Bluemoon Baby. Frank Witzel

Bluemoon Baby -  Frank Witzel


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richtig?“

      „Haargenau“, strahlte Dietmar. Professorin Rikke war die Situation eher peinlich.

      „Da hab ich damals mitgearbeitet. Sie haben da Frauen beraten, wie sie das Beste aus ihrem Typ machen können, nicht wahr?“

      Dietmar konnte so etwas mit Humor nehmen. „Hahaha, na ja, nicht so ganz. Es ging um die Bedeutung der Sommersonnenwende in unserer Kultur.“

      „Ach, das mit den Seifenkisten, ja das war schön. Ich durfte nachher auch mal mit einer fahren. Toll war das. Das kam bei den Kindern gut an.“

      „Und hatte gleichzeitig noch einen tieferen Sinn.“ Dietmar versuchte das Gespräch für Professorin Rikke erträglich zu halten, doch es war zu spät. Sie hatte sich reserviert höflich verabschiedet und den Laden verlassen.

      „Und sonst haben die nichts gezeigt im Fernsehen?“ fragte sie Wansl noch einmal, während sie sich selbst die verspannte Schulter massierte.

      „In irgendeinem amerikanischen Kaff wollten die Bewohner irgendwelche Tiere aus einem Zoo in Teer sieden, und dabei ist ein unheimlich wertvoller Ara abhanden gekommen. Jetzt suchen die den bundesweit, weil es ein einmaliges Tier ist. Der kann mit seinem Schnabel Zahlen addieren und sogar schreiben.“

      13

      Kalle haßte dieses Gefühl der Unsicherheit. Warum war Hugo Rhäs nur so schnell auf alles eingegangen? Da konnte doch irgendetwas nicht stimmen. Wahrscheinlich waren die Papiere viel mehr wert als eine lumpige Viertelmillion. Aber egal. Die Zeit drängte. Die Groschen, die er vom Teller eines unbewachten Zeitungsstands genommen hatte, reichten gerade noch für einen Anruf. Außerdem hatte er seit fast fünf Stunden nichts getrunken. So übernächtigt und durchgeschwitzt wie er aussah, ohne Jacke, unrasiert und mit einer Pappschachtel unterm Arm, flog er selbst im Bahnhofsviertel gleich aus jeder Kneipe. Und auf Pump würden sie ihm erst recht nichts geben.

      Kalle machte sich in Richtung der alten Papierfabrik auf. Einen Plan hatte er nicht direkt, aber das Gelände war dort unübersichtlich genug. Das Problem lag eher in der Tatsache, daß er alles allein machen mußte. Und daß er noch gut vier Stunden bis Sonnenuntergang zu warten hatte. Er fuhr einige Stationen schwarz mit der Straßenbahn, anschließend ein ganzes Stück mit dem Bus. Dann lief er schräg durch den Hartmann-Park und schlich sich von hinten an den Kiosk hinter dem Europa-Denkmal an.

      Wie immer war die Gegend verlassen. Ein Mädchen kaufte gerade für eine Mark Brausebonbons. Sonst war niemand zu sehen. Nachdem das Mädchen bezahlt hatte, ließ sich der Kioskbesitzer wieder in seinen Korbstuhl fallen und schaute abwesend auf den laufenden Fernseher. Draußen vor dem Park fuhr eine Straßenbahn heulend über die Schienen. Die Kiosktür nach hinten war offen, so wie Kalle es erwartet hatte. Dort standen aber nur Bierkästen. Das nützte ihm nichts. Bis er sich an denen vorbeigequetscht hatte, war der Alte schon aufgesprungen und hatte nach seinem Baseballschläger gelangt. Einfach von vorn hingehen und eine Flasche Korn verlangen ging auch nicht, denn der Alte würde sie so lange in der Hand behalten, bis er das Geld auf den Zahlteller gelegt hätte.

      Kalles Hände wurden schwitzig. Er stellte den Karton mit den Entwürfen für eine Radixtheorie ab und überlegte. Er hatte nichts mehr am Leib, das er als Gegenwert hätte anbieten können, soviel stand fest. Gewaltbereit war er nur bis zu einem gewissen Maß. Für eine ausgefeilte List hatte er weder Zeit noch Nerven. Außerdem mußte er seinen Grips für die Geldübergabe bei der Papierfabrik zusammenhalten. Er schaute sich noch einmal um. Die Europa lag im untergehenden Aprillicht lasziv auf ihrem Stier. Ganz in der Ferne kam eine alte Frau mit Stock angeschlichen. Hinter dem Zaun des Parks gingen wenige Leute von der Arbeit nach Hause. Kalle schloß die Augen und fing an, bis zehn zu zählen. Bei fünf hielt er es nicht mehr aus. Er riß die Augen wieder auf und stürmte von hinten in den Kiosk.

      Der schmale Gang zwischen den aufeinandergestapelten Bierkästen war so eng, daß Kalle sich etwas zur Seite drehen mußte, um hindurchzukommen. Zum Glück saß der Alte mit dem Rücken zu ihm, wodurch er etwas Zeit gewann. Hinter ihm fielen Flaschen um. Jetzt gleich nach links. Chips, Kaugummis, Snickers, Mars, Zigaretten, irgendwo ganz oben stand der Klare.

