Bluemoon Baby. Frank Witzel
liefert, herauszufinden, ob es über die Kanalisation einen Zugang zu dem Hauptquartier einer gefährlichen Sekte geben kann. Die Sekte nennt sich, so erfährt man nicht nur durch die Sprecherin, sondern auch auf einer vorbereiteten Tafel übersetzt „Die nackten Zeugen von Armagehdon“ (The bare witnesses of Armagehdon). Professorin Rikke lacht auf, denn man hat in der Fernsehredaktion das Wort „Armageddon“ falsch geschrieben.
In der Eile der sich überstürzenden Ereignisse läßt sich nicht jedes Detail recherchieren. So beantwortet das grobgerastert eingeblendete Foto von Douglas Douglas Jr., dem jungen Mann ohne Knochen, auch nur sehr unzureichend die Frage, was „ohne Knochen“ genau bedeutet. Eine Art Schädel scheint er jedenfalls zu besitzen, auch wenn er vielleicht etwas schmal erscheinen mag. Professorin Rikke schaltet auf Teletext. Um zehn soll in einer Sondersendung ausführlich über Douglas Douglas Jr. und die Hintergründe der Geiselnahme berichtet werden. Vielleicht ist sie bis dahin zurück.
Sie schaltet den Fernseher aus und verläßt das Haus. An der immer noch heißen Luft, die in den Straßen steht und sich sofort auf ihre Kopfhaut legt, wird sie daran erinnert, daß sie sich die Haare zu kleinen Stacheln zusammengegelt hatte. Im Fenster des Penny-Marktes vergewissert sie sich, daß die Spitzen noch einigermaßen gleichmäßig von ihrem Kopf abstehen. In der japanischen Mythologie gibt es ein Kind ohne Knochen, das von seinen Eltern, wie so viele Helden, gleich nach der Geburt ausgesetzt wird. Fast ein Ereignis von mythologischem Gehalt, das sich dort in Amerika abspielt, denkt sie, während sie durch den Fußgängertunnel unter der Eisenbahnlinie geht.
Als sie den Schmuckladen betritt, ist gerade die neue Lebensgefährtin des grünen Außenministers im Mittelpunkt des Interesses. Professorin Rikke dreht sich einmal unauffällig im Kreis, um zu sehen, ob der Außenminister selbst auch anwesend ist. Sie kennt ihn noch aus der Zeit, als er das alternative Kino der Stadt in einem Kollektiv organisierte. Eigentlich müßte er schon an den in seiner Nähe herumstehenden Bodyguards zu erkennen sein. Aber wer einmal neben Madeleine Albright im Palais Schaumburg Hammelnüßchen Braganza zu sich genommen hat, wird wohl kaum nach Feierabend in der Mittelseestraße im Stehen einen Teller Borschtsch löffeln.
Professorin Rikke kennt die Lebensgefährtin bisher nur aus der Zeitung. Sie ist knapp über dreißig und war Volontärin beim Fernsehen. Es heißt, sie sei schwanger. Obwohl sich die beiden erst seit einem Vierteljahr kennen. Anders hat sie ihn wohl nicht binden können. Ein Lachen geht durch den Kreis, der die Lebensgefährtin umringt. Sie hält sich gerade zwei lange, fast unsichtbare Schnüre an die Ohrläppchen, um zu sehen, wie ihr dieses Ensemble steht. Ungefähr in Höhe ihres Busens schweben zwei glitzernde Perlen als symbolische Brustwarzen über ihrem bauchfreien Oberteil. Es wird genickt. Besonders von den Vertretern des Schmuckkollektivs. Aber sie plaziert das Ohrgehänge wieder zurück an den Stahlnagel, von dem sie es heruntergenommen hat, und bückt sich über einen der Blecheimer, wobei sie ihren prallen Hintern in den Schein eines Spots schiebt.
Professorin Rikke dreht sich um. Ein befreundeter Künstler aus dem städtischen Kunstverein betritt gerade mit einem nach frischer Ölfarbe riechenden und in eine alte Decke eingeschlagenen Rechteck unter dem Arm den Laden. Vielleicht würde sie mit ihm über die mythologischen Implikationen dieses Falls in Wisconsin reden können.
4
Man kann den Beruf des Wachmanns durchaus als eine Art Vertrauensstellung bezeichnen. Es reicht bei weitem nicht aus, in eine schwarze Kluft gehüllt Präsenz zu zeigen. Oft gerät man in Situationen, in denen innerhalb von wenigen Sekunden lebenswichtige Entscheidungen zu treffen sind. So hatte Kalle an einem Montagvormittag vor gut einem Vierteljahr zu entscheiden, ob das nur angelehnte Küchenfenster des ehemaligen Hausmeisterhäuschens auf dem Gelände der stillgelegten Papierfabrik Achenkerber keine besondere Auffälligkeit darstellte und so verbleiben konnte, oder ob er es zu sichern hatte.
Daß Kalle, ein untersetzter Mann Anfang fünfzig, der den Kampf mit seiner Alkoholkrankheit noch nicht ganz gewonnen hatte, bei der Firma für Sicherheitskonzepte Allwell zu der Zeit noch seine vierzehntägige Probezeit ableistete, erleichterte ihm die Entscheidung nicht. Auch die Tatsache, daß er außerhalb seiner eingeteilten Dienstzeit, die gewöhnlich in den Nachtstunden lag, auf dem Gelände erschienen war, war ihm keine besondere Hilfe.
