Grenzgänger. Aline Sax

Grenzgänger - Aline Sax


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war er von den anderen oft gehänselt worden. Und Wolfgang Wichser wurde er genannt, weil ein Lehrer ihn angeblich auf dem Schulklo beim Wichsen ertappt hatte. Statt den Spitznamen zu ignorieren, drohte er, sein Vater würde uns die Hammelbeine lang ziehen. Dass nichts dergleichen passierte, trug ihm noch mehr Spott ein. Im siebten Schuljahr war seine Familie nach Dresden umgezogen. Jetzt aber war er Grenzpolizist in Berlin.

      »Papiere vorzeigen!«, blaffte er mich an, als würde ich die Vorschrift nicht kennen.

      Ich hatte mich damals nicht an den Hänseleien beteiligt, er aber scherte alle ehemaligen Schulkameraden über einen Kamm und sah nun eine gute Gelegenheit, seine Überlegenheit auszuspielen. Wolfgang hatte etwas von der opportunistischen Machtgier seines Vaters, der sich vom überzeugten Nazi nahtlos zum strammen Sozialisten gewandelt hatte.

      Ich gab ihm meinen Ausweis, in dem er unnötig lange herumblätterte.

      »Welcher Tag ist heute?«, fragte er ohne aufzublicken.

      »Sonntag«, gab ich zurück. Der Regen lief mir kalt in den Kragen. Wolfgang stand unter dem Dach seines Grenzerkabuffs und sah keinen Grund zur Eile.

      »Sonntag, aha! Und was hat ein Grenzgänger am Sonntag im kapitalistischen Westen verloren? Sind dir unsere Frauen nicht gut genug?«

      Mir blieb kurz die Sprache weg.

      »Komm schon, deine Sorte Profiteure kenn ich doch. Im Osten von den billigen Mieten, der sozialen Absicherung und den niedrigen Preisen profitieren, aber im Westen Geld scheffeln, den Kapitalisten markieren und die Ami-Weiber flachlegen.« Er spuckte vor mir aus.

      Zugegeben, ich verdiente im Westen wesentlich besser und der Wechselkurs war günstig, aber mich deshalb einen Profiteur zu nennen …

      Ich war versucht, ihn am Uniformkragen zu packen und zu schreien, es gehe ihnen einen feuchten Kehricht an, wo ich mein Geld verdiente und ausgab. Aber ich tat es nicht. Schließlich war er im Dienst, und ich wollte keine Scherereien. Grenzgänger wie ich waren im Osten ohnehin nicht sonderlich beliebt. Die Leute hielten uns für Verräter am Staat – einem Staat, für den sie selbst kein gutes Wort übrighatten. Und wenn sich eine Chance ergäbe, würden sie es nicht anders machen als ich.

      »Was ist in der Tasche?«

      »Drei Millionen Dollar in kleinen Scheinen.«

      Er riss mir die Tasche weg und zog den Reißverschluss auf.

      Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und blinzelte, weil mir das Wasser von den Brauen in die Augen rann.

      Wolfgang kramte in meinen Sachen herum, nahm etwas heraus und ließ unvermittelt die Tasche fallen. Sie landete in einer Pfütze. Ich bemühte mich, den Ärger hinunterzuschlucken.

      Er hielt mir die Strumpfhose hin. »Und was ist das? Westprodukte schmuggeln, was? Weißt du, welche Strafe darauf steht?« Er beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht kaum fünf Zentimeter vor meinem war.

      Ich wich zurück und bückte mich nach der Tasche, die an der Unterseite klatschnass war. Mit einem wütenden Ruck zog ich den Reißverschluss zu und biss die Zähne zusammen.

      »Das muss ich beschlagnahmen.« Er wollte die Strumpfhose einstecken, was nicht so recht gelang, weil er in der anderen Hand immer noch meinen Ausweis hielt. »Und Meldung erstatten, versteht sich.«

      »Das lässt du schön bleiben. Sonst kannst du die Strumpfhose nämlich nicht selber behalten!« Ich riss ihm meinen Ausweis weg und ging weiter.

      »Und ob ich das melde!«, schrie er mir nach. »Darauf kannst du Gift nehmen, Niemöller!« Seine Stimme überschlug sich.

      Ich zwang mich, nicht zu rennen. Er wird mich schon nicht verfolgen, dachte ich und bog in die nächste Seitenstraße ein. Dort trat ich mit Wucht gegen eine Mülltonne, die umfiel und aufs Pflaster krachte. Am liebsten hätte ich kehrtgemacht und das Arschloch in seiner adretten Uniform in den nassen Straßendreck gestoßen. Was fiel ihm ein, mir Schmuggel zu unterstellen? Das war doch reine Schikane. Beim nächsten Mal, nahm ich mir vor, lasse ich mir so etwas nicht mehr gefallen. Und dann rannte ich doch los, rannte mir den ganzen Ärger aus dem Leib … auch darüber, dass er meine Erinnerung an Heike getrübt hatte.

