Eine Leiche zum Tee - Mord in der Bibliothek. Alexandra Fischer-Hunold
Kapitel 28
Im Theatersaal der Bilton Boarding School herrschte fast absolute Dunkelheit. Nur auf der Bühne brannte eine altmodische Stehlampe. Sie warf ihr Unheil verkündendes Licht auf den Kamin, das Ölgemälde darüber und den leicht schräg vor dem Kamin angeordneten Ohrensessel. Dem aufmerksamen Beobachter entgingen natürlich die übereinandergeschlagenen Beine nicht, die aus dem Sessel hervorragten.
Alles war bereit für die Mordszene in Olivia Hartcastles Theaterstück Mord in der Bibliothek. Genauso wie es das Skript in den Händen meiner im Notfall soufflierenden Freundin Willow vorsah, huschte ein gebückter Schatten auf den Kaminsims zu und öffnete die längliche Schatulle, um ihr das Testament von Lord Willsborough zu entnehmen. Scheinbar unbemerkt, schob sich ein Pistolenlauf hinter der Rückenlehne des Sessels hervor, dann eine Hand, die zu einem Arm wurde, und schließlich die ganze Silhouette des Mörders. Seine Stimme triefte vor Verachtung, als er langsam auf sein Opfer zuschritt und skriptgemäß flüsterte: »Hast du wirklich gedacht, du könntest damit einfach so davonkommen? Danke, dass du es mir so leicht machst!«
Ein Schuss zerriss die atemlose Stille. Ein, vielleicht zwei Sekunden vergingen. Das Opfer schwankte leicht, bevor es sich an die Brust griff. Es sackte auf die Knie und japste nach Luft. Theaterblut quoll zwischen den zusammengekrallten Fingern hervor. Die Augen des Opfers richteten sich auf den Schützen. Das perfekte Mienenspiel wechselte von fragend-erstaunt zu blankem Entsetzen. Ein tastender Griff nach der Kaminwand verfehlte sein Ziel. Das Opfer verdrehte die Augen und fiel auf die Bühne, wo es mit dem Gesicht nach unten regungslos liegen blieb.
Diesmal gab es aber wirklich nichts an der Darbietung zu meckern, fand ich. Doch der markerschütternde Schrei belehrte mich eines Besseren.
Denn der stand nicht im Skript!
Mal ehrlich! Ich hätte es nicht im Traum für möglich gehalten, dass mich das neue Schuljahr gleich mit vollem Karacho in den nächsten Mordfall katapultieren würde. Wie hätte ich auch? Wo mir doch der Mord an meiner Klavierlehrerin und alles, was danach kam, immer noch tief in den Knochen steckte. Angefangen hatte das Schuljahr sehr verheißungsvoll, nämlich mit dem Auftauchen von Willow. Sie war neu an der Bilton Boarding School und in meiner Klasse. Wie ich war sie eine externe Schülerin aus Ashford-on-Sea, und das, obwohl sie mir noch nie zuvor im Dorf begegnet war.
»Wie das sein kann?«, schmatzte sie zwischen den Bissen, mit denen sie einen Heidelbeermuffin genüsslich verputzte. »Ganz einfach. Scheidungskind, das hauptsächlich bei seiner Mutter in London lebt, wenn es nicht gerade im Internat in Schottland weilt. Mutter Museumskuratorin, die schrecklich viel zu tun hat und meistens auf der Jagd nach Kunstwerken durch die Weltgeschichte jettet. Vater bodenständiger Tierarzt, der sich nach langen Jahren allein in eine Hausärztin aus Ashford verliebt und diese vom Fleck weg heiratet. Das Ergebnis: eine Tierarztpraxis für Ashford, …« (Anmerkung von mir: dass wir seit Neuestem über einen eigenen Tierarzt verfügten, hatte der Dorfklatsch natürlich schon verkündet und ich fand das super, denn bisher hatte Tante Clarissa meinen Irish Terrier Percy und mich immer über die Küstenstraße zu dem alten, brummigen Tierarzt nach St Austell fahren müssen) »… eine voll nette Stiefmutter, ein neues Zuhause und hoffentlich eine neue Freundin, mit einer großen Leidenschaft fürs Backen. ICH habe dich nämlich schon mal gesehen, auch wenn du mich nicht bemerkt hast. Dazu warst du viel zu sehr mit deinem Wutanfall über das bockige Internet beschäftigt. Das war kurz vor den Sommerferien, als ich für ein Wochenende zu Besuch hier war, um mir mein zukünftiges Zuhause anzusehen. Mein Pa hat mich ins Little Treasures geschleift, so heißt doch euer Tearoom, nicht wahr? Dort habe ich die Zitronentarte gekostet. Ein wundervolles Zusammenspiel zwischen süß-sauer und erfrischend. Da hätte ich mich glatt reinsetzen können! Ein Traum von einem Sommerkuchen!