Meine Augen sind hier oben. Laura Zimmermann

Meine Augen sind hier oben - Laura Zimmermann


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mir den gekrümmten kleinen Finger ein und der Ball schlingert nach rechts.

      Beim dritten Mal prallt er von meiner Hand ab und knallt mit solcher Kraft nach unten, dass er fast einen Krater in den Boden der Sporthalle schlägt. (Okay, natürlich nicht, aber er schlägt wirklich hart auf.) Der Ball wäre nur übers Netz gekommen, wenn es direkt vor mir und dreißig Zentimeter hoch wäre, aber trotzdem lässt das Geräusch des Aufschlags meinen ganzen Körper kribbeln.

      Ms Reinhold lacht. »Jetzt hast du es kapiert. Es geht nicht nur um deinen Arm. Die Kraft kommt von deinem ganzen Körper.« Ich ziehe meinen BH an beiden Seiten zurecht, während sie der Klasse zuruft: »Das war’s – ab in die Umkleide.« Die anderen lassen die Bälle einfach über das Spielfeld kullern und marschieren aus der Halle.

      »Das war ganz schön cool, oder?« Jessa stößt mit ihrer Faust gegen meine und verzieht sich auch in die Umkleide.

      »Walsh«, ruft Ms Reinhold. Ich strahle sie aufgeregt an. Jetzt fragt sie mich bestimmt, ob ich mich in der Volleyballmannschaft versuchen will. Aber mein Glücksgefühl hält nicht lange, denn mein Hals und meine Schultern tun schon nach dieser einen Stunde weh und dann fällt mir auch noch ein, wie die Volleyballtrikots aussehen.

      Sie sagt aber gar nichts über die Mannschaft. Sie sagt noch nicht einmal, dass ich das gut gemacht habe. Sie hat ihr Handy in der Hand und fragt mich nach meiner E-Mail-Adresse. »Ich schicke dir einen Link.« Sie drückt mit ihrem Daumen ein paarmal aufs Display und steckt ihr Handy wieder zurück in die Tasche. »Genau genommen ist das keine Schulangelegenheit, also verpetz mich nicht«, sagt sie und zwinkert mir zu.

      Ich drehe mich um und sehe, dass Nella noch mit einigen Jungs unterm Basketballkorb steht. Ms Reinhold ruft rüber: »Der Letzte in der Halle nimmt die Netze ab und räumt die Bälle weg, und nein, ich entschuldige euch nicht, wenn ihr zu spät zur nächsten Stunde kommt.«

      Alle Jungs bis auf Griffin gehen zum Ausgang. Nella hält ihn am Arm fest, hindert ihn daran, die Sporthalle vor mir zu verlassen. »Lauf, Greer. Ich halte ihn fest«, ruft sie und lacht. »Lauf!«

      10

      Im Sommer nach der zweiten Klasse habe ich ein Video von Emma Watson gesehen, als sie richtig kurze Haare hatte, und habe meiner Mutter gesagt, dass ich mir die Haare schneiden lassen will. Kurz bevor die Schule wieder anfing, brachte sie mich zum Friseur und der verpasste mir einen Kurzhaarschnitt. Am Hinterkopf und über meinem rechten Ohr scherte er mir die Haare auf nur wenige Millimeter zurück und ließ auf der linken Seite eine lange Strähne stehen, so eine, die mir immer ins Gesicht fiel. Ich weiß noch, wie leicht sich mein Kopf danach anfühlte und wie schnell die Haare nach dem Baden trockneten. Wenn ich jetzt Fotos von damals sehe, gefällt mir die Frisur ausgesprochen gut. Ich sah aus wie ein süßer kleiner Junge.

      Nella, die damals vor den Sommerferien ganz lange Haare gehabt hatte, kam zufällig auch mit einem Kurzhaarschnitt wieder zur Schule. Mit einer langen Strähne auf einer Seite. Es war nicht exakt die gleiche Frisur, weil ihre Haare dunkler sind als meine und ihre Strähne ihr rechts und meine mir links ins Gesicht fiel. Außerdem hielt sie niemand für einen Jungen, da sie schon Ohrlöcher hatte.

      Die Frisuren waren sich aber doch so ähnlich, dass uns andere Eltern und Vertretungslehrer für das restliche Schuljahr ständig verwechselten. Sie nannten mich Nella und sie Greer (oder mich Ella und sie Gwen, weil sich die Leute unsere Namen nicht merken konnten). Schüler aus anderen Klassen sagten häufig: »Du siehst genauso aus wie dieses andere Mädchen.« Und manchmal wurden wir gefragt: »Habt ihr das so geplant?«

      Bei manchen Kindern hätte das zu einem Konkurrenzkampf geführt. Das coolere oder süßere oder gemeinere Kind würde sich gegen den Vergleich wehren, versuchen, sich abzuheben, oder behaupten, es wurde nachgeahmt. So etwas passiert, wenn Leute, die sich ähnlich sind, in einen Topf geworfen werden. Die zwei kleinsten Jungen in der Klasse hassen sich immer. Die drei Kinder mit der Erdnussallergie können sich gegenseitig nicht ausstehen.