       ZWEI

      Die ganze Woche ging mir Heike nicht aus dem Sinn. Als Walter fragte, ob ich am Sonntag mit zum Wannsee wolle, und augenzwinkernd meinte, Paula sei auch mit von der Partie, traute ich mich nicht zu fragen, ob Heike ebenfalls dabei wäre.

      Das Knattern von Walters Moped weckte vermutlich die ganze Nachbarschaft auf und entlockte meinem Vater ein unwilliges Knurren. Rasch packte ich mein Handtuch ein, verabschiedete mich und ging nach unten.

      Walter sah in seiner kurzen weißen Hose, den weißen Turnschuhen und dem gestreiften Hemd wie ein Hollywoodstar aus.

      »Morgen!«, rief er mir munter zu.

      Ich schwang mich auf den Sozius. Es war herrliches Wetter, und die Fahrt zum Wannsee – gut fünfundzwanzig Kilometer durch ganz Westberlin – würde ein Genuss.

      Die Grenzer musterten uns abfällig – wir machten wohl den Eindruck von dekadenten Amerikanern –, ließen uns aber ohne Probleme passieren.

      Wir sausten an geschlossenen Geschäften und schlafenden Wohnhäusern vorbei, während die Sonne hinter uns höher stieg. Dass es wegen des Mopedlärms unmöglich war, sich zu unterhalten, störte mich nicht. Ich schloss die Augen und spürte den Fahrtwind in den Haaren. Irgendwann würde ich mir auch so ein Ding zulegen … wenn ich eine eigene Wohnung zugewiesen bekam, wie mein älterer Bruder Rolf. Solange ich noch zu Hause wohnte, würde mein Vater es nicht erlauben. Weil er es für unnütz hielt: Ich hätte doch ein Fahrrad, meinte er immer, das reiche ja wohl.

      Wir waren nicht die Einzigen, die den Sonntag am Wannsee verbringen wollten. Von der Bushaltestelle aus strebten Dutzende mit Picknickkörben, Klappstühlen, Wasserbällen und Luftmatratzen dem Strandbad zu, das für ganz Berlin ein Anziehungspunkt war. Wir jedoch fuhren vorbei, denn nicht nur mir graute vor den Menschenmassen – Walter und den anderen zum Glück auch. Von unserem Stammplatz, einem Stück Strand hinter den Bäumen, schien sonst niemand zu wissen.

      Walter stellte das Moped ab. Heini, Ernst, Charlotte, Max und zwei Mädchen, die ich nicht kannte, waren bereits da. Sie hatten ihre Taschen auf einen Haufen geworfen, und die Mädchen zogen sich gerade um. Walter hatte mich zwar in seine Clique eingeführt, aber im Grunde war ich nur dann dabei, wenn er mich einlud. Andere Freunde als ihn und seine Leute hatte ich nicht. Die Schulkameraden von früher meldeten sich nicht mehr, seit ich im Westen arbeitete. Was mich wenig kümmerte, denn in Walters Clique fühlte ich mich wohl, weil keiner mich schief ansah.

      Während er unsere Sachen vom Moped nahm, stießen noch drei weitere Mädchen zur Gruppe. Alle in kurzen Hosen und mit großen Sonnenbrillen und Strohhüten, sodass sie wie Drillinge wirkten.

      Ich breitete mein Handtuch aus, und als ich mein Hemd aufknöpfte, stand plötzlich eines der Drillingsmädchen vor mir.

      »He, warum hast du mich nicht angerufen?«, sagte sie, machte einen Schmollmund und ließ ihre Finger über meine Brust wandern.

      Paula. Es war Paula …

      »Wir haben zu Hause kein Telefon.«

      Mit schief gelegtem Kopf sah sie mich an. Haben die im Osten wirklich kein Telefon?, sah ich sie denken.

      Sie beschloss, die Entschuldigung gelten zu lassen. »Ich freu mich jedenfalls, dass du da bist!«

      Sie holte ihr Handtuch hervor und legte es neben meines in den Sand.

      Noch immer konnte ich mich nicht erinnern, was letzte Sonnabendnacht gewesen war. Nichts, vermutete ich, aber Paulas Verhalten nach zu urteilen, wohl doch etwas …

      Den ganzen Tag über tat sie, als wären wir ein Pärchen. Wir schwammen, spielten Fußball, sonnten uns … und Paula wich nie von meiner Seite und hatte ständig irgendwelche Anliegen. Ich sollte ihr den


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