Stadt Stacheldraht gezogen, sondern auch mitten durch mein Leben. Schon jetzt hatte ich das Gefühl, mir die Hände daran aufgerissen zu haben. Benommen ging ich weiter.
Überall das gleiche Bild. Schweigende Menschen beiderseits der Grenze, die einander so ungläubig anstarrten, als wären sie gerade aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht. Vopos mit unbewegten Mienen. Und dazu der Lärm der Bautrupps.
Als ein britischer Jeep mit drei Soldaten auftauchte, hielten alle den Atem an. Aber sie fuhren nicht einmal bis an die Grenze heran, sondern sahen sich nur um, zuckten mit den Schultern und verschwanden wieder. Ihr Interesse an unserer Lage schien nicht sonderlich groß zu sein.
Widerstand leisteten einzig eine Handvoll westdeutsche Jungs um die siebzehn in schwarzen Lederjacken und mit Schmalztollen. Sie kamen auf ihren Mopeds angebraust, beschimpften die Vopos und warfen Steine auf eine Gruppe Männer mit Parteiabzeichen am Revers. Aber ehe die Situation eskalieren konnte, wurden sie von westdeutschen Polizisten zurückgedrängt: »Keine Provokationen!«
Ich wollte mich abwenden und gehen, brachte es aber nicht fertig. So wie Unfallzeugen eigentlich nicht sehen wollen, was passiert ist, sich aber auch nicht von dem schrecklichen Anblick losreißen können.
An der Kreuzung Friedrichstraße / Unter den Linden hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Neugierig ging ich hin. Mehrere junge Leute standen auf Obstkisten, einer von ihnen hatte ein Megafon am Mund: »Ist das unser Staat, der den Frieden wahren will? Frieden kann man nicht mit Panzern verteidigen! Alle Bürger haben das Recht auf Freiheit! Macht die Grenze wieder auf! Berlin ist eine Stadt!«
Zwei, drei Männer mit versteinerten Mienen versuchten, die Menge zu zerstreuen und Neuankömmlinge daran zu hindern, sich zu der Gruppe zu stellen. »Weitergehen, weitergehen!«, zischten sie.
Die Leute machten ängstliche Gesichter, wussten sie doch, dass die Männer von der Staatssicherheit waren, und mit denen wollte keiner Schwierigkeiten.
Ich ging, wie sie, weiter. Auch andernorts war der Widerstand eher verhalten und spielte sich hauptsächlich jenseits der Grenze ab. Vom Westen aus rief man Schimpfwörter und skandierte Parolen. Die Vopos ließen sich davon nicht beeindrucken, standen mit regungslosen Gesichtern und Maschinengewehren im Anschlag da. Sie behielten uns Ostler scharf im Auge und bedrohten alle, die der Grenze zu nahe kamen, mit der Waffe. Die Leute standen in kleinen Gruppen beisammen, machten besorgte Mienen, ereiferten sich flüsternd, unternahmen aber nichts – absolut nichts.
Und von den Alliierten kam die ganze Zeit über keine Reaktion. Sie ließen uns im Stich, ließen zu, dass die Partei uns einsperrte. Weil sie keinen neuerlichen Krieg riskieren wollten. Unsere Freiheit kümmerte sie einen Dreck.
Zu Hause angekommen, sah ich, dass der Zettel noch an der Tür hing. Ich riss ihn ab und zerknüllte ihn.
In der Wohnung war niemand.
Erst jetzt merkte ich, wie müde ich war. Ich setzte