Bluemoon Baby. Frank Witzel

Bluemoon Baby -  Frank Witzel


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auf das handgeschöpfte Bütten schrieb: „Ein schmuckvoller Abend – rundum gelungen. Euer Geschäft: eine versteckte Perle.“

      9

      Das Milieu im Bahnhofsviertel wußte mit der Radix-Theorie von Hugo Rhäs seltsamerweise nicht das Geringste anzufangen. Selbst die unter dem Namen „Professor“ bekannte Szenefigur, ein Mann jenseits der sechzig, von dem es hieß, er habe Abitur und sei sogar Berufsschullehrer gewesen, schüttelte nur bedauernd den Kopf und warf die Blätter mit den ellenlangen Bruchstrichen, um die sich ein endloser Zug von Variablen und Konstanten hangelte, wieder in den Karton auf dem Barhocker zurück. Es roch stark nach Schweiß und frischem Leder, so wie in einem der Dominastudios nebenan.

      Kalle war seit drei Tagen nicht mehr aus seiner Allwell-Lederkluft gekommen. Nachdem ihm mit seinem Fund vom Gelände der ehemaligen Papierfabrik nicht der gewünschte Erfolg beschieden war, hatte er die anfänglich noch gewahrte Geheimhaltung immer mehr aufgegeben und schließlich jedem, der zufällig neben ihm an einem Tisch saß, einen Blick in den Karton aufgedrängt. Vielleicht war man hier aber auch einfach zu provinziell für ein Ding von diesem Format. Die Leute hatten einfach keine Ahnung. Die beiden Hütchenspieler, an die er die Papiere schon gleich am Montagabend verspielt hatte, ließen ihm den Karton durch eine Rotznase, die für sie Botengänge erledigte, zurückbringen. Zusammen mit der Drohung, er solle ihnen bis Ende der Woche die fünf Blauen vorbeibringen.

      Als man ihm schließlich am Donnerstag, nachdem er bis zum Professor vorgedrungen war, in derselben Kneipe irgendwas ins Bier tat und er wie bewußtlos bis zum Abend durchschlief, vermißte er nach dem Aufwachen nur Lederjacke, Gummiknüppel, Stablampe und den Allwell-Blechstern, während der Karton mit den Papieren unangerührt neben ihm stand. Der Kellner kam, um abzukassieren, aber Kalle hatte schon am Mittag kein Geld mehr gehabt. Er bot einen Teil der Papiere als Pfand an. Zwei Schlägertypen packten ihn und warfen ihn auf die Straße. Die Papiere flogen hinterher.

      Kalle stand mühsam auf. Ihm war schwindlig. Am rechten Knie seiner Allwell-Diensthose klaffte ein breiter Riß. Der Wind der Aprilnacht drückte sein durchgeschwitztes Hemd unangenehm klamm gegen seine Brust. Und wenn sie alle hier keine Ahnung hatten, einer kannte den Wert der Papiere mit Sicherheit: der, dem sie gehörten. Kalle würde sie dem Mann im ehemaligen Hausmeisterhäuschen gegen die Zahlung von, sagen wir mal, 250.000 Mark zurückgeben. Natürlich nicht alle Papiere. Das konnte der überhaupt nicht so schnell überprüfen. Und so würde er in absehbarer Zeit noch mal ein schönes Sümmchen einheimsen. Um diesen neuen Plan auszuführen, brauchte Kalle allerdings die Telefonnummer von Hugo Rhäs. Da er jedoch dessen Namen nicht kannte, konnte er nicht einfach im Telefonbuch nachschauen, sondern mußte sich die Nummer auf eine andere Weise verschaffen.

      Und so kam es, daß der Nachtdienst der Firma für Sicherheitskonzepte Allwell an diesem Abend gegen halb zehn relativ kurz hintereinander zwei Anrufe erhielt. Im ersten Anruf fragte jemand mit offensichtlich verstellter Stimme, ob man ihm die Nummer des Hausmeisterhäuschens auf dem Achenkerberschen Gelände geben könnte. Er sei ein an den Rollstuhl gefesselter Nachbar, der gerade zufällig von seiner Wohnung aus gesehen habe, wie das Küchenfenster gefährlich im Wind schlagen würde. Nachdem man dieser Bitte aus Datenschutzgründen nicht nachkommen konnte, jedoch versicherte, umgehend ein Mitglied des eigenen Wachpersonals darüber in Kenntnis zu setzen, rief dreißig Sekunden später und wie durch eine Fügung des Himmels Kalle an.

      „Ich mach hier gerade Dienst beim alten Achenkerber, und da ist mir aufgefallen, daß das Küchenfenster in der früheren Bude vom Hausmeister so klappert. Der Typ reagiert aber nicht auf mein Klingeln. Gebt mir doch mal kurz seine Nummer, vielleicht krieg ich ihn übers Handy.“

      Die Allwell-Zentrale war über jeden Schritt Kalles seit Montag informiert. Er stand unter ständiger Bewachung und mit einem gewissen Amusement und auf der Suche nach weiteren Kündigungsgründen ließ man ihn weitermachen und gab ihm auch jetzt bereitwillig die Nummer von Hugo Rhäs. Schaden konnte er keinen mehr anrichten, dafür würde man schon sorgen.