Von dem Ausbildungswochenende in Dickschied hatte Kalle den Merksatz behalten „nach Möglichkeit zusätzliche Informationen einholen“. Auf ein mehrfaches Schellen an der Tür, gefolgt von einem resoluten Klopfen, hatte jedoch niemand reagiert. Da von außen nichts weiter zu sehen war, nahm er seinen Schlagstock, stieß das angelehnte Fenster noch ein Stück weiter auf, um sich mit einiger Mühe, begleitet vom angenehmen Knirschen seiner neuen schwarzen Dienstlederjacke, ins Innere zu zwängen. Zwei Tassen gingen zu Bruch. Ein Verlust, den man bei einer solchen Aktion in Kauf nehmen mußte.
Nach dieser körperlichen Anstrengung wurde der Wachbeamte von einem fürchterlichen Durstgefühl überfallen. Er ging zum Kühlschrank, entdeckte dort aber nur eine angefangene Flasche Fruchtsaft, Milch und ein Stück Käse. Auch sonst war in der Küche außer einem Kasten Mineralwasser nichts Trinkbares zu sehen.
Im ganzen übrigen Haus waren die Läden geschlossen, was Kalles malträtierten Augen gut tat. Er nahm seine Stablampe vom Gürtel, ging in das neben der Küche liegende Wohnzimmer und suchte den Raum mit dem Lichtkegel ab. Eine alte Couch, ein Tisch, zwei Stühle und überall Bücher: in Regalen an den Wänden, in Stapeln auf dem Boden, noch unausgepackt in Umzugskartons und quer verstreut auf allen Sitzgelegenheiten. Von einer Hausbar war nichts zu sehen.
Kalle leuchtete sich den Weg in den Flur und stieg dort die kleine knarrende Treppe hoch ins oberste Stockwerk. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Er kannte alle Verstecke und würde sie auch finden. Als erstes ging er ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank und schaute hinter Hemden und Handtüchern nach. Nichts. Dann durchsuchte er den Nachttischschrank. Noch nicht mal ein Flachmann. Er schraubte die Thermosflasche auf, die neben dem ungemachten Bett stand und roch daran. Kaffee. Vielleicht mit einem Schuß Rum? Er kostete vorsichtig. Von wegen. Schwarz und ohne Zucker.
Kalle ging ins Bad. Rasierwasser ohne Parfum und Alkohol. Komischer Heiliger. Es blieb noch ein Zimmer übrig. Irgendwo mußte er das Zeug doch haben. Um die Spannung für sich noch etwas zu erhöhen, vernachlässigte er bewußt alle Regeln der Eigensicherung, schloß die Augen, stieß die Tür des letzten Zimmers mit dem Fuß auf und trat wie zu einer Bescherung ein.
Ein langer Schreibtisch stand vor dem Fenster, davor ein Stuhl, daneben ein schmales Regal, an den Wänden mit Notizen übersäte Pinnwände, und überall im Zimmer Zettel und Papiere. Zettel und Papiere. Kalle versetzte einem kleinen Stapel auf dem Boden unwillkürlich einen Stoß mit dem Fuß.
Das mußte ein Schwachsinniger sein, der hier wohnte. Der hätte die Haustür auch gleich ganz auflassen können. So einen Krempel wollte doch niemand geschenkt. Andererseits: warum wurden noch regelmäßig Runden hier gedreht, wenn es nichts zu schützen gab? Kalle wußte natürlich nicht, daß die Firma für Sicherheitskonzepte Allwell ihre monatlichen Überweisungen eher versehentlich durch einen Konkursverwalter erhielt und sich schon deshalb, besonders aber nach dem Anruf von Hugo Rhäs, verpflichtet fühlte, ab und zu jemanden bei der Fabrik vorbeizuschicken. Außerdem eignete sich das Grundstück vortrefflich zur Erprobung neuer Kräfte. Es konnte kein Schaden angerichtet werden, während man mit Hilfe zweier noch funktionierender Überwachungskameras am Hauptgebäude sehen konnte, wie sich die Aspiranten in dem von ihnen angestrebten Job anstellten. Auch davon hatte Kalle nicht die geringste Ahnung. Und weil er weder das eine noch das andere wußte, zählte er zwei und zwei zusammen und schloß, daß es sich bei den vielen mit Formeln bedeckten Blättern und Notizen um eine wissenschaftliche Erfindung von höchster Geheimhaltungsstufe handeln mußte.
Erfinder waren verrückt und lebten ohne einen Tropfen in den unmöglichsten Verstecken. Sie mußten sich vor der Bedrohung durch alle möglichen Staaten schützen und untertauchen, um ungestört arbeiten zu können. Kalle fing einer inneren Eingebung folgend an, die Papiere zusammenzuräumen. Dann rannte er hinunter ins Wohnzimmer, leerte einen mittelgroßen Bücherkarton aus und füllte ihn mit den gesammelten Notizen von Hugo Rhäs.
Immer wieder schien es auf den Zetteln um irgendwelche