Bluemoon Baby. Frank Witzel
diesen Flur. Hier hatte sie kurz vor Kriegsende schon einmal gesessen, um sich innerhalb einer großangelegten Untersuchung im mittelhessischen Raum ihre Gebärfähigkeit bestätigen zu lassen.
Damals war sie von einem Arzt in SS-Uniform in einen ebenfalls gekachelten Raum geführt worden, wo er ihren Beckenumfang und ihre Schenkelbreite maß. Er nahm noch andere Daten auf, zum Beispiel die Länge vom Nabel bis zum Ansatz der Schambehaarung, und den Winkel, in dem sie ihre Beine zu spreizen in der Lage war. Dann durfte sie sich wieder anziehen. Fast zwei Stunden mußte sie anschließend auf dem Gang warten. Schließlich wurde ihr die Mitteilung gemacht, daß ihre Gebärfähigkeit über dem geforderten Mindestmaß liege und sie folglich den Vorzug besäße, an einer weiteren Untersuchungsreihe teilzunehmen.
Nun stand sie, keine drei Jahre später, vor einem Spalier weißbekittelter Armeeärzte, die ihrem Mann etwas auf Englisch sagten und ihr mit bedauerndem Gesichtsausdruck die Hand drückten. Als sie es übersetzt haben wollte, schüttelte ihr Mann nur den Kopf. Ob sie nicht jetzt wenigstens das Kind einmal sehen durfte? Ihr Mann sagte, es sei besser, wenn er zuerst hineinging. Die zehn Minuten, die sie allein auf dem Flur warten mußte, waren fast unerträglich. Irgendetwas veränderte sich, und sie konnte es nicht aufhalten. Als ihr Mann aus dem Zimmer kam, war sein Gesicht flach und konturlos. Er sagte, sie solle den Kleinen so in Erinnerung behalten, wie sie ihn kurz nach der Geburt gesehen hatte. Sie konnte sich an kein genaues Bild erinnern, gab aber trotzdem nach.
An diesem Abend sprachen die beiden kein Wort. Auch am nächsten Abend redeten sie nicht. Sie saßen sich nur in der engen Küche gegenüber und hörten auf ein entferntes Schaben im Kamin. Am übernächsten Abend zog Samuel Howardt seine Uniform an und verließ die Wohnung. Seine Frau hörte nun allein auf das Schaben. Drei Tage. Dann kam ihr Mann zurück. Betrunken. Er sagte nichts. Nur sein Atem ging laut und unregelmäßig.
7
Mit sechsundzwanzig hatte Hugo Rhäs Heinrich Böll die Hand gegeben. Er hatte Danke zu ihm gesagt. Ein paar Jahre später schämte er sich für dieses Danke. Zeitweise fand er sogar, daß dieses Danke seinen schwachen Charakter und seine Unfähigkeit zu schreiben in einem Wort zusammenfaßte. Eine jener packenden Metaphern, um die er sich in seinen eigenen Texten immer wieder vergeblich bemühte.
Fast jahrzehntelang hatte ihn dieses Danke davon abgehalten, seinen Brief an Burroughs abzuschicken. Solange, bis dieser schließlich gestorben war. Im nachhinein war ihm auch das recht. Er hatte darin nämlich den Satz geschrieben: „I’ve been searching so long to find an answer.“ Und dieser Satz, so war ihm später eingefallen, war wörtlich aus einem Lied von Chicago entlehnt. Den späten Chicago, also denen jenseits der fünften LP, als sie langsam anfingen, sich in Süßlichkeit und Peter Cetera aufzulösen. Der Name Cetera wäre vielleicht noch einen Aphorismus wert gewesen, aber bestimmt nicht dieses Gesäusel. Terry Kath hatte sich erschossen. Rechtzeitig? Aber wie sollte sich denn die Kategorie des Todes auf das Leben anwenden lassen? War Kerouac zu früh gestorben? Oder Burroughs zu spät? Und was war mit Ginsberg? Werden wir nur im Tod unverwechselbar? Der eine im Bett bei seiner Mutter mit dem Kruzifix an der Wand, der andere in einem leergeräumten Keller. Und was bleibt vom Leben? Zwei Dosen mit einer nach eigenem Rezept hergestellten Suppe im Gefrierfach von Ginsbergs Kühlschrank. Die stehen jetzt auch in einem Museum. Das Vermächtnis eines Poeten.
Gab es denn nur diese beiden Extreme? Oder gab es selbst die nur in Rhäs’ Einbildung? Gab es dann vielleicht nur den Tod? War alles nur ein einziges Zurasen auf den Tod?
Wenn er die Augen schloß, konnte er in der Ferne, über den Platz der alten Papierfabrik hinweg das Rauschen der Autobahn hören. So waren seine Gedanken. So war das ganze Leben. Die Schüler, wie sie hinausströmten in den Pausenhof. Die Lehrer, wie sie hinausströmten auf den Lehrerparkplatz. Alles nur Metaphern für das eine Strömen. Alles strömt. Das heißt: alles stirbt. Vielleicht konnte Hugo Rhäs das Licht am Samstag nicht ertragen, weil es doch auch nur starb, und weil der Samstag sich doch auch nur in den tristen Sonntag auflöste und der dann wieder in die Woche. Und so immer weiter. Als wäre jeder Anfang gleichzeitig ein Ende. Bis wir irgendwann aufgeben, vom Wahn zerstört, hungrig, hysterisch, nackt.
