Bluemoon Baby. Frank Witzel

Bluemoon Baby -  Frank Witzel


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beiden Auto Mags“, verbesserte Swiggett ihn. Thompson schaute ungläubig. „Klar doch. Ich hab natürlich beide Versionen, die .357er Magnum und die .44er Magnum. Und damit kann man diesen Burschen schon ganz tüchtig einheizen.“

      Hunter Thompson blieb im Ort. Tagsüber lag er in seinem Zimmer und trank. Abends ging er mit Swiggett schießen. Sie schossen auf nichts besonderes, ballerten eben so ein bißchen im Wald herum. Und eigentlich erlebten sie nur einmal etwas Komisches.

      Swiggett hatte die letzten Male eine Bekannte aus der Bar zu ihren Ausflügen dazugebeten. Frauengesellschaft gab dem Zielschießen noch eine zusätzliche Würze. Außerdem hatten sie gleichzeitig jemanden, der die leergetrunkenen Bierdosen auf dem Holzblock neu aufstellen konnte. Die Bekannte von Swiggett war gerade im Begriff, genau das zu tun, als mit einem Mal und buchstäblich wie aus heiterem Himmel ein seltsamer weißer Vogel auf sie zugeflattert kam. Die Entfernung von ihr zu den Männern betrug ungefähr fünfzig Meter. Der Vogel ließ sich seelenruhig auf ihrer Schulter nieder. Die Frau erstarrte, weil sie nicht wußte, was sie tun sollte.

      „Bleib ganz ruhig!“ schrie ihr Swiggett zu. Und Thompson rief: „Den nehm ich!“

      „Wir müssen eine günstige Gelegenheit abwarten“, raunte Swiggett. Und die bot sich auch gleich. Der komische weiße Vogel hob sich nämlich von der Schulter der Frau in die Luft, flog hinter sie und versuchte mit dem Schnabel, den Verschluß ihres aus dem Rückenausschnitt herausschauenden Büstenhalters zu lösen.

      „Haste sowas schon gesehen?“ zischte Thompson durch die Zähne und legte an.

      „Jetzt!“ gab Swiggett das Signal.

      Thompson erwischte den Vogel mit einer Breitseite, konnte jedoch nicht verhindern, daß dieser sich in seinem Todeskrampf mit dem Schnabel im Büstenhalterverschluß von Swiggetts Bekannter verhakte. Als diese spürte, wie sich etwas an ihr festbiß und nach dem Schuß plötzlich Blut ihren Rücken herunterlief, wurde sie von Panik gepackt. Ohne auf die Rufe der Männer zu hören, lief sie immer tiefer in den Wald hinein, konnte den Vogel jedoch nicht abschütteln.

      Bei Loophole D schien sich nicht mehr viel zu tun. Oder es lag eine große Geheimhaltung über der Sache. Vielleicht planten die auch etwas ganz anderes und hatten nur ein Spektakel für die Medien veranstaltet. Aber das war Thompson im Grunde egal. Am vierten Tag tippte er gegen Mittag ein paar Seiten herunter. Der Bericht handelte von einem kleinen Ort in der Nähe von Lakewood, Wisconsin, von Auto Mags und Whiskey und trug den Titel „Araschießen in Langlade“. Dazwischen eingestreut waren ein paar Gedanken über Religion, Sekten und das friedliche Leben auf dem Land. Ralph Steadman verzerrte das Polaroid, das Thompson und Swiggett vor dem grauen Betonklotz des örtlichen Target Master Indoor Pistol Range zeigte und spritzte ein paar Tintenkleckse darüber. Der Rolling Stone hatte seinen Artikel.

      23

      Die Ausgabe des New Yorker mit einem etwas sorgfältiger recherchierten und mit seinen 27 dreispaltigen Seiten für den Durchschnittsleser vielleicht sogar etwas zu ausführlichen Bericht über Douglas Douglas Jr., die Bare Witnesses und Loophole D war hingegen an bundesdeutschen Bahnhöfen schon erhältlich. Nicht Tom Wolfe, sondern ein gewisser Harold Nicholson hatte ihn verfaßt. Nicholson befaßte sich nur am Rande mit der Sekte. Ausführlicher ging er auf Douglas Douglas Jr. und dessen Krankheit ein. Er verglich die Symptome des Morbus Mannhoff mit unserer gesellschaftlichen Struktur.

      „Kreislauf und Nervensystem werden faktisch dazu gezwungen, sich selbst nicht nur als falsch, sondern mehr noch, sich als tot zu erkennen. Wenn sie glauben, etwas zu versorgen, was es tatsächlich nicht gibt, so gibt es sie selbst tatsächlich auch nicht. Das ist der eindeutige Rückschluß des Gehirns des Morbus-Mannhoff-Patienten. Und an diesem Rückschluß stirbt er.“ Dieser Kernsatz aus der Krankheitsbeschreibung faszinierte Nicholson, und er stellte die Frage, inwieweit sich nicht die unterschiedlichsten politischen Diskussionen einer ganz ähnlichen Argumentation bedienten. Er schrieb: „Geht es nicht in vielen Bereichen darum, dem anderen nicht allein zu beweisen, daß er falsch liegt, sondern mehr noch, daß er mit dieser falschen Meinung sein Lebensrecht verwirkt hat?“ Dann kam er auf den religiösen Fanatismus zu sprechen und bezeichnete es als in diesem Zusammenhang überaus symbolisch, einen von seinen körperlichen Krankheitssymptomen quasi Geheilten gegen eine Gruppe einzusetzen, die unter ähnlichen, wenn auch geistigen Symptomen litt. Nicholsons These wurde durch einen längeren Einschub untermauert, der sich mit der kenianischen Mythologie auseinandersetzte.

