Wunsch Traum Fluch. Frances Hardinge

Wunsch Traum Fluch - Frances  Hardinge


Скачать книгу
schüttelte den Kopf. Verzweifelt wedelte sie mit den Händen.

      «Wie viele Worte?», wollte Ryan wissen.

      Chelle hielt einen Finger in die Höhe, zupfte sich dann am Ohrläppchen, als wollte sie sagen «hört sich an wie». Dann zögerte sie und machte eine unbestimmte Greifbewegung in die Leere.

      «Chelle, du hast überhaupt kein Talent für Pantomime. Lass mal gut sein. Hast du einen Stift, Ryan? Dann komm, wir gehen einen suchen.»

      Als sie die Tür zur Teestube aufstießen, erklang das Geläut eines Windspiels, das so niedrig hing, dass Josh den Kopf einziehen musste.

      «Hier.» Josh schob Ryan etwas Geld in die Hand. «Hol uns drei Milchshakes und einen Stift. Der Typ am Tresen hat bestimmt einen. Und ich passe auf unser Plappermäulchen auf.»

      Auf den Tischen lagen Plastiktischdecken mit demselben bunten Patchwork-Muster wie die Vorhänge. Hinter dem Tresen stand ein dünner junger Mann mit weichem, blondem Pony und zittrigen Händen.

      «Drei Milchshakes … nehmt schon mal Platz, ich bringe sie euch.»

      Ryan nahm sich einen der Stifte, die in einem Krug neben der Kasse standen, und kehrte zum Tisch zurück.

      Glücklicherweise schien niemandem Chelles merkwürdige Erscheinung aufgefallen zu sein. Ein Kleinkind ein paar Tische weiter versuchte, das Lied im Radio mitzusingen, und erntete dafür wesentlich mehr Aufmerksamkeit – und missmutige Blicke – von den anderen Gästen.

      Aber als Ryan Chelle den Stift und eine Serviette zum Schreiben zuschob, wurden ihre Augen plötzlich kugelrund vor Überraschung und Aufregung. Sie deutete auf den Mann hinter dem Tresen.

      «Was?»

      Sie nahm einen Teelöffel und wedelte damit triumphierend vor den Nasen ihrer Freunde herum. Dann deutete sie quer durch die Teestube auf das musikalische kleine Kind. Verdattert betrachteten Josh und Ryan den Kleinen; dann, ganz allmählich, dämmerte es ihnen. Der kleine Junge hatte einen Teelöffel gepackt und schlug damit laut und nervtötend gegen die Kaffeekanne.

      «Davon hast du doch vorhin geredet, stimmt’s?», flüsterte Ryan.

      Chelle kritzelte ein paar Worte auf die Serviette und schob sie ihm dann hin. Darauf stand: «Mann hinter dem Tresen – seine Gedanken.»

      «Du … sprichst seine Gedanken aus?»

      Chelle hopste aufgeregt auf und ab und zog dann ihr rechtes unteres Augenlid mit der Fingerspitze nach unten, als wollte sie sagen: Gut erkannt!

      «Wir müssen hier raus und darüber reden», raunte Josh. «Sieht so aus, als hättest du recht, Ryan – dieses Brunnen-Weib verändert uns alle, aber auf unterschiedliche Art. Jetzt müssen wir herausfinden, warum sie Chelle Gedanken lesen lässt.»

      Auf Ryans Vorschlag hin ließen sie ein großzügiges Trinkgeld liegen, obwohl sie ihre Getränke noch gar nicht bekommen hatten. Als sie außer Hörweite waren, zogen sie Chelle den durchweichten Papierball aus dem Mund.

      «… wenigstens einer gibt ein anständiges Trinkgeld», sagte sie, und ihre Stimme klang jetzt deutlich besänftigt. «Ich stecke das besser ein; hört sich an, als wäre Sarah an der Hintertür. Ich brauche dringend eine Zigarette …»

      Ryan warf einen Blick über die Schulter und sah den Mann aus der Teestube kommen. Er zog ein zerknülltes Päckchen Zigaretten aus seiner Schürzentasche. Dann schlenderte er zur Front der benachbarten Kneipe und blickte sich um, während die leichte Brise eine Rauchfahne von seiner Zigarette zog.

      «… Da drüben steht eine Suzuki …», murmelte Chelle leise. Zum ersten Mal klang ihre geborgte Stimme fast glücklich.

      Josh blieb wie angewurzelt stehen.

      «Oh, ich bin ein Genie», murmelte er.

      «Was?» Ryan versuchte immer noch, ein stilles Eckchen für Chelle zu finden.

