Grenzgänger. Aline Sax

Grenzgänger - Aline Sax


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      »Wir haben sie abgehängt«, wiederholte Rolf. Er packte meine Schultern und rüttelte mich durch.

      Ich starrte ihn an, ohne ihn zu sehen. Mein Herz hämmerte so wild, dass es in der Brust wehtat.

      »Rolf! Die haben geschossen!« Ich konnte es einfach nicht fassen. »Die haben wirklich geschossen!«

      Ob sie den letzten Mann getroffen hatten? Das dumpfe Knallen hallte noch in meinen Ohren. Da unten prallten die Kugeln vermutlich an der Wand ab. Selbst wenn er gleich losgelaufen war, hatte ihn eventuell ein Querschläger erwischt. War es feige von uns gewesen, einfach davonzurennen? Und wo steckte Veronika? War sie uns gefolgt? Oder woandershin gelaufen? Fragen über Fragen …

      »Komm, wir müssen weiter.« Rolf zog mich mit.

      Ich versuchte, meine Schritte seinem Rhythmus anzupassen, um mich zu sammeln und um die Bilder im Kopf loszuwerden.

      Wir gingen die Schönhauser Allee entlang, unter der Eisenbahnbrücke der U-Bahn durch und weiter. In Richtung Süden, knappe fünfhundert Meter von der Grenze entfernt. Nein, jetzt nicht an die Grenze denken! Als wir unter der Brücke durchgingen, fühlte ich mich ein wenig geschützter. Dabei war uns die ganze Zeit kein Mensch begegnet, auch kein Auto oder Moped.

      Die Laternen warfen fahle Lichtkreise auf den Bürgersteig. An den Geschäften auf der anderen Straßenseite waren die Läden heruntergelassen. Hinter keinem Fenster in den Wohngeschossen brannte Licht.

      Bis zu Rolf war es noch ein Stück Weg. Schweigend gingen wir nebeneinander her, immer weiter weg von der Grenze. Und ganz langsam beruhigte sich mein Herzschlag.

      Möglichst leise schloss Rolf die Wohnungstür auf, und wir gingen sofort in sein Zimmer. Er knipste die Nachttischlampe an, und ich ließ mich auf sein Bett fallen. Das Zimmer wirkte ungewöhnlich aufgeräumt.

      Rolf bemerkte meinen Blick.

      »Ich hab alle persönlichen Dinge weggeworfen«, sagte er heiser. »Damit der Stasi möglichst wenig in die Hände fällt.«

      Ich konnte immer noch nicht fassen, was passiert war: Die Soldaten hatten geschossen! Es stimmte also, dass man auf Republikflüchtlinge schoss. Im Westradio hatte ich es gehört und Berichte darüber gelesen, und der eine oder andere hatte davon gesprochen. Aber so richtig geglaubt hatte ich es bisher trotzdem nicht. Nun aber wusste ich es aus eigener Erfahrung: Sie schossen auf unbewaffnete Menschen, die nichts verbrochen hatten.

      Rolf ging in die Küche hinüber. Ich warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch. Viertel nach zwei. Mit einem Mal fühlte ich mich unendlich müde. Die Anspannung der letzten Stunden hatte alle Energie aus mir herausgesaugt. Und immer noch hörte ich die Schüsse, weit weg und gedämpft, wie durch einen Wattepfropf im Ohr.

      Dann kam Rolf wieder ins Zimmer, eine Flasche Wodka und zwei kleine Gläser in den Händen. Er schenkte ein. Etwas sagte mir, ich sollte jetzt besser keinen Alkohol trinken, aber mit einem tüchtigen Schluck brachte ich die innere Stimme zum Verstummen.

      Rolf setzte sich mit seinem Glas neben mich aufs Bett.

      Ich wollte etwas sagen, aber mir schien jedes Wort überflüssig.

      Ob ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht richtig wach war, als das Morgenlicht durchs Fenster fiel und ich die leere Wodkaflasche auf dem Tisch sah. Ich war auch nicht richtig wach, als ich aus der Küche Geräusche hörte und es nach Kaffee roch. Richtig wach wurde ich erst, als Rolf sagte: »Musst du heute nicht deine neue Stelle antreten?«

      Da sprang ich auf und stürzte in der Küche eine Tasse von dem Kaffee hinunter, den Alex aufgebrüht hatte.

      Draußen schwang ich mich auf Rolfs Fahrrad und raste nach Hause, um meine Arbeitskleidung zu holen.

      Verfluchter Mist! Der Tag hätte für mich nicht hier beginnen dürfen. Nicht auf dieser Seite der Mauer.

      Das ganze Ausmaß der Misere begriff ich erst an der letzten Straßenecke vor unserem Haus. Denn dort ging mir schlagartig auf, dass die Stasi von unserem Fluchtversuch gewusst haben musste. Ich bremste abrupt.

