Grenzgänger. Aline Sax

Grenzgänger - Aline Sax


Скачать книгу
hab drüben meine Arbeit. Paula. Meinen Freundeskreis. Das kann ich doch nicht alles aufgeben …«

      Sie schwieg abrupt.

      Hatte mich einer gefragt, ob ich – umgekehrt – alles aufgeben wollte?

      »Ich kann dich jederzeit besuchen. So wie jetzt.«

      »Das reicht mir nicht. Ich will immer mit dir zusammen sein.«

      »Demnächst hast du wieder Arbeit, dann bist du den Tag über beschäftigt. Und abends bin ich da.«

      »Ich will dich aber nicht nur abends. Ich will dich die ganze Nacht.«

      Sie legte den Kopf an meine Schulter und schwieg.

      Ich hätte das nicht sagen sollen. Mir war, als würde eine große Uhr überlaut ticken. Um mir klarzumachen, wie kurz bemessen unsere Zeit war. Bald musste Heike wieder über die Grenze. Es war ein wenig wie im Märchen von Aschenputtel: Jedes Mal Schlag Mitternacht war der Zauber gebrochen.

      Um halb zwölf suchte sie ihre Kleider zusammen. Auch ich zog mich an, schloss das Fenster und stellte das Geschirr in die Spüle. Leise gingen wir die Treppe hinunter.

      »Ich komme morgen wieder her. Versprochen.« Heike gab mir einen letzten Kuss.

      »Denkst du noch mal drüber nach?«

      »Ich mag dich sehr, Julian«, umging sie die Antwort.

      Ich sah ihr nach, bis sie um die Straßenecke bog, und machte mich dann auf den Nachhauseweg.

      Am nächsten Tag kam Heike nicht. Weder um sechs Uhr noch um sieben.

      Den ganzen Abend wartete ich in der fremden Wohnung auf sie. Und grübelte. Hatte ich sie mit meinem Anliegen überrumpelt? Oder war ihr womöglich etwas zugestoßen?

      Ich ging so schnell im Wohnzimmer auf und ab wie die Gedanken durch meinen Kopf rasten. Mehrmals stieg ich die Treppe hinab, hielt vor der Haustür Ausschau, ging sogar bis zur Straßenecke. Schließlich legte ich mich hin. Das Bettzeug roch noch nach ihr. Dennoch schnürte die Angst mir fast die Luft ab. Ich wollte Heike um keinen Preis verlieren.

      Es wurde Mitternacht, ohne dass sie auftauchte. Todmüde schleppte ich mich nach Hause.

      Als ich sie am nächsten Morgen von einer Zelle aus anrufen wollte, fiel mir ein, dass die Telefonverbindungen mit dem Westen gekappt worden waren.

      Und kurz darauf hörte ich, was passiert war: Die Grenze war endgültig dicht. Nach beiden Seiten hin. Auch die Westberliner durften jetzt nicht mehr herüber.

       NEUN

      Berlin wurde von einer Hitzewelle heimgesucht. An den folgenden Tagen war es bis zu dreißig Grad warm. Das öffentliche Leben stagnierte. Die Leute stellten abends Stühle auf den Bürgersteig und blieben bis spät in die Nacht dort sitzen, in der vergeblichen Hoffnung, dass es abkühlte. Alte Frauen fächelten sich mit gefaltetem Zeitungspapier Luft zu, Kinder sprangen in Unterwäsche auf der Straße herum und spielten mit wassergefüllten Luftballons. Die Eisverkäufer machten schon am Vormittag das Geschäft ihres Lebens. Im Volkspark Friedrichshain war kaum mehr ein Quadratmeter Rasen frei. Die Hitze drang in die Mauern und weichte den Asphalt auf.

      Ich dachte an die Grenzsoldaten, die in ihren Uniformen ausharren mussten, auch wenn ihnen der Schweiß unterm Helm hervorlief. Aber Pflicht war nun einmal Pflicht.

      Ich selbst blieb zu Hause. Kam so gut wie nicht mehr aus meinem Zimmer. Die Sonne, die Fröhlichkeit und das Lärmen der Kinder waren mir zuwider. Die meiste Zeit lag ich auf dem Bett. Zu meiner Mutter hatte ich gesagt, ich fühlte mich nicht wohl. Die Luft in meinem Zimmer war schwer und stickig, aber ich konnte mich nicht aufraffen, das Fenster zu öffnen. Hatte vielmehr den Vorhang zugezogen, um mich ganz gegen die Außenwelt abzuschotten.

