Unendlich funkenhell. Frau Michelle Schrenk

Unendlich funkenhell - Frau Michelle Schrenk


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Doch eins irritiert mich daran: sein Blick kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich habe ihn nur weicher in Erinnerung.

      Er ist nicht viel älter als ich, ich schätze mal höchstens ein Jahr, wenn überhaupt. Wahrscheinlich auch so um die siebzehn. Vielleicht macht ihn ja der harte Ausdruck in seinem Gesicht gerade etwas älter. Ich muss schlucken, als mir auffällt, dass ich ihn etwas zu lange anstarre.

      »Bist du dann fertig?«, brummt er.

      »Was?«

      »Du starrst mich an.«

      Sofort schießt mir die Röte auf die Wangen. »Ich starre dich nicht an.«

      Er legt den Kopf schief, antwortet aber nichts. Stattdessen gleitet sein Blick über mich.

      Verlegen deute ich auf das Kästchen. »Sorry, das wollte ich echt nicht. Aber ich habe dich wirklich nicht gesehen. Es ist sicher halb so wild, nur ein kleiner Sprung, schätze ich und …« Erst jetzt merke ich, wie schnell ich rede.

      Er sieht mich argwöhnisch an. »Ach ja?«

      Ich bücke mich rasch, um das Kästchen aufzuheben. Doch genau in diesem Augenblick geht er ebenfalls in die Knie und greift danach. Es sind nur Sekundenbruchteile, ein winziger Wimpernschlag, in dem sich unsere Fingerspitzen berühren. Doch was nun passiert, ist groß und merkwürdig zugleich. Mit einem Mal ist da ein heller zarter Glanz, wie im Zeitraffer verändert sich die Umgebung. Gebäude, die gerade noch da waren, verschwinden, werden kleiner, und inmitten von alldem ist da plötzlich wieder dieses Liebespaar, das auf der Flucht zu sein scheint. Die Bilder nehmen Form an, werden hell und ziehen mich mit sich.

      Ein Junge und ein Mädchen, die auf der Tower Bridge sitzen.

       »Alan«, sagt sie und sieht ihn an. »Was glaubst du, wie es in der Zukunft sein wird?« Ihre Finger verweben sich zart mit seinen, dann zieht sie ein kleines silberfarbenes Etui aus ihrer Manteltasche und betrachtet es nachdenklich. »Es war so schön in Paris, und jetzt soll das alles vorbei sein? Einfach zu Ende?«

       »Mach dir keine Sorgen«, antwortet er, »es wird sicherlich alles gut werden. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.«

      »Das klingt aber schön«, sagt sie und er lächelt.

       »Ja, ist von einem gewissen Oscar Wilde, hab ihn neulich getroffen. Netter Mann.«

      Sie lächelt.

      »Klingt nach Worten, an die man sich mal erinnern könnte«, sagt sie und atmet tief durch.

       »Meinst du, man wird sich an uns erinnern?«

       »Ja, natürlich glaube ich das.«

      Seine Stimme ganz nah an ihrem Ohr zu spüren, wirbelt die Gefühle in ihrem Bauch umher, und sein Atem schenkt ihr ein wenig von der vertrauten Wärme, die sie gerade so dringend braucht. »Ich hoffe es«, sagt sie so sehnsuchtsvoll, als würden die beiden nicht hier oben in schwindelerregender Höhe auf der Tower Bridge sitzen und in die Dunkelheit der Stadt unter ihnen blicken.

       »Ja, es wird so sein.« Er stupst sie mit der Nase an. »Auch wenn wir es nicht herausfinden, unsere Nachfahren werden es tun. Und sie werden das Rätsel lösen. Das ist ein Trost. Also sei jetzt nicht traurig, ja?«

      Sie seufzt. Er hat recht, dennoch ist das alles leichter gesagt als getan, wenn man am Abgrund steht und weiß, dass nichts mehr von einem übrig bleiben wird, als ein Echo in der Zeit.

      »Sieh nur, es wird Tag«, sagt er leise.

      Und tatsächlich, ganz langsam erwacht London zum Leben, und die Strahlen der Morgensonne tränken den Himmel in ein leichtes Gold. Jedes Dach, jeder Weg und natürlich auch die Themse werden nun vom warmen Licht überzogen.

      Doch zu schnell geht der Moment vorbei, denn plötzlich sind da Geräusche. Es kracht, Gepolter ist zu hören. Sie sind da, sie haben sie gefunden.

