Unendlich funkenhell. Frau Michelle Schrenk
und blicke in stechend grüne Augen, die zu einem Jungen gehören. Sein Gesicht ist kantig, seine Haare hellbraun. Er trägt ein blaues Hemd und hält ein gelbgrün gestreiftes Tuch in der Hand.
»Der Schal lag da auf dem Boden, und ich dachte, ich frage dich mal.« Seine Stimme ist tief, und er lächelt mich an. Ein nettes Lächeln. Sofort fallen mir seine geschwungenen Lippen auf.
Ich schüttele den Kopf. »Nein, der gehört mir nicht. Trotzdem danke.«
»Okay, dann hat ihn wohl jemand anderes verloren. Sorry, dass ich dich gestört habe.« Seine Augen haften auf mir, und für einen winzigen Moment kommt es mir vor, als hätte ich ihn ebenfalls schon mal gesehen.
»Kein Problem. War ja nett von dir.«
Er legt den Kopf schief und grinst. Merkwürdig. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht, woher kenne ich ihn nur?
»Du gehst auf das St Michael’s College, oder?«
Ich deute auf das Wappen an meiner Schuluniform. »Du scheinst ein Hellseher zu sein.«
Erneut huscht ein Lächeln über sein Gesicht, während er in seine Hosentasche greift und etwas daraus hervorzieht. »Hier, für dich, falls du am Samstag noch nichts vorhast. Und bring ruhig eine Freundin mit, ich werde auch da sein. Soll eine richtig coole Party werden, deswegen ist der Einlass begrenzt.« Er reicht mir zwei bunte Karten, und ich lasse meine Augen darüberwandern.
Erst jetzt verstehe ich, was das ist. »Eintrittskarten ins Closer? Und die gibst du mir einfach so?«
»Na ja, nicht einfach so.« Er räuspert sich. »Eigentlich würde ich dich gern kennenlernen. Du bist mir schon auf der Tower Bridge aufgefallen.«
Daher kenne ich ihn also. Na klar, der Typ mit dem blauen Hemd.
»Ich bin übrigens Nathan, damit du weißt, nach wem du Ausschau halten musst.« Zu meiner Verwunderung steckt er den Schal ein.
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. »Kann es sein, dass der Schal dir selbst gehört?«
Seine Augen funkeln mich an, und er zwinkert mir zu. »Wäre möglich.«
»Dann war das mit dem Schal nur ein Vorwand?«
»Kann schon sein. Also dann, wir sehen uns.« Mit diesen Worten wendet er sich ab und geht davon, während ich dasitze mit einem etwas zu schnell schlagenden Herzen, auf die Karten in meiner Hand starre und gar nicht weiß, wie mir geschieht.
»Wow, der war ja süß. Was wollte er denn?« Als Jill zurückkommt, sieht sie mich fragend an, und ich reiche ihr die Karten. »Nein, das gibt’s nicht!«, kreischt sie. »Karten für die Party im Closer? Woher hast du die? Von ihm?«
Ich nicke.
»Was? Die hat der Typ dir einfach so gegeben?«
»Ja, keine Ahnung warum«, ich lächle sie schief an. »Aber ich vermute mal es war Schicksal.«
Kapitel 3
Als ich vor unserem Backsteinhaus in der Tooley Street angekommen bin, ziehe ich den Schlüssel aus meiner Tasche und schiebe ihn ins Schloss. Unser Haus ist nicht das schönste, trotzdem mag ich es. Es ist noch eines der alten Häuser, bei denen die Mieten erträglich sind, wenn man sie sich teilt. Und die Miete ist auch nur deshalb so niedrig, weil Tante Mays Familie das Haus schon lange bewohnt. Ich drücke die schwere Haustür aus dunklem Holz auf und komme in unseren schmalen Flur. Man kann von dort aus direkt ins Wohnzimmer blicken, wo Tante May auf dem Sofa sitzt und in einer Strickzeitschrift blättert. Ein beißender, etwas säuerlicher Duft steigt mir in die Nase. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sie gekocht hat – oder wie auch immer man das nennen mag.
Sie hebt den Kopf. »Hallo, Liebes. Na, wie war der Ausflug?«
»Ganz okay«, antworte ich und stelle mich in den Türrahmen. »Diese Glasplatten im Boden waren mir irgendwie nicht geheuer.«
»Echt? Dabei hast du doch sonst keine Angst.«
Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung, war einfach merkwürdig.«
»Na ja, ich kann dich verstehen, für mich wäre das auch nichts. Ich frage mich, wer das braucht. Aber gut, für die Touristen ist es perfekt … Hast du Hunger? Ich habe eine Art Auflauf gemacht, und zum Nachtisch gibt’s Cookies. Der Auflauf ist selbst gemacht, die Cookies habe ich gekauft.« Wusste ich es doch. Deswegen der Geruch im ganzen Haus.