      Jemand hatte den Plan verraten! Doch wohl nicht Veronika? Wohin war sie überhaupt gelaufen? Hatten die Soldaten sie womöglich erwischt? Sie kannte meinen Namen und …

      Ich spähte die Straße entlang, hielt Ausschau nach einem wartenden Auto, nach Männern vor unserer Haustür, die mich abpassen wollten.

      Nichts dergleichen zu sehen.

      Vielleicht waren sie oben in der Wohnung? Angestrengt blickte ich zu unseren Fenstern, ob da jemand hinter der Gardine stand. Der Gedanke, dass ich meine Eltern in Gefahr gebracht hatte, schnürte mir die Kehle zu. Aber mir blieb keine Wahl: Ich musste ins Haus.

      Ich traf Mutter allein an. Vater war schon zur Arbeit gegangen und Franziska in die Schule. Alles war wie immer.

      »Julian, du? Ich dachte, du hast heute deinen ersten Arbeitstag?«, sagte Mutter verwundert.

      »Hab meine Arbeitskluft vergessen«, murmelte ich, ihrem Blick ausweichend, und hastete in mein Zimmer, um die Sachen zu holen.

      Mutter wandte sich wieder ihrer Bügelwäsche zu. Gott sei Dank ahnte sie nicht, was in der Nacht passiert war. Besser gesagt, was nicht passiert war.

      Ich verabschiedete mich mit einem Kuss, rief »Bis heute Abend!« und rannte die Treppe hinunter.

      Wo die Baustelle war, auf der ich mich vor einer Stunde hätte melden sollen, wusste ich zum Glück auswendig.

       NEUNZEHN

      Die nächsten Tage vergingen, ohne dass jemand von der Stasi bei uns zu Hause oder an meiner neuen Arbeitsstelle auftauchte. Nichts deutete darauf hin, dass ich beschattet wurde, und – soweit ich das mitbekam – horchte keiner meine Eltern oder Franziska über mich aus. Alles ging seinen gewohnten Gang. Bald hatte ich wieder das Gefühl, die Tage verliefen wie immer: Aufstehen, Arbeiten, Essen, Lesen, Schlafen, Aufstehen, Arbeiten, Essen, Kartenspielen, Schlafen, Aufstehen, Arbeiten … Erst wollte ich nicht zulassen, dass die eintönige Routine mich einlullte und jeden Gedanken an etwas anderes erstickte. Aber die Alltagsmaschinerie war mächtig, so mächtig, dass ich nicht dagegen ankam und bald anfing, wieder in den gewohnten Mustern zu denken, und mein Leben als normal empfand.

      An einem Mittwochabend ging ich mit meinen Eltern in das ehemalige Gemeindehaus unseres Viertels, wo Franziskas FDJ-Gruppe ihre monatlichen Zusammenkünfte hatte. Diesmal sollte Franziska von ihrem Ernteeinsatz berichten, und das wollte Mutter auf keinen Fall verpassen. Vater und ich begleiteten sie, ich ziemlich widerwillig, er vermutlich genauso ungern. Ich hatte keine Lust, mir stundenlang politisches Gerede und Kampflieder anzuhören, aber Mutter bestand darauf, dass wir zu dritt hingingen. »Wir müssen Franziska zeigen, dass es uns interessiert, was sie so macht. Vor allem du, Julian, tätest gut daran, sie etwas mehr zu unterstützen, zu dir als großem Bruder schaut sie auf. Als sie vom Ernteeinsatz zurückkam, hast du kaum zugehört, was sie erzählt hat.«

      Ich hatte die Augenbrauen hochgezogen und etwas erwidern wollen, aber da hatte Mutter sich schon weggedreht. Ich war mir sicher, dass es nur einen Grund gab, weshalb Franziska sich über mein Kommen freuen würde: weil sie genau wusste, dass mir dieser ganze FDJ-Zirkus auf die Nerven ging und ich nur gezwungenermaßen da war.

      Im Saal war es nicht sonderlich voll, aber trotzdem warm und stickig. Vorn war ein kleines Podium aufgebaut, und an der Wand dahinter hing ein großes blaues Tuch mit gelb bemalten Buchstaben aus Styropor: Das Vaterland ruft! Schützt die Republik! Zu beiden Seiten prangte die blaue FDJ-Fahne mit dem gelben Emblem der aufgehenden Sonne. Auf dem Podium selbst standen drei Stühle und ein Rednerpult. Daneben eine niedrige Turnbank und davor optimistisch viele Stühle. Die ersten zwei Reihen waren bereits von FDJlern belegt, alle piekfein in Uniform. Vater setzte sich in die vorletzte Reihe, und ich nahm neben ihm Platz. Ich sah Mutter an, dass sie lieber weiter vorn gesessen hätte, aber um des lieben Friedens willen schwieg sie. Außer uns waren noch einige weitere Erwachsene da – Eltern vermutlich,


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