      Er steht auf, reicht ihr die Hand und zieht sie fest an sich, während sie den Kopf an seine Brust legt. Sein Herz schlägt schnell, so schnell wie ihres.

      »Wenn es schon sein muss, dann hier. Hier an diesem Ort, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind«, flüstert sie.

       Dann steigen sie auf das Gitter und klettern über die Brüstung der Brücke. Der Wind wird stärker. Als sie schließlich hinunter auf die Themse blicken, lächelt Alan. Sein Finger wandert unter ihr Kinn, dann beugt er sich zu ihr, und ihre Lippen verschmelzen hauchzart zu einem Kuss. »Ich liebe dich, Claire, aber es wird Zeit, das Jahr 1900 zu verlassen.«

       »Jetzt schon?«

       Er tippt mit dem Zeigefinger erst an ihre Brust, dann an seine, bevor er seine Finger mit ihren verhakt. »Was auch immer geschieht, du und ich, wir sind unendlich, für alle Zeit. Wo du bist, da bin auch ich. Ich komme immer wieder zu dir zurück, so soll es sein.«

      »Und ich zu dir«, raunt sie ihm zu, während sie seine Augen betrachtet, das wuschelige Haar, das sie so sehr an ihm liebt.

      Erneut poltert es, der Wind wird stärker, unerbittlich, zerrt er an ihnen.

      Und mit einem Mal sind sie da. Männer, verhüllt von Kutten. Einer von ihnen trägt etwas Goldenes an seinem Umhang, ein merkwürdiges Zeichen, durch das er unter den anderen hervorsticht. »Nein!«, ruft er noch.

      Nun geht alles ganz schnell. Claire und Alan stürzen hinab in die Tiefe, das kalte Wasser der Themse umhüllt sie, und es bleibt nichts als Schwärze zurück.

      Doch die Dunkelheit ist nicht von Dauer, denn nach einigen Minuten steigen zwei Funken aus dem Wasser, ein blauer und ein roter. Kurz strahlen sie hell auf, ehe sie in der Weite verschwinden.

      Mit einem Ruck zieht es mich zurück. »Scheiße, was war das?«, flüstere ich. Das Gefühl ist noch immer so greifbar, die Bilder beinahe real. Genauso wie die Spannung, die plötzlich in die Gesichtszüge des Jungen mir gegenüber tritt. Wie lange war ich in den Bildern versunken? Er mustert mich für ein paar Augenblicke, bevor er sich abwendet und sich dem Kästchen widmet.

      »Scheiße, allerdings, du sagst es.«

      »Hast du es auch gesehen?«, frage ich atemlos.

      Doch er verzieht das Gesicht. »Keine Ahnung, wovon du redest, aber wenn du das hier meinst …« Er deutet auf das Kästchen. »Ja, das habe ich gesehen. Ich bin ja nicht blind. Da ist ein Riesenriss im Etui!«

      Etui? Wer benutzt dieses Wort? Er hat also echt nichts von diesen Bildern mitbekommen? Nichts von dem Paar, dem Licht, nichts von Alan und Claire, die sich allem Anschein nach hier hinuntergestürzt haben?

      »Nein, ich spreche von dem Liebespaar. Und dieses … Leuchten?«, frage ich und ärgere mich sogleich, weil er mich ansieht, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Im Blau seiner Augen blitzt Verwunderung auf.

      »Ähm, nein?«

      Okay, ich muss total bescheuert auf ihn wirken. Warum sollte er auch etwas gesehen haben?

      »Klingt verrückt, oder?«

      »Nein, das klingt total plausibel«, antwortet er, während sich Überheblichkeit in seinen Blick mischt. »Du warst also von mir geblendet? Alles klar!«

      Blödmann, das habe ich doch gar nicht gesagt!

      »Ha, ha, sehr lustig. Kann man das nicht irgendwie ersetzen?«

      Daraufhin beugt er sich plötzlich zu mir vor, weiter, noch weiter.

      Sein Atem streicht beinahe über meine Lippen, so nah ist er mir jetzt.

      Mein Herzschlag beschleunigt sich. Was tut er da? In meiner Brust hämmert es immer heftiger. Irritiert hebe ich die Hand.

      »Ähm, was tust du da? Damit ersetzt man das Kästchen nicht!«

      Er sieht mich fragend


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