      Aber Nella hat diesen Zufall gefeiert. Gleich am ersten Tag, als wir uns gesehen haben, kam sie zu mir und rief: »Greer! Wir sind Frisur-Zwillinge! WIR SIND FRISUR-ZWILLINGE!«, nahm mich bei den Händen und hüpfte auf der Stelle, als wäre es das Tollste, was sie je erlebt hatte. Dabei kannten wir uns nicht mal richtig. »UND WIR HABEN FAST DEN GLEICHEN RUCKSACK!« Ihr Fjällräven-Rucksack war hellgrün mit gelben Trägern, meiner hellblau mit gelben Trägern.

      So richtig befreundet waren wir dadurch zwar nicht. Aber zumindest für die nächsten Monate waren wir, jedenfalls aus ihrer Sicht und der aller anderen, die Frisur-Zwillinge.

      Und deshalb ist es jetzt auch besonders komisch, dass sie der schönste Mensch auf meiner Schule ist und dass ich … ich bin. Die Vorstellung, dass jemand Nella und mich heute noch verwechseln würde, ergibt genauso viel Sinn, wie eine Gazelle mit einem Nashorn zu verwechseln. (Ich bin natürlich das Nashorn. Ein Sumatra-Nashorn, das mit zwei Hörnern.)

      Wir ließen unsere Haare aber beide wieder wachsen, denn wenn man ein Kind ist, ist so eine Frisur irgendwie Quatsch. Man kann die Haare nicht zusammenbinden, sodass sie einem ständig im Gesicht hängen, was total nervt. Hätte ich Stirnbänder nicht für mich entdeckt, hätte ich die dritte Klasse nicht überlebt. Nellas Haare wuchsen schneller, und als wir in die vierte Klasse kamen, konnte sie sich winzige französische Zöpfe flechten. Nella wuchs in jeder Hinsicht schneller, aber bei ihr hörte es da auf, wo es aufhören sollte.

      Wir haben nie darüber geredet, aber ich glaube, sie fühlt sich durch die Sache mit mir verbunden. Wir haben eine gemeinsame Geschichte. Wir hängen deswegen nicht zusammen rum oder sind über die sozialen Medien hinaus befreundet. Aber irgendwas sind wir. So ist das mit Nella und allen anderen. Sie hat so eine Art, anderen Menschen zu begegnen, dass die gerne in ihrer Nähe sind. Sie wollen nicht nur mit ihr ausgehen, sie wollen auch einfach an ihrer Seite sein, um mit ihr rumzuflachsen oder ihr Frisur-Zwilling zu sein. Alle sind willkommen in ihrem Universum, in dessen Zentrum sie sich sehr wohlfühlt.

      Vielleicht ist es das, worum ich sie noch viel mehr beneide als um ihren vollkommenen Busen.

      Sollte ich eines Morgens in Nellas Körper aufwachen, wäre ich vielleicht noch immer ein einziges Durcheinander. Aber bei Gott, ich würde es gerne ausprobieren.

      11

      Seit der Sache mit Tylers Eierbecher letzte Woche redet Jackson jeden Morgen vor der ersten Stunde mit mir. Deutsch III ist drei Türen von meinem Mathekurs entfernt und wir sind beide meistens früh da. Er berichtet von seinen Fortschritten bei der Eingewöhnung und ich versuche nicht die ganze Zeit auf die bezaubernde Locke hinter seinem Ohr zu starren.

      Wir reden über Quinlans Probleme in der dritten Klasse. Alle mussten ein Plakat machen, auf dem drei Tatsachen über einen Bundesstaat stehen sollten.

      »An die Hausaufgabe kann ich mich noch erinnern«, sage ich. Quin geht auf dieselbe Grundschule, auf der Tyler und ich waren, aber inzwischen gibt es viele neue Lehrer. »Alle wollten Illinois, deswegen hat meine Lehrerin gesagt, niemand bekommt es. Ich habe dann schnell Delaware gemacht und dann noch Illinois.«

      »Nicht alle fünfzig?«

      »Es gab nicht genug Stifte.«

      »Quin wollte aus irgendeinem Grund Maine, aber zwei Mädchen hatten schon Maine, deswegen hat die Lehrerin ihr Ohio gegeben. Ich glaube, das war nett gemeint, weil wir ja da herkommen. Aber Quin hat über ganz Ohio Kackhaufen gemalt, das Plakat hinterher in kleine Stücke geschnitten und sie dem Klassen-Meerschweinchen in den Käfig gestreut. Dann hat sie die Lehrerin als Vollidiotin beschimpft und ist gegangen.«

      Nach dem, was Jackson mir über den Anruf der Schule bei seiner Mom berichtet hat, fand das wohl niemand sonst so lustig wie ich. Obwohl ich so etwas nie gemacht hätte. Selbst wenn ich alles hinterher hätte wegradieren können, hätte ich mich nicht getraut, Kackhaufen zu malen. »Deine kleine Schwester hat echt Eier.«

      »Eklig. Aber wahr.«

      »Warte mal, warum hatten denn zwei Mädchen Maine? Konnte man sich zusammentun?«

      »Wenn zwei Schüler


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