« Muffinkrümel blitzten zwischen Willows Zähnen auf, als sie mich mit glitzernden Augen angrinste. »Ich gestehe es besser gleich: Ich bin ein totaler Süßigkeitenjunkie mit Vorliebe für Liebesromane und ein Fashion Victim bin ich noch dazu!«
Ab dem Tag waren wir unzertrennlich. Die unrühmliche Rolle, die meine Schokomousse-Erdbeer-Torte in dem ersten Mordfall gespielt hatte, den Ashford-on-Sea seit über achtzig Jahren gesehen hatte, war Willow natürlich bekannt. Aber von meinem Finn wusste sie nichts. Genauer gesagt: von Finn und mir. Finn Pears und Amy Fern. Als leidenschaftliche Liebesromanleserin lauschte sie mit großen Ohren und glühenden Wangen, als ich ihr davon erzählte, dass die gute Seite an der ganzen schrecklichen Sache die war, dass Finn und ich jetzt zusammen waren. Nachdem ich ihr dann aber ausführte, dass Finn seit dem Sommer in London lebte, um dort Musik zu studieren, verdüsterten Unheil verkündende Wolken ihr Gesicht.
Tja, sie hat es eben gleich geahnt und auch gesagt, dass Liebe auf Entfernung in unserem Alter nicht halten kann. Hat sie auch nicht. Leider! Nach vier Wochen – nach nur vier Wochen! – hat Finn mir erklärt, dass er nicht so häufig nach Hause kommen kann, weil er sich ganz auf sein Studium konzentrieren muss, und dass er fair sein will und sich deswegen von mir trennt.
Wie konnte er mir so was antun? Die Tränen standen ihm in den Augen, als er mir sagte, dass er diese Entscheidung aus Liebe trifft. Aber wenn man jemanden liebt, dann tut man ihm doch nicht weh!! Ich liebe ihn und deshalb wäre es mir gleichgültig gewesen, wie häufig wir uns gesehen hätten. Hauptsache, wir wären zusammen gewesen. Schöne Liebe!
Bitte, dann soll er doch in London bleiben und sich die Finger wundspielen!
Willow hat mich in den Arm genommen und gesagt, der erste Liebeskummer sei der schlimmste. Ich hoffte sehr, dass sie recht damit behält. Ansonsten müsste ich nämlich alles tun, um mich niemals, absolut niemals wieder zu verlieben. Denn mein kleines Herz schreit mit jedem Schlag verzweifelt nach Finn, der nicht kommt, um es zu trösten, und das tut schrecklich weh.
Vor drei Wochen bin ich vierzehn geworden. Endlich. Feiern wollte ich aber nicht. Ohne Finn gab es für mich keinen Grund zu feiern. Nie wieder!
Wie gut, dass ich Percy hatte. Der war immer für mich da, hörte sich mit großen, treuen Hundeaugen mein Gejammer an, legte seine Pfote auf meinen Schoß und schleckte mir die Tränen vom Gesicht. In Hundesprache hieß das: »Ich hab dich lieb! Ganz schrecklich lieb! Und dieser Finn ist ein ausgemachter Idiot!« Percy würde mich niemals verlassen oder mir wehtun. Niemals!
Aber Finn war einfach … ach … Finn war perfekt.
Verdammt! Ich musste aufhören, so etwas zu denken, und mich ablenken. Genauso, wie es mir auch Tante Clarissa geraten hatte.
Zum Glück stand die Ehemaligenwoche unmittelbar bevor, sodass ich etwas hatte, in das ich mich voll reinstürzen konnte, um meine zerschmetterte große Liebe zu vergessen.
»Natürlich hast du keine Ahnung davon, wie sen-sa-tio-nell die Ehemaligenwoche immer ist, Willow. Wie man hört, kommst du ja von so einem Internat mit Massenbetrieb. Da gab es so ein klei-nes, aber fei-nes Event bestimmt nicht. Und ich kann dir versprechen, dieses Jahr wird voll meeee-ga!«, hatte Poppy Pankhurst Willow gleich an ihrem ersten Tag auf der Bilton erklärt. Und da war schon der Beweis, dass Willow und ich zu Seelenverwandten bestimmt