Grenzgänger. Aline Sax

Grenzgänger - Aline Sax


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hatte.

      Schließlich stand ich auf und begann schon auf dem Flur, mich auszuziehen. Es war noch hell draußen, darum zog ich den Vorhang zu und legte mich dann in Unterwäsche aufs Bett.

      Als meine Eltern und Franziska wiederkamen, schlief ich längst.

       SECHS

      Durch die Wohnung zog Kaffeeduft, als ich am Morgen aufwachte. Statt noch eine Weile liegen zu bleiben, um die gestrigen Ereignisse zu überdenken, stand ich sofort auf.

      Im Wohnzimmer saß Vater am Esstisch, vor sich eine Tasse Kaffee und eine Scheibe Schwarzbrot mit Butter und Marmelade. Und in der Hand die Zeitung, von der er bei meinem Eintreten nicht aufblickte.

      »Morgen.« Ich setzte mich an meinen Platz.

      Er brummte etwas vor sich hin.

      Mutter kam mit der Kaffeekanne herein.

      »Wie war’s in der Datsche?«, fragte ich.

      »Herrlich. Marthe und Florian hatten viel Spaß. Und wir sind im See geschwommen. Die Bundmanns waren übrigens auch da.« Sie wirkte munter und aufgeräumt, ganz so als wäre überhaupt nichts passiert.

      »Liegt Franziska immer noch im Bett?« Vater schlug mit einem ärgerlichen Laut die Zeitung zu. »Schlafen und faulenzen, mehr macht die zurzeit nicht.«

      »Das Mädchen hat Ferien«, versuchte meine Mutter zu beschwichtigen, aber vergeblich.

      »Als ich jung war, konnten wir nicht bis acht im Bett rumlungern. Da hieß es raus und arbeiten! Vor allem im Sommer, die Ernte musste rein und die Kartoffeln …«

      »Franz, sie fährt bald weg, gönn ihr doch einfach die paar Tage zum Ausruhen«, unterbrach Mutter ihn.

      Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass Franziska am Wochenende mit der FDJ zum Ernteeinsatz fahren würde. Im Sommer half die sozialistische Jugend bei der Ernte, das fördere den Zusammenhalt von Stadt und Land, fand die Partei.

      »Wird Zeit, dass sie lernt, was Arbeiten heißt«, knurrte Vater. »Bisher hat sie mir nur auf der Tasche gelegen, und womöglich macht sie schon irgendwelchen Burschen schöne Augen …«

      »Julian, du bist gestern so früh schlafen gegangen. Hast du dich nicht wohlgefühlt?«, fragte Mutter.

      »Ich war nur müde.«

      »Was wird jetzt mit deiner Stelle, Junge?«, hakte Vater ein, nachdem das Thema Arbeiten nun einmal auf dem Tisch war.

      »Vielleicht lassen sie mich ja weiter über die Grenze.«

      Aber das glaubte ich selbst nicht. Die gezückten Waffen, der Stacheldraht und die Betonpfähle hatten eine deutliche Sprache gesprochen. Die Grenze würde so schnell nicht wieder geöffnet werden.

      Dennoch zog es mich dorthin. Als Vater zur Arbeit gegangen war, wusch ich mich und machte mich dann per Rad in Richtung Westen auf.

      Die Aufregung vom Vortag hatte sich gelegt. Ich sah Leute, die zur Arbeit gingen oder fuhren, die vor Läden Schlange standen. Und eine Gruppe Jugendliche in FDJ-Uniform marschierte singend vorbei.

      Man ließ mich nicht in den Westen. Auch nicht, als ich erklärte, ich würde dort an meiner Arbeitsstelle erwartet und bestimmt entlassen, wenn ich nicht auftauchte. Auch nicht, als ich wütend wurde und die Grenzwächter lauthals beschimpfte. Erst als sie ihre Waffen gegen mich richteten, gab ich auf. Die Grenze war zu – daran war nichts zu ändern.

      Ich schwang mich auf mein Rad und fuhr davon.

      Von einem Tag auf den anderen hatte ich Heike, meine Freunde und meine Arbeit verloren.

      Wohin jetzt? Und was tun?

      Die Zeit dehnte sich wie eine dunkle Öde vor mir aus. Ziellos fuhr ich durch die Straßen. Alles kam mir fremd vor, so als wohnte ich nicht hier, als gehörte ich nicht hierher.