      „Sag mal, ich glaube, du spinnst! Was soll denn das?“ Der Alte brauchte sich gar nicht nach dem Baseballschläger zu bücken, denn er hatte ihn schon in der Hand. Kalle konnte sich jetzt nicht von seiner Suche ablenken lassen. Ja richtig, dort oben. Er ging einen Schritt zur Seite und griff sich zwei Flaschen Wodka. Dadurch verfehlte ihn der erste Schlag des Kioskbesitzers. Der Schläger hinterließ im Deckel der Tiefkühltruhe eine tiefe Delle. Kalle sprang zurück und wollte wieder nach hinten raus. Doch dort lagen die umgefallenen Flaschen und Kisten und versperrten ihm den Weg. Der Alte holte zu seinem nächsten Schlag aus. Er mußte schnell handeln, und so opferte er eine der beiden Wodkaflaschen und warf sie nach dem Mann. Die Flasche traf ihn an der Brust, fiel zu Boden und zersprang. Diesen Moment nutzte Kalle aus, um sich umzudrehen und über die Kisten nach hinten zu klettern. Er warf dabei absichtlich andere Stapel um und versperrte dem Alten so den Weg.

      Draußen hielt er kurz hinter dem Europadenkmal an, schraubte die Flasche auf und nahm einen tiefen Schluck. Dann einen zweiten. Aus dem Kiosk kam ein dumpfes Poltern. Kalle schraubte die Flasche wieder zu und rannte jetzt über die Wiese, dann den kleinen Kiesweg hoch zum Ausgang und dort über die Straße, wo gerade eine Straßenbahn hielt, die ihn fast bis zur Papierfabrik brachte.

      14

      Klara Rhäs, geborene Sammel, geschiedene Howardt, war im April 1944 im Kreiskrankenhaus innerhalb ihrer Untersuchung zur Gebärbefähigung nicht nur verschiedentlich vermessen, sondern auch fotografiert worden. Und es waren diese Fotos, die ihr ein unangenehmes Gefühl verursachten. Nicht, daß die Vermessungen angenehm gewesen wären. Das kalte Maßband auf ihrem Bauch und zwischen ihren Beinen verursachte einen Schwindel, wie sie ihn nur einmal bei einer Bergwanderung in großer Kälte verspürt hatte. Der Atem war ihr für einen Moment weggeblieben und stattdessen war ihr die klare Bergluft, ohne daß ihre Lungen etwas dazu getan hätten, in den Brustkorb geströmt. Ungeatmet hineingeströmt, um ungeatmet wieder hinauszuströmen. Nicht sie hatte die Luft gebraucht, benutzt, über die Bronchien in ihre Lungen gesogen und ihrem Blut Sauerstoff zugeführt, sondern die Luft war in sie gedrungen, wie in eine vom Ruß verkohlte Höhle, um nachzusehen, ob sich da vielleicht etwas befand. Wäre Klara Rhäs religiöser gewesen, sie hätte diese klare Bergluft als ein Licht empfunden, das in sie gefahren war, um ihr den Weg zu weisen, von dem sie im Begriff war abzukommen. Stattdessen sackte sie nach hinten und riß sich die Hand an einem tiefhängenden Tannenzweig auf. Die jungen Burschen, mit denen sie unterwegs war, kamen zurückgelaufen. Aus einer kleinen Wunde zwischen Handschuh und Armbündchen tropfte etwas Blut. Aber Klara lachte, weil sie wieder atmen konnte.

      Auf dem Untersuchungsstuhl, der ihre Beine weit auseinanderspreizte, hielt sie selbst die Luft an, um dem fremden Ersticken zuvorzukommen. Glücklicherweise gelang ihr das auch. Die Messungen dauerten eine gute Viertelstunde. Dann bat der junge Arzt in Uniform, sie möge doch ihre Schuhe anziehen. Sie verstand nicht recht und wollte sich ganz ankleiden. Doch er wies sie ausdrücklich darauf hin, daß die Schuhe vollkommen ausreichend seien. Während sie dies tat, rückte er einen Wandschirm zur Seite. Dahinter stand auf einem schweren Stativ eine Kamera. Links und rechts waren zwei Blitzlichter angebracht. Klara Sammel stand nun bis auf ein schon fadenscheiniges Hemdchen, das gerade ihren Busen bedeckte und nicht einmal bis zum Nabel reichte, nackt und in Schuhen neben dem Untersuchungsstuhl. Der Arzt bat sie nun in die Mitte des Raums vor die Kamera und ließ sie allerlei verschiedene Posen einnehmen, um die Ausformung ihres Beckens hinreichend dokumentieren zu können. Insgesamt machte er nicht mehr als sechs, vielleicht sieben Aufnahmen. Der Grund dafür lag jedoch nicht etwa an einer während seines Tuns aufkeimenden Zurückhaltung, sondern allein an dem zur damaligen Zeit äußerst spärlich vorhandenen Filmmaterial.

      Um diese und andere Aufnahmen von jungen Frauen zu machen, hatten die Beteiligten einen ganzen Aufklärungsflug sozusagen „leer fliegen“ lassen müssen und sogar gehofft, daß das Flugzeug ein Opfer der feindlichen Abwehr werden würde, um diese ungeheure Manipulation zu vertuschen. Doch wie es eben so geht: Maschine, Besatzung und Ausrüstung waren unversehrt


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