Sie bemerkt wohl, dass ich nicht wirklich weiß, was ich antworten soll, und lacht. »Im Kühlschrank habe ich auch ein paar Sandwiches für dich vorbereitet, falls du den Auflauf nicht magst. Deine Mum kommt heute leider wieder recht spät nach Hause.«
Wissend nicke ich. Mum kommt ständig spät – leider. Aber im Hotel ist immer unheimlich viel zu tun. Sie arbeitet im Langham, einem der bekanntesten Hotels der Stadt, in dem schon Monarchen und Staatsoberhäupter aller Länder genächtigt haben. Auch Oscar Wilde, Mark Twain, Angelina Jolie und Colin Farrell haben dort logiert. Ich weiß noch, wie Jill beinahe durchdrehte, als Mum davon erzählte. Sie wollte, dass Mum ihr unbedingt Bescheid gibt, wenn sich mal wieder ein Promi dort einmieten sollte.
»Danke, Tante May.« Ich gehe in die Küche und werfe einen kurzen Blick auf den Auflauf, der nicht nur merkwürdig riecht, sondern auch so aussieht. Eine Art Auflauf – ja, das trifft es in der Tat. Und so entscheide ich mich spontan für die Sandwiches und nehme mir dazu noch ein paar Cookies aus der Keksdose. Wie auf Kommando beginnt mein Magen zu knurren.
Tante May ist mittlerweile wieder in ihre Zeitschrift vertieft, und ich balanciere alles in Richtung Treppe, die hinauf in den ersten Stock führt, wo sich auch mein Zimmer befindet.
Den Treppenaufgang hat Tante May mit einer Unmenge von Fotos und Gemälden geschmückt. Ich muss zugeben, es sind wirklich hübsche Bilder darunter. Einige zeigen das alte London, andere Familienangehörige aus früheren Zeiten, unter anderem Tante Mays Schwester Kitty, die wohl bei einem U-Bahn-Unglück ums Leben kam. Tante May hat schon öfter erwähnt, dass ich sie an Kitty erinnere. Wir sehen uns tatsächlich ein bisschen ähnlich: Wir haben die gleiche Haar- und Augenfarbe. Noch dazu hat auch sie ein Muttermal am Kinn. Auf dem Foto sieht sie glücklich aus. Anfangs hatte ich beim Betrachten der Bilder oft ein mulmiges Gefühl, weil die meisten Menschen darauf schon tot sind – unter anderem mein Dad. Aber mittlerweile finde ich es schön, weil sie so nicht vergessen sind. Genauso wie Urgroßtante Claire, eine hübsche Frau, von der Tante May immer behauptet, dass ich ihr ebenfalls irgendwie ähnlich sehe. Soweit ich weiß, ist sie leider auch schon als junge Frau gestorben.
Als ich mein Zimmer betrete, schimmert das Licht von draußen herein. Während mein Blick zu dem großen Baum vor dem Fenster schweift, stelle ich den Teller auf dem hübschen geschnitzten Nachttisch ab. Ich mag dieses Zimmer. Ursprünglich war es wohl mal Tante Mays Arbeitszimmer, weswegen darin auch ein alter, massiver Schreibtisch steht. Doch nicht nur die Aussicht auf den Baum und die Straße ist schön. Auch das Bett ist groß und wirklich bequem, der Schrank ist aus hellem Holz und hat verzierte Intarsien an den Seiten.
Nachdem ich meine Tasche auf den Boden fallen gelassen und es mir im Schneidersitz auf dem Bett gemütlich gemacht habe, nehme ich mir ein Sandwich und schalte kauend den Fernseher ein. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, nicht mehr daran zu denken, aber irgendwie schweifen meine Gedanken doch immer wieder zu dem Jungen auf der Tower Bridge ab, gefolgt von den Bildern des Liebespaares, die ich gesehen habe, als sich unsere Finger berührten. Sie waren so real.
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich stehe auf und hole mein Zeichenbuch vom Schreibtisch. In den letzten Jahren habe ich viele Bilder darin verewigt. Bilder, die plötzlich vor meinem geistigen Auge auftauchten – doch niemals waren sie so überdeutlich wie heute.
Als ich durch die Seiten blättere, bleibt mein Blick auf der Zeichnung eines Liebespaares hängen. Ich habe sie schon vor längerer Zeit gemalt und schon gar nicht mehr daran gedacht. Sie zeigt die beiden umgeben von Rosen in einem prächtigen Garten sitzend. Nun fällt mir auch wieder ein, wie ich darauf gekommen bin. Das Motiv