Unendlich funkenhell. Frau Michelle Schrenk
sie kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen und ihm das Geheimnis preiszugeben.
Doch als sie den Bahnhof erreicht, hat sie mit einem Mal ein merkwürdiges Gefühl in der Brust. Als würde sie verfolgt, mal wieder. Aber vielleicht bildet sie es sich auch nur ein. Sie blickt auf die Uhr. 8.37 Uhr, der Zug ist schon zu hören. Ruhig bleiben, sagt sie sich, alles ist gut, gleich wird sie in seinen Armen liegen. Nur eine Station. Sie sieht sich um, doch da ist niemand. Jedenfalls niemand, der auffällig erscheint. Eine junge Frau mit Kinderwagen. Ein alter Herr mit Hut.
Der Zug fährt ein, rattert über die Schienen, und nachdem er angehalten hat, betritt sie einen der Waggons. Türkisfarbene Halterungen, mit rot-schwarz-kariertem Samt bezogene Sitze. Auf einem von ihnen lässt sie sich nieder und versucht, ruhig zu atmen. Ihre Tasche hält sie fest im Griff, denn darin befindet sich die Lösung, die Antwort auf alle Fragen. Sie weiß, sie muss gut darauf aufpassen.
Ehe die Türen sich schließen, betritt ein Mann die Bahn. Er trägt ein Kapuzenshirt, die Kapuze weit ins Gesicht gezogen, und wirkt auffällig. Ob er der Verfolger ist? Dieses mulmige Gefühl beschleicht sie wieder. Ausgeschlossen ist es jedenfalls nicht. Für einen kurzen Moment beobachtet sie ihn aus dem Augenwinkel, doch als die Bahn sich in Bewegung setzt, steht sie auf, um sich am Ende des Waggons einen Platz zu suchen.
Gerade will sie sich wieder setzen, doch dann erlischt plötzlich das Licht im Waggon. Ein unheimlicher Ruck fährt durch ihren Körper, ein harter, fester Schlag.
Dann ist alles dunkel.
Als Caroline die Augen öffnet, spürt sie einen heftigen Schmerz. Rauch und Dampf umgeben sie, Tränen brennen auf ihren Wangen. Wo ist sie? Was ist passiert? Aber sie kann sich kaum orientieren.
Auf einmal wird sie von einem Licht geblendet. »Hören Sie mich?«, fragt eine Stimme. Ein Mann hat sich über sie gebeugt. Er hat braune Augen, das Einzige, das sie noch erkennen kann.
»Die Tasche«, presst sie hervor.
Der Mann sieht sich um. »Gehört sie Ihnen?«
»Ja.«
»Jetzt versuchen wir erst mal, Sie hier herauszubekommen.«
Doch sie schüttelt den Kopf. »Nein, erst die Tasche. Darin ist ein Brief …«
Er sieht sie fragend an. Ob er sie nicht versteht?
»Bitte.«
Erleichterung macht sich in ihr breit, als der Mann sich noch näher zu ihr herunterbeugt. Denn sie weiß, dass sie keine andere Wahl hat, als ihm alles zu erzählen. Und sie kann nur hoffen, dass das, was sie erfahren hat, bei ihm sicher ist. Sie nutzt ihre letzte Kraft, um ihm die Geschichte ins Ohr zu flüstern, ihm all die Informationen weiterzugeben, die sich in der Tasche befinden.
Der Mann nimmt die Tasche an sich und nickt ihr zu. Ein stilles Versprechen.
Dann spürt Caroline nichts mehr, und die Dunkelheit greift endgültig nach ihr.
Kapitel 1
Im Hier und Jetzt
London, Tower Bridge
»Aua!« Mein Kopf knallt gegen das mit weißem Stahl eingefasste Fensterglas, und ich zucke erschrocken zurück. Okay, ich habe die Scheibe übersehen. Kann ja mal passieren, oder?
Peinlich berührt reibe ich mir die Stirn. Ich dachte, ich hätte etwas aus dem Augenwinkel da unten gesehen, aber es war wohl nur eine Einbildung.
Ich denke noch darüber nach, als eine schrille Stimme an mein Ohr dringt. »Ups, da hat sich wohl jemand zu weit nach vorn gelehnt.« Die Stimme gehört unverkennbar zu Lilly Everley, hübsch, anmutig, Jungenschwarm der Schule – und eine totale Ziege.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, entgegne ich, während ich mir noch mal über die Stirn reibe.
Meine beste Freundin Jill, die neben mir steht, nickt mir bestärkend zu. »Also wirklich, als ob das nicht jedem mal passieren kann«, sagt sie mit einem vielsagenden Lächeln auf den frechen Lippen. Das Grün ihrer Augen funkelt mich an. Ja, sie kennt mich zu gut.