      «Schaut euch bloß mal an, wie viele Motorräder da vor der Tür stehen», flüsterte Josh. «Vermutlich gehen alle Biker aus der Gegend regelmäßig in diese Kneipe.»

      «… Triumph», murmelte Chelle gedankenverloren. «Hab ich doch gleich am Motorgeräusch erkannt. Und schau dir das an, 1000 Kubikzentimeter, was für ein Monstrum. Die Honda 500 bräuchte mal neue Reifen …»

      «Und ich wette, er kommt bei jeder Zigarettenpause zu den Motorrädern. Ich würd’s jedenfalls tun.» Josh grinste. «Seht ihr, was da hinten steht? Hinter der gelben Kawasaki? Los doch, Leute, ihr wisst doch, was das ist. Was war es doch gleich, was dieses Brunnen-Weib uns sagen wollte?»

      «Harley-Davidson», wisperte Chelle mit verliebter Stimme.

       image

      Etwa zehn Sekunden lang waren alle drei unglaublich zufrieden mit sich. Dann verblasste das Gefühl.

      «Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll», sagte Josh und beantwortete damit die unausgesprochene Frage, die in der Luft hing, «aber ich werde es herausfinden. Ihr zwei bleibt hier und hört euch an, was er so denkt.» Bevor Ryan noch etwas sagen konnte, schlenderte Josh mit den Händen in den Hosentaschen zu dem Mann aus der Teestube. Der fegte sich gerade Zigarettenasche von seinem ausgeleierten orangefarbenen T-Shirt und sah Josh erst kommen, als er fast vor ihm stand.

      «… das ist doch einer von den dreien, die vorhin in der Teestube waren.» Chelles geborgte Stimme klang beunruhigt und misstrauisch. «Hoffentlich will der sich keine Kippe schnorren, ich kann doch so schlecht Nein sagen … hat genauso ein Gesicht wie Donny Sparks aus der Schule, für den ich immer Zigaretten kaufen musste, weil ich größer war.» Der Tee-Mann starrte stur auf seine Zigarettenspitze. Er wirkte nervös. Ryan konnte sich gut vorstellen, wie er als Teenager gewesen war – schlaksig, unbeholfen, von einem kleineren Jungen ins Geschäft getrieben, um Zigaretten zu kaufen. Ryan empfand Mitleid für ihn, und er fühlte sich schuldig, weil er in jemandes Privatsphäre eindrang.

      Josh schob die Sonnenbrille auf die Stirn, grinste und sagte etwas zu dem Tee-Mann. Chelles Monolog verstummte kurz und setzte dann wieder ein.

      «Was meint er damit – welche Maschine mir gehört? Findet er, dass ich wie jemand aussehe, der ein Motorrad besitzt?» Die Stimme klang jetzt überrascht, aber angenehm überrascht. «So ist das also, der Glückspilz. Wenn man einen älteren Bruder mit einer Harley hat … scheint nett zu sein … Vielleicht würde mich sein Bruder mal …»

      «Ich schreibe es auf, wenn er etwas Sinnvolles sagt», seufzte Ryan.

      «… tut gut, sich mal mit jemandem zu unterhalten, dem so was wichtig ist … intelligenter Bursche … mmmmpfrrrr …»

      Ryan schaute auf und sah, dass Chelle sich den nassen Papierball wieder in den Mund gestopft hatte. Eine Politesse stand in der Nähe und machte ein besorgtes Gesicht. Warum konnten nicht alle Politessen so kalt und gefühllos sein, wie man ihnen immer nachsagte, fragte sich Ryan verzweifelt. Er nahm Chelle am Ärmel und zog sie weiter die Straße entlang, wo sie sich an das Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts lehnten.

      «… wenn ich mir ’ne Harley-Davidson aussuchen dürfte, würde ich eine Road King Classic nehmen», fuhr Chelle mit gedämpfter, ekstatischer Stimme fort, während sie so taten, als würden sie sich für perlenbesetztes Silberbesteck und rosagesichtige Porzellanfigürchen interessieren. «Andererseits – die Ultra … aber was soll’s? Ich kriege ja doch nie eine. Das bleibt ein Traum. Das ist es: Die Harley ist ein Traum aus Chrom. Wenn du auf einer Harley sitzt, dann ist es, als ob dich der Horizont erwartet, als ob er dir förmlich entgegenfliegen würde … Ich würde alles dafür geben, das zu fühlen …»

      Nachdem er sich nach allen Seiten umgeschaut hatte, fing Ryan an, Chelles Bemerkungen auf die Serviette zu schreiben.

      «… Ich könnte diesem Jungen von dem Preisausschreiben in der neuesten Ausgabe von


Скачать книгу