      »Julian!«

      Erst war ich mir unsicher, ob ich mir die Stimme nicht nur eingebildet hatte.

      »Julian!«

      Ich drehte mich um – und sah sie! Es war keine Täuschung, keine Fata Morgana, keine Halluzination.

      Da stand Heike.

      Sie war hier.

      Auf meiner Seite der Grenze.

      Sie rannte auf mich zu und warf sich in meine Arme. Ich hielt sie fest umklammert und küsste ihr Haar, ihre Wangen, ihren Mund. »Die Grenze ist doch … bist du’s wirklich?«

      »Ich bin kein Traum!« Sie lachte.

      »Ich hab gestern stundenlang auf dich gewartet. Wie bist du …« »Ein paar Grenzübergänge sind noch offen«, sagte sie. »Westberliner dürfen weiterhin nach Ostberlin. Das heißt, man braucht eine Erlaubnis. Die kriegt man eigentlich nur, um Verwandte zu besuchen. Aber ich hab einfach behauptet, wir beide wären verlobt.«

      Sie hielt mir die linke Hand hin, an der ein breiter goldener Ring glänzte.

      »Der hat meiner Oma gehört.«

      Wieder küsste ich sie. Sie war es wirklich. Und sie war hier.

      Das Leben konnte weitergehen.

      Mit einem Mal hatte die dunkle Öde sich in eine strahlende, von der Sonne beschienene Weite verwandelt.

       SIEBEN

      Der Stacheldraht wich einer Mauer. Bauarbeiter mauerten unter Aufsicht von Grenzsoldaten Hohlblocksteine auf, die uns Stück um Stück die Aussicht auf den Berliner Westen nahmen. Drüben standen Filmleute und jede Menge Neugierige dicht bei der Grenze. Wir Ostler hingegen wurden zurückgetrieben, wenn wir den Absperrungen zu nahe kamen. Hüben wie drüben hielten die Leute Ferngläser vor die Augen, wie um ein paar letzte Blicke auf den Teil Berlins zu erhaschen, der bis vor Kurzem noch problemlos zu erreichen gewesen war.

      Im Westen waren große Plakate aufgestellt worden, auf denen unser System angeprangert wurde. Die DDR hielt mit flotter Musik und marxistischen Parolen dagegen. Es dauerte nicht lange, und auf der Westseite tauchten Wagen mit Lautsprechern auf dem Dach auf.

      Mir platzte fast der Kopf.

      Ich wandte mich ab und beschloss, nicht weiter an der Grenze herumzulungern, sondern mir zu überlegen, wie mein Leben nun weitergehen sollte.

      Dass ich nicht mehr bei Reitmann & Sohn würde arbeiten können, stand fest. Aber Heike konnte ich weiterhin sehen. Jeden Abend erwartete ich sie am Grenzübergang. Im Grunde war es nicht anders als vorher, nur dass sie nun in den Osten kam statt ich in den Westen. Kino und schick essen gehen war nicht mehr drin, aber immerhin waren wir zusammen. Oft saßen wir den ganzen Abend in einer düsteren Kneipe, schmusten und redeten. Wenn der Wirt zumachte, musste Heike zurück in den Westen. Aber ich wusste, dass sie tags darauf wiederkommen würde.

      Jeden Morgen zog ich guten Muts in meinem Anzug los – meinem einzigen wohlgemerkt, aber aus einem Geschäft am Ku’damm – und stellte mich bei Baufirmen vor. Ich wurde von schnippischen Sekretärinnen empfangen und wartete geduldig auf unbequemen Stühlen, bis man mich zu jemandem vorließ, der über Einstellungen zu entscheiden hatte. Manchmal musste ich einen langen Fragebogen ausfüllen, was ich gehorsam und gewissenhaft tat. Dann verschwand die Sekretärin mit dem Papier und tauchte nach wenigen Minuten wieder auf, um mir mitzuteilen, derzeit bräuchten sie niemanden. Oder meine Erfahrung würde ihren Anforderungen nicht genügen.

      Ich bin gelernter Maurer! Mit sechs Jahren Berufserfahrung! Damit genüge ich jeder Anforderung!, hätte ich am liebsten gerufen, aber stattdessen bedankte ich mich artig für die Mühe und ging wieder.

      Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, warum keiner mich haben wollte.

      Weil ich Grenzgänger gewesen war.

      Daraufhin


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