8
Auch wenn Dietmar Kuhn eine manchmal recht langatmige und umständliche Art hatte, freute sich Professorin Rikke, ihn auf der Schmuckausstellung zu sehen. Er deponierte sein Bild unter dem Buffettisch, nahm sich ein Glas Wein und einen Teller Borschtsch, um ihr gleich darauf seine neusten Pläne mitzuteilen.
„Die von der Stadt sind Feuer und Flamme. Man muß denen die Idee eben nur richtig verkaufen. Und vor allem: sich gleich an die richtige Adresse wenden. Wir machen das nämlich nicht über das Kultur-, sondern über das Verkehrsamt.“
Professorin Rikke hatte schon mehrfach mit Dietmar zusammengearbeitet. Zum Beispiel bei der Wagenparade zur Sommersonnenwende auf dem Mainzer Lerchenberg. Ihre Studentinnen hatten bunte Sonnengefährte gebaut, mit denen sie den Lauf der Sonne als Kreisen um den weiblichen Zyklus symbolisierten. Und es war Dietmar, der die Idee hatte, das Ziel dieses Umzugs auf das ZDF-Gelände zu legen, so daß sie gleichzeitig in der Sendung Fernsehgarten, damals noch mit Ilona Christensen, auftreten konnten. Nachdem einer der Osmonds einen alten Hit zum Vollplayback nachgemimt hatte, waren sie winkend in das bunte Rund gezogen. Erst erklärte Dietmar mit ein paar geschickten Worten den künstlerischen Aspekt der Aktion, und dann bekam sie die einmalige Chance, ein Millionenpublikum an einem Sonntagvormittag über die Existenz des Fachbereichs Frauenstudien aufzuklären; auch wenn ihr die anschließende Überleitung etwas mißglückt erschien, da man zwei Zuschauerinnen auf die Bühne holte, die sich laut Anmoderation bereit erklärt hatten, bei einem Frisör und einer Visagistin „zu studieren, um das Beste aus ihrem Typ zu machen“. Dietmar hatte sie damals mit dem Hinweis auf einen gar nicht mehr auszurechnenden Multiplikator zu trösten versucht. Und tatsächlich war sie wenig später zu einem Symposium über die mythische Bedeutung des Ballspiels nach Worms eingeladen worden.
Dietmar tunkte ein Stück Weißbrot in seine Suppe. „Ich hab denen gesagt, ihr könnt doch nicht immer dasselbe machen zum Tag der offenen Tür. Da fährt die Feuerwehr vor, rollt Schlauch und Leiter aus und damit hat sich’s. Damit lockt man niemanden mehr hinterm Ofen vor. Der Stadtmanager ist da durchaus aufgeschlossen. Der merkt das auch. Es fehlen eben nur die Ideen. Also, hab ich gesagt, wir müssen zum Ursprung zurück und das ganze wörtlich nehmen.“ Er legte eine Kunstpause ein, wischte den letzten Rest Suppe aus seinem Teller, stellte den Teller hinter sich auf eine Vitrine mit Ringen aus unbehandeltem Baustahl und beugte sich fast verschwörerisch zu Professorin Rikke, die gerade versuchte, den Auftritt der Lebensgefährtin des Außenministers nicht ganz aus den Augen zu verlieren.
„Natürlich kostet das ’ne Kleinigkeit, aber dafür kriegen sie auch was geboten. Folgendes: Im Rathaus und allen anderen öffentlichen Stellen und Ämtern werden am Tag der offenen Tür die Türen ausgehängt. Aber das ist noch nicht alles. Wir sind uns noch nicht ganz einig, welche Lösung wir nehmen, aber entweder werden die Türen selbst verfremdet, also bemalt, beklebt und so weiter, oder es werden neue Türen entworfen, die statt der alten eingesetzt werden. Also eher Vorhänge aus Stoff, oder mit Bändern und Schnüren, da gibt’s ja alles mögliche. Du hast doch auch mal ein Seminar über Türen gemacht?“
„Ja, über das Fehlen der Tür bei den Sedang.“
„Stimmt. Vielleicht könnten wir da irgendwas koppeln. Das wird nämlich eine größere Sache. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wieviel Türen so ein Amt hat. Wirklich nicht auszumalen – im wahrsten Sinne des Wortes. Fünfzehntausend haben sie bislang sicher zugesagt. Über den Rest muß man noch mal reden. Vielleicht kann man das mit den ausländischen Gruppen koppeln und kriegt aus dem Topf noch was.“
Die Lebensgefährtin machte sich gerade zum Gehen auf und trug sich als letzte Amtshandlung umständlich und mit großem Gekicher in das Gästebuch ein.
„Was schreib ich denn nur?“ flötete sie.
„Am besten eine Bestellung“, rief jemand aus dem Hintergrund. Durch das darauffolgende Lachen wurde auch Dietmar Kuhns Aufmerksamkeit abgelenkt. „Ach, die ist auch da. Bist du so gut und paßt mal