Bluemoon Baby. Frank Witzel

Bluemoon Baby -  Frank Witzel


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zwar Tag und Nacht.“

      Man war bei Allwell froh, daß Hugo Rhäs nicht auch noch die Polizei einschalten wollte. Die ganzen Nachforschungen hätten nur Unruhe in den Betriebsablauf gebracht. Und wie sollte man den Behörden gegenüber einen solchen Mitarbeiter rechtfertigen?

      Da Allwell selbst auch nichts weiter gegen Kalle unternehmen konnte und wollte, hielt man ihn noch die Nacht über in einer Art inszeniertem Verhör fest. Gegen Morgen mußte er einen Schuldschein über fünftausend Mark wegen erlittenen materiellen Schadens – Lederjacke, Stablampe, Allwellstern und so weiter – und Schmerzensgeld wegen Rufschädigung unterschreiben. Dann wurde er in einem billigen Plastikregenmantel in den Morgen entlassen. Hose und Hemd waren schließlich auch Eigentum der Firma. Wenigstens hatte Kalle schon gleich zu Beginn seiner Anstellung ein paar Briefbögen mitgehen lassen, so daß er sich das ihm verweigerte Zeugnis selbst ausstellen konnte.

      Während er nach Hause irrte, befanden sich die ersten Kinder auf dem Weg zur Schule. Eine kleine Gruppe lief durch den Hartmann Park, und da sie noch Zeit hatten, spielten sie hinter dem Europa-Denkmal Verstecken. In einem Gebüsch stieß ein Junge auf einen Karton mit Papieren. Die Kinder beschlossen, ihren Fund mit in die Schule zu nehmen. In der ersten Stunde hatten sie Musik. Die Lehrerin Frau Helfrich sah sofort, daß es sich bei den Papieren um unbrauchbare Notizen handelte, die jemand weggeworfen hatte. Sie ließ den Karton zu Frau Vesa bringen. Frau Vesa war eine junge Referendarin aus Finnland, die in der Unterstufe Kunst unterrichtete. Sie konnte die Papiere gut gebrauchen, da sie mit einer Klasse gerade Rasseln herstellte. Die Kinder nahmen alte Glühbirnen und umwickelten sie mit mehreren Schichten leimgetränktem Papier. Das ganze ließen sie einige Stunden trocknen. Wenn man dann die so beklebten Glühbirnen anschließend auf eine Tischkante schlug, blieb die mittlerweile feste Hülle aus Pappmaché ganz, während innen das Glas der Birne zerbrach und die Splitter das Geräusch einer Rassel erzeugten.

      17

      Der Grund, warum sich Siegfried Rhäs schon nach zweieinhalb Jahren Ehe wieder von seiner Frau Klara hatte scheiden lassen, und das, obwohl sie einen kleinen Sohn namens Hugo besaßen, ein gesundes Kind mit allen Knochen, war so heikel, daß Hugo Rhäs ihn erst erfuhr, als er die dreißig schon weit überschritten hatte.

      Siegfried Rhäs, ein Mann mit einer naiven aber gut gesinnten Frömmigkeit, hatte Klara kurz nach ihrer unglücklichen Niederkunft und der Trennung von ihrem ersten Mann, Samuel Howardt, kennengelernt. Mit seiner sanften und einfühlenden Art verstand er es, der gebrochenen Klara ihren Lebensmut zurückzugeben, so daß sie sich schon bald wieder in der Lage fühlte, erneut eine Ehe einzugehen und eine Familie mit ihm zu gründen. Siegfried Rhäs war Berufsschullehrer und sie besaßen ihr geregeltes Auskommen. Das Kind, das ein gutes Jahr nach ihrer Heirat zur Welt kam, war gesund und wuchs prächtig heran. Die Ehegatten liebten sich, und es hätte gar nicht besser sein können, bis…, ja bis sich an einem Montag im August 1954 mit einem Mal alles änderte.

      An diesem Montag erschien nämlich die Illustrierte Bonbonniere. Es handelte sich dabei um ein Boulevardblatt von mehr als zweifelhaftem Ruf, welches einen Spagat zwischen Berichterstattung aus den internationalen Königshäusern einerseits und verbrämten Erotikdarstellungen der frühen fünfziger Jahre andererseits versuchte. Unter der Überschrift: „O là là, die Fräuleins von der Front“ brachte man an diesem Augustmontag eine Bildreportage über Pinup-Mädchen, deren Bilder unter den vom Volk nicht vergessenen deutschen Soldaten des letzten Krieges kursiert waren. Darunter auch ein Bild von Klara Rhäs.

      Nun waren die Illustrierten in dieser Zeit gewissen Zensurbestimmungen unterworfen, die das Abbilden einer nackten oder auch nur halbnackten Frau unmöglich machten. Doch auch mit einem großen schwarzen Balken, der die Hüfte bis zu den Knien bedeckte, war der Skandal perfekt.

