Grenzgänger. Aline Sax

Grenzgänger - Aline Sax


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über die Zeit vor dem Krieg. Eine einzige Geschichte aus dem Krieg kam mir zu Ohren, als er sie Florian erzählte. Vater und seine Kameraden hatten im Afrikakorps gekämpft und in der Wüste ein Kamel eingefangen, mit dem sie ein britisches Lager überfallen wollten. Weil das Tier ihnen den gesamten Wasservorrat wegsoff, war ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Aber das konnte ihn innerlich nicht umgebracht haben. Es musste etwas anderes gewesen sein.

      Ich überlegte, ob er es mir wohl sagen würde, wenn er von unserem Fluchtplan wüsste und dass wir einander wahrscheinlich nie mehr sehen würden. Nein, eher nicht … stattdessen würde er mir eine Predigt halten. Über Gehorsam und Pflichtbewusstsein. Und mich abkanzeln, weil ich mir von einem Mädchen aus dem Westen den Kopf hatte verdrehen lassen. Seine wahren Gefühle würde er hinter Prinzipien und Ermahnungen verstecken. So wie immer. Also ließ ich es beim Beobachten und bedauerte, dass ich meinen Vater nie wirklich würde kennenlernen.

      Wenn ich durch die Straßen ging, kamen mir die Farben anders vor, die Sonne wärmte meine Haut intensiver, und der Wind trug die verschiedensten Gerüche heran. An den heruntergekommenen Häusern, den Schutthalden aus dem Krieg, den neu angelegten breiten Straßen und den einförmigen Wohnblocks nahm ich Details wahr, die mir vorher nie aufgefallen waren. Ich sah, dass die Sockel der Laternenpfähle entlang der Stalinallee kleine Klappen hatten und dass eines der Arbeiterdenkmäler an der Rathausstraße statt Stiefeln eine Art Pantoffeln trug. Die Herbstblumen im Park hatten leuchtendere Farben, und die Straßenbahnen bimmelten lauter. Nur die Parolen auf den Plakatwänden blieben leere Phrasen.

      Und ich achtete auf etwas, das mich bisher nie interessiert hatte: die Gullys. Ihr Durchmesser würde einen problemlosen Abstieg erlauben. Und sie hatten Löcher, an denen der Deckelmann sie anheben konnte. Wie viele von den Gängen darunter mochten in den Westen führen? Letztlich wohl alle, denn da unten stand alles miteinander in Verbindung. Und wenn ich auf einem Gullydeckel stehen blieb, war mir, als könnte ich das fühlen und als hörte ich das Abwasser unter mir rauschen.

      Mir alles so gut wie möglich einzuprägen war meine einzige Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Mutter und Vater müssten sich später alles zusammenreimen. Das heißt, vermutlich würde jemand von der Staatssicherheit kommen, um sie über unsere Flucht zu informieren. Sie würden die Nachricht ebenso verwundert wie entsetzt aufnehmen, sodass der Stasi-Mensch gar nicht auf die Idee kam, sie könnten Mitwisser sein.

      Weil mein Vater mir andauernd zusetzte und weil ich mich verhalten sollte wie sonst auch, bemühte ich mich weiterhin um Arbeit. Und es war, als hätte der Teufel die Hand im Spiel. Als ich mich am Mittwoch zum x-ten Mal bei irgendeinem Stellvertreter irgendeines Geschäftsführers irgendeiner Baufirma vorstellen durfte, hatte ich auf einmal eine Stelle. Nicht als Maurer, aber als Hilfskraft. Der Lohn betrug nur einen Bruchteil dessen, was ich bei Reitmann & Sohn verdient hatte. Aber weil es ohnehin egal war, sagte ich zu. Am Montag könne ich anfangen, hieß es. Ich nickte, stellte pro forma noch ein paar Fragen, unterschrieb den Vertrag und verabschiedete mich mit einem Händedruck. Der Mann würde sich wundern, wenn ich am ersten Arbeitstag gar nicht erst auftauchte. Aber das brauchte mich nicht zu kümmern.

      Einzig mit Rolf konnte ich über alles reden. Ich ging jeden Abend bei ihm vorbei. Den Rücken an die Wand gelehnt, saßen wir nebeneinander auf seinem Bett, tranken Bier, und er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Als ich ihm erzählte, wie anders ich alles empfand, nickte er nur. Wahrscheinlich erging es ihm genauso.

      »Willst du wirklich nach Italien?«, fragte ich ihn, als eine längere Stille eintrat.

      »Ja.« Er sah mich an. »Erst als du von Freiheit geredet hast, ist mir klar geworden, was uns hier alles versagt bleibt. Wie begrenzt unsere Welt ist. Seitdem spuken mir alle möglichen Länder und Orte durch den Kopf, die ich gern sehen möchte.« Er schloss die Augen: »Rom … Paris …«

      Solche Träume hatte ich nicht. Ich konnte nicht weiter denken als bis Sonntagabend. Und daran, was dann alles für immer zu Ende sein würde.