Ich boxe sie in die Seite, weil ich gestehen muss, dass das Wort »mal« bei mir wirklich untertrieben ist. Denn ich scheine ständig von einem Malheur ins andere zu tappen.
Wobei ich es wohl nicht nur auf meine Tollpatschigkeit schieben kann. Es ist vielmehr einer seltsamen Sache geschuldet, mit der ich mittlerweile gelernt habe zu leben. Schon seit ich mich erinnern kann, sehe ich hin und wieder ganz plötzlich Bilderfetzen von Paaren unter Bäumen, in alt aussehenden Anwesen, Frauen, die etwas zu suchen scheinen, oder Männern, die ich nicht zuordnen kann. Plötzlich sind sie einfach da, in meinem Kopf. Sie reißen mich aus den Dingen, die ich gerade tue, oder aus dem Schlaf und sind so mächtig, dass ich nicht dagegen ankämpfen kann. Warum ich diese Bilder sehe, weiß ich nicht, und am Anfang fand ich es zugegeben auch etwas unheimlich. Aber dann habe ich dadurch meine Liebe zum Zeichnen entdeckt, indem ich die Bilder auf Papier festgehalten habe. Mein Dad sagte immer, dass es wohl allen Künstlern so geht, dass sie Eingebungen haben. Weil sie offen sind für alles, was sie umgibt, weil die Kunst eine ganz eigene Magie ist.
Wenn ich an seine Worte denke, werde ich kurz traurig. Denn er fehlt mir. Vor etwas mehr als einem Jahr ist er bei einem Autounfall gestorben und hat eine große Leere hinterlassen, nicht nur in meinem Leben. Seitdem hat sich so vieles verändert. Mum und ich zogen von Horley, das eine gute Dreiviertelstunde von London entfernt ist, in die Stadt zu Tante May, die hier ein kleines Haus gemietet hat und uns beiden angeboten hatte, uns ein wenig unter die Arme zu greifen. Darüber bin ich zwar sehr froh, aber hin und wieder vermisse ich mein altes Leben schon, die kleine Stadt und das, was wir dort hatten.
Das einzig Gute ist, dass ich hier jetzt Jill habe. Wir kannten uns schon von früher, weil sie damals, wenn ich bei Tante May zu Besuch war, nur ein paar Häuser weiter wohnte. Und wir haben den Kontakt nie verloren. Immer wenn ich in London war, zogen wir zusammen herum und verbrachten Zeit miteinander. Jetzt, nach der Scheidung ihrer Eltern, wohnt sie zwar ein paar Blocks weiter weg bei ihrer Mum, aber Freundinnen sind wir noch immer und gehen nun zudem auf die gleiche Schule.
»Was hast du gesehen?«, flüstert Jill mir zu.
Sie kennt mich zu gut.
»Es ist albern, aber ich dachte, auf der Brüstung da unten saß ein Liebespaar. Ich hatte so ein Gefühl, dass sie auf der Flucht seien. Vor irgendwelchen Männern in Kutten.«
»Klingt spannend.« Sie grinst. »Wurden sie erwischt?«
»Nein, nicht direkt, aber sie sind hier hinuntergesprungen.« Ich blicke zu dem Vorsprung hinter dem Glas, der mich auch dazu gebracht hat, mir den Kopf anzuschlagen.
»Was? In die Themse? Das haben die nie und nimmer überlebt«, ihre Worte versetzen mir einen kleinen Stich. Ja, sie hat recht. Das ist wirklich unmöglich.
»Also, da genieße ich doch lieber die Aussicht hier oben. Mal im Ernst, das ist klasse, oder? Kaum zu glauben, dass wir schon so lange nicht mehr hier waren. Dabei leben wir doch in London. Da brauchen wir erst diesen Schulausflug, um hier raufzukommen.«
Ja, Jill hat recht, die Aussicht ist wirklich unvergleichlich.
»Auf die da könnte ich allerdings echt verzichten.« Jill deutet auf Lilly, die gerade auf die Hauptattraktion hier oben zuschwebt: einen Boden mit eingelassenen Glasplatten. Dabei streicht sie sich lasziv durch das blonde Haar und blickt hinüber zu unserem Guide, der es ihr offensichtlich angetan hat.
Lächelnd stupst Jill mich an und zeigt auf den Glasboden. »Komm, da müssen wir auch rauf. Was meinst du, sollen wir? Was die kann, können wir doch auch.« Sie zupft an meiner dunkelblauen Jacke, die zu unserer Schuluniform des St. Michael’s College gehört, einer alten Traditionsschule mitten in der Londoner City, für die Tante May das Schulgeld bezahlt, was wir uns sonst nicht leisten könnten. Aber sie wollte unbedingt, dass ich auf eine gute Schule gehe.
Ich drehe mich um, und mein Blick gleitet über den