Wunsch Traum Fluch. Frances Hardinge
Chelle sagte ausnahmsweise einmal nichts. Sie wirkte niedergeschlagen und zerknautscht, als ob sie zu lange im Regen gestanden hätte.
«Aber das stimmt nicht!», protestierte Ryan. «Ich habe nichts von euch gesagt …»
«Ach, hör doch auf!» Das Polster seufzte auf, als Josh sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Rückenlehne warf. «Ryan, es ist doch logisch, dass sie von uns weiß, auch wenn sie nur dir erscheint. Kapierst du’s nicht? Sie hat dich als ihren Botschafter auserwählt.»
Und das, erkannte Ryan, war das eigentliche Problem. Josh war sauer, weil jemand anderer eine Entscheidung für das Trio getroffen hatte, aber noch viel wütender machte es ihn, dass nicht er selbst gefragt worden war.
«Es ist doch nur deswegen», sagte Ryan rasch und deutete entschuldigend auf seine Fingerknöchel. Auf seiner unverletzten Hand hatten sich drei neue Warzen gebildet. «Es ist ja nicht so, dass ich der Anführer bin oder so etwas Ähnliches. Sie hat nur einem von uns diese Dinger angehext, damit derjenige in der Lage ist, sie zu sehen und Befehle entgegenzunehmen.»
«Oooh, das ist so unheimlich und so schrecklich!» Chelle schüttelte sich. Dann richtete sie sich auf. «Ach nein, so meinte ich das nicht. Ich wollte nur sagen … Augen auf deinen Händen – also das ist wirklich, wirklich sonderbar. Auf eine ganz unheimliche und schreckliche Art!»
Ryan schluckte und kämpfte die Erinnerung an die Warzen nieder, die sich über feuchten, grün-braunen Augen zurückzogen, in denen jeweils ein kleiner Lichtstern funkelte.
«Ja», murmelte er. «Also, ich glaube, sie hat jeden von uns auf unterschiedliche Art … gezeichnet. Bei dir, Josh, ist es diese Sache mit dem Telefon, dem Fernseher und den Uhren, die in deiner Gegenwart verrücktspielen …»
«Ja, klar», knurrte Josh, während Chelle nervös zu Boden blickte. «Sie braucht jemanden, dem sie Befehle erteilen kann, und jemand anderen, der Toaster explodieren lassen kann. Das klingt richtig logisch. … Du kannst nicht einfach Zusagen für andere Leute machen! Chelle und ich müssten nicht mal hier sein.»
Es war das dritte Mal, dass Josh das sagte, und trotzdem saß er noch immer im Bus, als sie in die Altstadt einfuhren.
Crook’s Baddock lag nur ein paar Meilen nördlich von Magwhite. Aber anders als Magwhite, dem die schäbige Aura vieler Randbezirke von Guildley anhaftete, lag Crook’s Baddock auf dem Land, inmitten weicher, sanft geschwungener Hügel.
Früher war Crook’s Baddock nur ein kleines Dorf gewesen, wo sich etliche Weber niedergelassen hatten. Einige der ältesten Häuser standen noch, mit Reetdächern, die sich wie vor Überraschung hochgezogene Augenbrauen über den Fenstern und Türen wölbten. Aber jetzt waren überall kleine Schilder angebracht, auf denen stand, wie alt die Gebäude waren, und in Halterungen an der Wand steckten Broschüren über die Geschichte des Dorfs. Die meisten Häuser waren in Museen umgewandelt worden, mit winzigen Modell-Webstühlen im Inneren und Texttafeln über die Kunst des Webens und Färbens. Und aus den Gebäuden, in denen kein Museum untergebracht war, hatte man ein Café oder eine Teestube gemacht.
Einmal im Jahr, gegen Ende der Sommerferien, wurden Busladungen voll Kinder herangekarrt. Dann fand das Crook’s Baddock-Festival statt, und man zwang die Kinder, sich Hunderte von Webstühlen und Spinnräder anzuschauen und Skizzen von den Fachwerkhäusern anzufertigen.
Auf der anderen Seite des Gangs im Bus saß ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren halb vergraben unter den Einkaufstaschen ihrer Mutter, und betrachtete Josh mit einer Mischung aus Angst und Faszination. Sie hatte einen kleinen, gekrümmten Finger in den Mund geschoben und zog einen Mundwinkel nach unten. Josh bemerkte sie und starrte eine Weile zurück. Dann schob er seine Sonnenbrille auf die Nasenspitze und riss die Augen auf, als ob das kleine Mädchen einen schreckenerregenden Anblick bieten würde. Der fingerlose Mundwinkel zuckte und bog sich dann nach oben. Aus irgendeinem Grund mochten kleine Kinder Josh, wie unmöglich sich dieser auch benehmen mochte.