      »Am Sonntag hat Franziska Geburtstag.« Ich nahm einen Schluck Bier. »Wir könnten Gudrun und Hermann fragen, ob sie zum Essen kommen. Als Absch…« Das Wort blieb mir im Halse stecken.

      Rolf nickte.

      »Und wegen Franziska natürlich.«

      Ich fragte mich, ob meine kleine Schwester mir wohl fehlen würde. Und ich ihr. Gudrun ja, die würde mir fehlen. Und Marthe und Florian ebenso. Ob die beiden sich in zehn Jahren, falls die Mauer so lange stand, noch an mich erinnerten? Oder würde ich dann ein Onkel sein, der nur als Foto existierte?

      Ich versuchte, an etwas Erfreuliches zu denken. An Heike. Daran, wie überrascht sie sein würde, wenn ich plötzlich vor ihr stand. Wir würden uns eine gemeinsame Wohnung suchen. Bestimmt könnte ich mir bald ein Auto leisten, sodass wir verreisen konnten. Wenn ich Appetit auf Bananen oder Apfelsinen hatte, würde ich die einfach im Laden kaufen. Und kein Uniform-Heini könnte mich je mehr demütigen. Ach ja, noch war das alles Zukunftsmusik.

      Wieder trank ich von meinem Bier.

      »Du grübelst zu viel.« Rolf prostete mir mit seiner Bierflasche zu. »Komm, lass uns eine Partie Schach spielen.«

       SECHZEHN

      Eigentlich hatte ich jeden Moment im Gedächtnis speichern, mir jedes Wort merken wollen. Und dann zogen die Tage wie im Rausch vorbei, ich konnte mich kaum konzentrieren und verlor jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Es war, als ginge das Leben bereits ohne mich weiter.

      Am Sonntagmorgen hatte ich mich noch einmal genau in meinem Zimmer umgesehen. Hatte die Kleider aufs Bett gelegt, die ich anziehen wollte. War kurz versucht gewesen, doch etwas als Andenken mitzunehmen. Hatte den Gedanken gleich wieder verworfen, weil es mich nur bedrückt hätte, etwas auszusuchen. Nicht einmal den Schuhkarton unter meinem Bett hatte ich aufgemacht, um mir noch einmal anzusehen, was ich in der Kindheit alles gesammelt hatte. Weder dem Bild von Heike, das sie mir geschenkt hatte, noch dem Schlüsselanhänger, den Florian für mich gebastelt hatte, schenkte ich einen Blick.

      Stattdessen war ich ins Elternschlafzimmer gegangen und hatte die Schubladen von Mutters Nachttisch nacheinander aufgezogen und wieder zugemacht, ohne zu wissen, was ich suchte. Erst als ich es fand, wurde es mir bewusst. Das Foto meines Vaters. Als ich es aus dem Rahmen nehmen wollte, fiel ein anderes Bild, das dahintergesteckt hatte, auf den Bettvorleger. Es zeigte ebenfalls meinen Vater, stammte aber wohl aus dem Krieg und war ziemlich unscharf. Neben ihm war eine Holzhütte zu sehen und hinter ihm eine unbebaute Ebene. Vater lachte, das Gewehr in der Hand, in die Kamera. Aber es war eine andere Art Lachen als auf dem Bild, das ich kannte.

      Ich schrak zusammen, als ich vom Flur her Stimmen hörte. Schnell steckte ich das lose Foto ein, legte den Rahmen in die Schublade und schloss sie wieder.

      Gudrun und Hermann waren gekommen. Mit den Kindern. Ich ging in mein Zimmer und schob das Foto in das bereitliegende Hemd. Dann ging ich ins Wohnzimmer hinüber.

      »Onkel Julian!« Florian freute sich mächtig, mich zu sehen.

      »Mannomann, du bist ja schon wieder gewachsen!«, gab ich mich erstaunt.

      Florian reagierte mit der Unbekümmertheit kleiner Kinder: Er stellte sich neben mich und legte die Hand auf seinen Kopf, um zu prüfen, bis wohin er mir reichte. Bis zum Nabel.

      Daraufhin wollte natürlich auch Marthe zeigen, wie groß sie schon war. Sie reichte mir gerade bis zu den Hüften, darum hob ich sie hoch und hielt sie über meinen Kopf. Sie kreischte vor Vergnügen.

      Als Rolf endlich eingetroffen war, setzten wir uns an den Esstisch. Ich mied seinen Blick. Was nicht auffiel, denn Franziska beanspruchte alle Aufmerksamkeit, indem sie mit viel Tamtam ihre Geschenke auspackte.

      Nach dem Essen schauten sich Marthe und Florian mit ihrem Stereomat Bilder an, bis sie müde wurden und, auf dem Sofa aneinandergelehnt, einschliefen.

      Gudrun, Hermann und Mutter unterhielten sich, aber ich bekam kaum etwas davon mit. Später half ich den Frauen beim Abwasch, während Vater, Rolf und Hermann es sich im Wohnzimmer gemütlich machten.


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