      In Kenia, wo Dr. Samuel Howardt seine wichtigsten Untersuchungen durchgeführt hatte, ist der Morbus Mannhoff schon seit Jahrhunderten bekannt. Fast jedes fünfte Neugeborene ist von ihm befallen und stirbt in den ersten sechs Monaten nach der Geburt. Interessant ist, daß sich durch das Leben mit der Krankheit eine völlig eigenständige Symbolsprache herausgebildet hat, die schließlich auch Einfluß auf die abstrakt philosophische Gedankenwelt nahm. So beschäftigte die Kenianer nicht so sehr die Unterscheidung von Körper und Geist, wie den Menschen des Westens, sondern vielmehr die Unterscheidung von Körper und Skelett.

      Der Geist ruht im Skelett, heißt es, und die Kraft Gottes verkörpert sich in ihm. Skelett und Körper liegen in einem beständigen Streit miteinander. Der Körper ist träge, faul und gibt sich dem Laster hin. Das Skelett vertritt die Moral und bringt den Menschen zur Arbeit und zur Sorge um Familie und Dorf. Wie die Kenianer feststellten, haben weder die Sinnes- noch die weiblichen Geschlechtsorgane Knochen. Sie sind folglich die ureigenen Organe des Menschen, die Organe, mit deren Hilfe er sich als Mensch überhaupt erst konstituiert. Gleichzeitig handelt es sich dabei auch um diejenigen Organe, mit denen er sich vom Göttlichen entfernt. Nase und Ohren bestehen aus Knorpel, Mund und Vagina aus Schleimhäuten, Sehnen und Blutgefäßen. Und die Augen sind sogar in Aussparungen des Skeletts eingelassen.

      „Hinter jedem Sinnesorgan gähnt das Loch der Unvernunft“, heißt es in Bezug auf das Skelett, während von dem verstorbenen Menschen allein noch das Göttliche übrigbleibt. So vertritt das Skelett auch die Seele. Das Kind ohne Skelett ist ein Kind ohne Seele und ohne göttlichen Einfluß. Auf der einen Seite ist es schwach und muß schon bald sterben, auf der anderen Seite tritt es den Beweis an, daß es eine reine Existenz des Menschen, außerhalb des Göttlichen, dennoch durchaus zu geben vermag.

      Die Legenden aus Kenia erzählen auch von einer Heilung des Morbus Mannhoff, die auf ihre Art der von Dr. Samuel Howardt herausgefundenen Methode durchaus ähnelt. Der befallene Mensch muß sich ganz bewußt und vollkommen dem Göttlichen widmen. Er muß auf die Erkenntnis seiner Sinnesorgane und die Benutzung seiner Geschlechtsorgane verzichten. Er muß sein Leben liegend in einer verschlossenen Hütte zubringen. Das heißt, er muß seinem Gehirn die Rückmeldung simulieren, daß er im Grunde das Göttliche besitzt. Da er es tatsächlich nicht besitzt, muß er das Göttliche um so mehr simulieren und vertreten. Während der normale Mensch im Widerstreit zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Skelett und Körper steht, muß er, der diesen Widerstreit nicht mehr in sich trägt, sich ganz für das Göttliche entscheiden. Und dies gerade, weil er ganz Mensch ist. Er muß sich deshalb so vollkommen für das Göttliche entscheiden, weil es ihm vollkommen fehlt.

      Von diesem kenianischen Beispiel ausgehend, kam der Artikel im New Yorker wieder auf die Bare Witnesses zu sprechen. „Sie müssen das Göttliche so absolut vertreten, weil sie es selbst nicht besitzen“, schrieb Nicholson, doch er blieb nicht dabei stehen, sondern fragte, inwiefern die amerikanische Gesellschaft ihren Gottesglauben nicht ebenso einseitig vertrete, so, als bräuchte sie ebenfalls jemanden, dem sie die Rolle des reinen Körpers, des Verblendeten und von Gott Entfernten, zuweisen könne. „Douglas Douglas Jr., dessen Aktion in Loophole D mehr als fragwürdig und umstritten ist, wäre dann nichts anderes als der personifizierte Beweis, daß die amerikanischen Behörden das Skelettlose, das heißt das Gottlose, in sich selbst überwunden haben. Deshalb allein muß Douglas Douglas Jr. vorgeführt werden: um die eigenen Zweifel zu übertönen.“

      24

      An diesem Sonntag, dem 11. Juli, feierte Frau Helfrich ihren 39. Geburtstag. Feiern im Sinne von „begehen“. Obwohl man sie im allgemeinen mindestens fünf Jahre jünger schätzte, war sie an diesem Morgen


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