      Ich hatte genug. Genug von der Stadt, in der ich wohnte. Genug von dem Land, in dem ich lebte. Genug von dem System, das mein Leben diktierte. Mich darüber aufzuregen, fand ich aber nicht die Kraft. Ich lag einfach nur da und suhlte mich in meinem Leid. Ließ sämtliche Erinnerungen an Heike Revue passieren, wieder und wieder, auch wenn es mir dadurch nur noch schlechter ging und das Gefühl der Leere sich ins Unermessliche steigerte.

      Nur zum Essen stand ich auf. Zu trinken brachte Mutter mir ans Bett. Sie verlor kein Wort über meinen desolaten Zustand, obwohl sie den Grund dafür kannte. Durch die dünnen Wände hörte ich Vater herumschimpfen. Ich sei ein Drückeberger und solle zusehen, dass ich endlich wieder Arbeit fände. Aber Mutter sorgte dafür, dass er mich in Ruhe ließ, und sie erzählte ihm auch nichts von meinem Kummer.

      Als es endlich etwas kühler wurde, fühlte ich mich wieder lebendiger, und Wut stieg in mir auf. Ich würde mich nicht unterkriegen lassen. Ich würde um Heike und um unser Glück kämpfen! Mit diesem festen Vorsatz verließ ich mein Zimmer.

       ZEHN

      Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete ich die Treppe hinauf. Ich hatte mich nicht angekündigt und hoffte darum, Rolf wäre zu Hause. Er teilte eine Neubauwohnung mit zwei Freunden, Alexander und Volker. Sie war nicht groß, hatte aber eine eigene Toilette und Zentralheizung. Ich besuchte meinen Bruder oft. Immer wenn ich es zu Hause nicht mehr aushielt, weil Vater schlechte Laune hatte oder Franziska mir auf die Nerven ging, suchte ich bei ihm »Asyl«.

      Ich klopfte. Es dauerte ein wenig, dann hörte ich Schritte, und die Tür ging auf.

      Rolf stand vor mir, in Unterhose, Hemd und Socken.

      »Komm rein.«

      Ich folgte ihm in sein Zimmer.

      Rolf fragte nie nach dem Grund meines Kommens. War ich aufgebracht, dann ließ er mich schimpfen und wettern, wollte ich hingegen nichts sagen, schwieg auch er.

      Er setzte sich an den kleinen Tisch am Fenster, und ich nahm, wie üblich, auf seinem Bett Platz.

      Rolf griff nach der Hose, die auf dem Tisch lag, und machte sich daran, einen Knopf anzunähen.

      »Ich will von hier fort«, fiel ich mit der Tür ins Haus.

      Mit der Nadel zwischen den Lippen sah er mich an. »Warum das? Du bist doch gerade erst gekommen«, nuschelte er.

      »Mit ›hier‹ meine ich Ostberlin. Ich will in den Westen.«

      Der Gedanke war mir schon an dem Tag gekommen, als sie mit dem Mauerbau anfingen. Erst hatte er nur im Hinterkopf herumgespukt, aber seit Heike nicht mehr über die Grenze durfte, beschäftigte er mich fortwährend.

      Langsam hob Rolf die Hand, nahm die Nadel aus dem Mund und legte sie ebenso langsam auf den Tisch.

      »In den Westen willst du? Und das fällt dir erst jetzt ein, nachdem sie die Grenze zugemacht haben und keiner mehr rüberkann? Warum nicht vor dem 13. August, als du noch die Hälfte deiner Zeit in Westberlin verbracht hast?«

      Ich ignorierte den sarkastischen Tonfall.

      »Dieses Land erstickt mich.«

      Er legte die Hose wieder weg und sah mich eine Weile schweigend an.

      »Ich will bei Heike sein. Und ich will frei sein.« Schon im nächsten Moment kamen mir meine Worte banal vor. Wie sollte ich Rolf deutlich machen, was für eine Leere in meinem Innern herrschte?

      »Alles, was mir wichtig ist, ist drüben«, ergänzte ich. »Meine Freundin, meine Kollegen, meine Arbeit …«

      »Aber hier hast du deine Familie.«

      Ich seufzte. »Ich weiß …« Als hätte ich mir das nicht überlegt. Jeder Entschluss für etwas ist auch ein Entschluss gegen etwas.

      Rolf zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück.

      »Du weißt aber schon, wie gefährlich das ist, oder? Letzte Woche ist ein Mann erschossen worden, der durch den Teltowkanal schwimmen wollte. Erschossen,


Скачать книгу