«Weißt du, wonach wir suchen?» Jetzt, da Josh sich einem anderen Publikum zugewandt hatte, war Chelle ein bisschen näher an Ryan herangerückt. «Ich meine, hat sie noch etwas gesagt, ich meine, irgendwelche anderen Befehle gegeben?»
«Na ja, so was wie … wie … Hlaaaarliii Dauischumpf.»
«Larri-was?»
«Mehr wie … Hhhlaar. Liii. Dauisch. Humpf.»
«Wie Hhhlaar...»
«Hhhlllöörchhee …», machte Josh plötzlich und tat so, als ob er sich übergeben müsste. Er grinste. Wie es seine typische, unberechenbare Art war, schien er sich in Windeseile wieder beruhigt zu haben. «Nein, schon gut, Ryan, mach’s noch einmal.» Ryan demonstrierte ihnen die Töne, und die anderen beiden versuchten, sie nachzumachen. Alle drei gurgelten und röchelten sie wie Kaffeemaschinen, bis Chelle vor lauter Kichern keine Luft mehr bekam.
«Meint ihr …», sagte Chelle, als sie wieder zu Atem gekommen war, «meint ihr, wir sollten uns etwas zu essen kaufen, vielleicht ein paar Brötchen, und dann in den Park gehen? Als wir das letzte Mal hier waren, gab’s im Park eine Bude, wo man eisgekühlte Limonade kaufen konnte, aber die hatten nur Papierstrohhalme, und ich mag’s nicht, wenn die so durchweichen und dann aufreißen – aber eiskalte Limo kann man nicht einfach aus dem Becher trinken, weil einem da die Zähne wehtun, und man muss warten, bis das Eis geschmolzen ist, und dann wird es so komisch, so schleimig, und wenn man dann den Becher ableckt, das macht dann zehn Pfund sieben Pence und gib mir bloß kein Trinkgeld du hässliche alte Schreckschraube …»
Ryan erstarrte. Chelles Stimme war mit einem Mal viel lauter und schriller geworden. Und sie klang ganz anders als sonst.
«… was haben sie denn mit diesem Tisch gemacht, vielleicht Fußball drauf gespielt? Ich brauche eine neue Tischdecke, oh Gott, da kommen die Miese Minnie und die Heulboje wieder mal auf eine Tasse heiße Schokolade, ja ich weiß, Kakao mit extra viel Sahne für die kreischende kleine Plage, ich habe euch doch schon hundertmal bedient, und ihr könnt euch nicht mal an mich erinnern …»
«Chelle?» Ryan starrte sie an.
Chelles Augen waren weit vor Panik. Sie schüttelte leicht den Kopf, aber ihr Mund bewegte sich weiter und spuckte unentwegt Worte aus.
«Chelle, reiß dich zusammen!» Josh beugte sich vor und spähte in ihr Gesicht. «He, Chelle! He!»
War es das, was Chelle Ryan versucht hatte zu sagen? Dass ihr Worte aus dem Mund sprudelten, ohne dass sie es wollte?
«… oh, Herr im Himmel, dieses entsetzliche Kind benutzt die Kaffeekanne wieder als Gong NEHMEN SIE DEM KIND DEN TEELÖFFEL WEG NEHMEN SIE DEM KIND DEN TEELÖFFEL WEG BEVOR ICH IRGENDJEMANDEM DEN HALS UMDREHE!» Chelle schrie jetzt aus voller Kehle, und ihr Gesicht wurde krebsrot, als sich die Fahrgäste im Bus nach ihr umdrehten.
Hastig drückte Josh den Halteknopf. Als der Bus am Straßenrand zum Stehen kam, nahmen Ryan und Josh Chelle in die Mitte und führten sie zur Tür.
«Danke!», rief Josh dem Busfahrer mit übertriebener Begeisterung zu.
«Entschuldigung!», ergänzte Ryan noch, als sie auf den Bürgersteig traten.
«VERDAMMT NOCH MAL BENUTZEN SIE EINE SERVIETTE!», brüllte Chelle, als sich die Bustür schloss.
«Was machen wir jetzt?» zischte Ryan.
«Ich weiß nicht … Am besten gehen wir mit ihr so weit, bis es von selbst aufhört. Und stopf ihr irgendwas in den Mund.»
Sie mussten etliche Infobroschüren über das Weberhandwerk in Crook’s Baddock zusammenknüllen und in Chelles Mund schieben, bis ihre Worte nicht mehr zu verstehen waren. «Heb die Hand, wenn du keine Luft mehr kriegst.»
Nach dem gedämpften Licht im Bus wurden sie auf der Straße von der grellen Sonne geblendet. Vor einer Kneipe mit grün gestrichenen Fensterrahmen stand eine ganze Flotte von Motorrädern, und Ryan musste blinzeln, als etwa zwei Dutzend Rückspiegel gleichzeitig aufblinkten. Nebenan schaukelte ein Werbeschild für eine Eiskremmarke an dem