      Es handelte sich bei der Abbildung von Klara Rhäs um eins der Fotos, die der junge Arzt in Uniform bei seiner Untersuchung zur Feststellung der Gebärfähigkeit von ihr gemacht hatte. Dieses Foto war selbstverständlich nicht im geringsten anziehend oder kokett, das fadenscheinige Leibchen alles andere als aufreizend. Das Gesicht von Klara Rhäs, halb weggedreht, hatte für jeden einigermaßen unvoreingenommenen Betrachter ganz deutlich einen Ausdruck von Angst und Scham. Doch so stellte man sich damals eben die Abbildung einer Nackten vor. Genau dieses Gefühl des Unwohlseins gehörte zur Attraktion solcher Bilder dazu und erregte die Generationen der Väter und Großväter von Hugo Rhäs.

      Der gutgläubige Berufsschullehrer Siegfried Rhäs fühlte sich betrogen. Mehr noch, er fühlte sich verkannt, hatte das alles, oder so etwas ähnliches, im tiefsten Inneren schon immer geahnt und nur nicht wahrhaben wollen, und kostete jetzt, da selbst er dies alles nicht mehr länger vor sich verleugnen konnte, sein vermeintliches Recht der Ehrenrettung bis zur Neige aus. Und so sah auch Siegfried Rhäs mit einem Mal nicht mehr die Angst und die Scham im Gesicht seiner Frau, sondern nur den schwarzen Balken, der das Ungeheuerliche zwischen Leibchenende und Wadenanfang verbarg, das ihn nun zum Gehörnten und Vorgeführten machte, und zwar nicht nur vor der recht eingeschränkten Leserschaft der Bonbonniere, sondern gleich vor der ganzen Welt.

      Er mußte Konsequenzen ziehen, und er zog sie ohne ein weiteres Wort. Er packte das zusammen, was er für seinen Privatbesitz hielt und quartierte sich in einer Pension ein. Alles andere erfolgte schriftlich. Neben den Briefen des Anwalts, der noch zwischen Annulierung der Ehe und Scheidung schwankte, schickte Siegfried Rhäs ein hölzernes Bekenntnis, in welchem er versicherte, sich seiner Verantwortung trotz der über ihn gekommenen Schmach auch weiterhin bewußt zu sein und sich seinen Pflichten gemäß um seinen Sohn und dessen Erziehung kümmern zu wollen.

      Klara Rhäs durfte die Wohnung behalten, in deren Küche sie nun mit ihrem zweijährigen Sohn saß und sich die Augen rot heulte.

      18

      Die Professorin für Frauenstudien, Rikke, nahm es ihrem Lebensgefährten, dem arbeitslosen Spieleerfinder Jochen Kuptschek, genannt Wansl, weder übel, daß er Spieleerfinder, noch daß er arbeitslos war. Auch, daß sie mit ihm nicht über die japanische Mythologie des knochenlosen Kindes, die Weltmythologien der in einem Fluß ausgesetzten Kinder oder das letzte Schlachtfeld der biblischen Prophezeiung, Armageddon, reden konnte, machte ihr nichts aus. Im Gegenteil. Es störte sie, wenn er umgekehrt versuchte, mit ihr ein Thema anzuschneiden, das über seine Elektronikbastelei und seinen sich mittlerweile schon ein halbes Jahr hinziehenden Prozeß hinausging. Wansl hatte große Chancen, endlich mit seiner Klage durchzudringen und eine umfangreiche Entschädigung zu erhalten, da seine alte Firma die noch von ihm entwickelte Idee für ein neuartiges Murmelspiel ohne seine Zustimmung umgesetzt und auf den Markt gebracht hatte.

      Professorin Rikke mochte ihn am liebsten passiv, und sie war reif genug, um auch an einem Abend wie diesem zu sehen, daß man nicht alles von einem Lebenspartner erwarten kann. Obwohl sie gerade jetzt im Moment, nach dem etwas mißglückten Besuch der Schmuckgalerie, ein wenig phantasievolle Abwechslung durchaus zu schätzen gewußt hätte. Aber für die Phantasie konnte sie schließlich auch selbst sorgen. Sie ging ins Schlafzimmer und holte den Prototyp des Murmelspiels in dem von Wansl selbst zurechtgesägten und mit Buntpapier beklebten Kasten aus dem Schrank. Professorin Rikke zog sich völlig aus und ging mit der Schachtel Murmeln ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich vor Wansl auf den Teppich setzte.

      „Spielen!“ rief sie in einer etwas höheren als ihrer normalen Stimme.

      „Und was willst du spielen?“ fragte Wansl interessiert zurück, während er seinen Katalog zuschlug. Rikke lachte. Sie lehnte sich weit zurück und schloß die Augen. Für einen Moment drehte sich alles im Gesumme der Spülmaschine aus der Küche. Sie hatte das Gefühl, als sei sie mit dem Kopf in einen Blecheimer getaucht, in dem Perlen wie Luftblasen vorbeischwammen. Ihre Beine steckten in Treibsand. Und während sie mit dem Oberkörper immer tiefer in dem Eimer verschwand, glitten ihre Beine immer weiter in den Sand. Sie steckte fest. Oben und unten. Nur ihre glattrasierte Scham war noch frei. Und jetzt spürte sie die erste Murmel über sie hinweg zwischen ihre Beine rollen. Wansl führte die Kugel geschickt mit einem Finger. Es war die kirschgroße mit den blauen Einschlüssen. Festgefrorene Flocken Eierstich, die sie übermorgen, am Sonntag, dem Tag, an dem sie kochte, in die Hühnerbrühe gleiten lassen würde.


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