      10

      Ein Ara ist kein billiger Vogel. Ein dressierter Ara jedoch, einer, der mit dem Schnabel Zuckerstückchen aus einer Dose holt oder einen Büstenhalterverschluß zu öffnen versteht, ist nahezu unbezahlbar. Hat man aber schon einmal so viel Geld für Anschaffung und Aufzucht ausgegeben, dann sollte sich das Tier auch auf irgendeine Art amortisieren. Nun sind Filme, in denen Papageien tragende Rollen spielen, leider rar. Oft tut es auch ein ausgestopftes Tier, dem Hans Clarin mit verstellter Stimme ein paar Wörter unterlegt, ganz zu schweigen von den immer perfekteren Computeranimationen.

      Kein Wunder also, daß sich auch alle möglichen Tierbesitzer zusammen mit ihren Schützlingen in Richtung Polar, Wisconsin, aufmachten. Da sich die Behörden jedoch außerstande sahen, noch ein drittes Lager aufzuschlagen, wurden die Tierhalter ebenfalls in Richtung Langlade, zu dem Camp vor den Toren des kleinen Dörfchens Ranton umgeleitet.

      Tiertransporte sind eine diffizile Angelegenheit und nicht so ohne weiteres zu bewerkstelligen. Glücklicherweise fand sich jedoch ein Organisator, der die verschiedenen dressierten Schützlinge gegen eine Aufwandsentschädigung zu einem Konvoi zusammenfaßte, die Fahrtroute erstellte und die Reise organisierte.

      Neben einer Unmenge Vögel, die in einer alten fahrbaren Zirkusvoliere transportiert wurden, gab es so gut wie alles: normale Haustiere wie Katzen, Hunde, Hamster, Hühner, Schweine, die sich auf irgendein Kunststück verstanden, dann Schlangen, Reptilien, riesige Käfer und exotische Schmetterlinge, die vor allem durch ihr ungewöhnliches Aussehen faszinierten. Schließlich natürlich Löwen, Tiger, Geparden, Panther und andere Raubtiere. Ein Elefant und ein halbes Dutzend Pferde rundeten diese Arche Noah auf Rädern ab.

      Wer weiß, was allein ein Elefant jeden Tag frißt, ahnt, daß das Konzept des Organisators, der blauäugig von einem gemeinsamen Topf gesprochen hatte, nicht aufgehen konnte. Ein hypernervöses Schwein starb als erstes. Es folgten drei Wellensittiche. Und so ging es weiter. Die Entsorgung der Kadaver, die man unter den Augen einer wachsenden Öffentlichkeit nicht einfach an andere Tiere verfüttern konnte, verschlang zusätzliches Geld. Obwohl der Zug nur drei Tage unterwegs war, ging es am Ende bloß noch darum, durchzuhalten und das Ziel zu erreichen.

      Von dem Ziel hatte man natürlich völlig falsche Vorstellungen, obgleich es immer mehr Beteiligten dämmerte, daß der große Tierpark, in dem alle ihr Auskommen finden würden, auf diese Art und Weise bestimmt nicht existierte. Daß sie aber nichts weiter als einen mit Wohnwagen belegten Platz vorfanden, als sie am Abend des dritten Tages in Ranton ankamen, überstieg ihre schlimmsten Befürchtungen.

      Man versuchte, den Organisator zur Rede zu stellen, doch der hatte sich kurz vor Polar aus dem Staub gemacht. Obwohl dem Konvoi mitgeteilt wurde, daß der Festplatz in Ranton aus allen Nähten platzte, beschloß der nun führerlose Zug, einfach immer weiter in das Dorf zu fahren. Es wurde langsam dunkel, und da man sich in der unbekannten und schlecht ausgeschilderten Gegend nach einem Lichtschein in der Ferne orientierte, stieß man schließlich auf den Fackelzug der aufgebrachten Bevölkerung.

      Die Tiere wurden durch das Geschrei und den Schein der Fackeln unruhig und schlugen gegen die Wände ihrer Käfige. Schließlich verlor irgendwer die Nerven. Mit einem Mal waren die Wagen und Transporter offen und die Tiere in Freiheit. Da die meisten von ihnen Licht und Lärm verabscheuten, verteilten sie sich in den ausgestorbenen Straßen des Ortes und drangen in die leeren Häuser ein.

      Und so kam in Ranton doch noch alles zu einem einigermaßen glücklichen Ende. Nun hatten die Behörden einen Grund, das Dorf abzusperren und jegliche Presse fernzuhalten. Da es sich teilweise um exotische Tiere handelte, deren Herkunft und Gesundheitszustand überprüft werden mußten, konnte eine vorübergehende Quarantäne verhängt werden. Die Dorfbewohner, die sich nur mit dem gewöhnlichen Vieh auskannten, waren auf die Hilfe der anwesenden Artisten angewiesen. Diese allein konnten aus Panik in Wasserleitungen geflüchtete Ozelote befreien, Leguane von den Bäumen pflücken und Tiger mit Hilfe eines vorgehaltenen Stuhls von den Stallungen weglocken. Alle arbeiteten in den nächsten Tagen so gut zusammen, daß die außergewöhnlichen, größeren und wertvolleren Tiere fast vollständig eingefangen werden konnten. Es fehlte am


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