Aufschrei. Zela Sol
und vollkommenes Leben zu führen, ist der Antrieb dieses Buches. Er gibt nicht auf, bevor er Heilung findet. Der Wille ist frei, nicht zu manipulieren und unantastbar. Das verleiht ihm eine universelle Macht, die es zu nutzen gilt. Ich rede nicht von mental programmierter Gedankenkraft, die ist zu schwach, zu anfällig. Freier Wille ist eine absichtliche Entscheidung der inneren Natur und in seiner Wirkung mit nichts zu vergleichen. Solch zielgerichtete Absicht haut den stärksten Mann um. Das ist meine Erfahrung. Dafür bin ich tief dankbar.
Der kurze Vorstoß in die Willensstärke (die ich später noch intensiver ausführe, weil sie nach meiner Wahrnehmung fundamentaler Bestandteil des Heilungsprozesses ist) lässt mich auf ein neues altes Feld springen: die Illusion der Leistung. Die Weisheit der Sprache deckt den Betrug schnell auf: Ich muss etwas leisten, um anerkannt, angesehen und schlussendlich geliebt zu werden. Anerkennung, Lob, Ansehen, Bewunderung oder Wertschätzung sind allesamt kleine Zöglinge der Liebe. Ihre maskierten Untertanen. Im Schlussakkord hieße das auf das letzte Teilchen heruntergebrochen: Liebe und das Bedürfnis nach ihr. Die Leistung hat mir all das versprochen und auch gehalten. Die Ausrichtung war klar: immer leistungsfähiger werden.
Kräfte mobilisieren. Stärke demonstrieren. Kein Problem.
Der Grundstein für meinen selbst gemachten Leistungsdruck wurde in dieser Zeit gelegt und zementiert. Von da an war ich im Stress. Ich wollte durch Leistungen so viel Liebe wie möglich anhäufen, auf Vorrat, als Ausgleich, als Pfand. Ein Perpetuum mobile zur Absicherung von Liebe. Vielleicht hätte es bequemere Methoden gegeben. Ich habe diese gewählt. Leistung hat viele Vorteile und attraktive Verbündete: Erfolg, Geld und Streicheleinheiten für das Ego. Wer hat das noch zu bieten? Also, Ziel erkannt. Ich habe mich für ungeheuer pfiffig gehalten.
Ein kleiner Schlaumeier.
Klein und jung.
Klein und verzweifelt.
Ich bin dieser Illusion unheilbar in die offenen Arme gelaufen und habe sie gebeten, mich zu retten. Nach über zwanzig Jahren Leistungsanbetung und Raubbau an Körper und Geist muss ich mir eingestehen, falsch abgebogen zu sein. Liebe habe ich reichlich bekommen.
Ich?
Das leistungsstarke Kind?
Die leistungsstarke Frau?
Ich weiß es nicht. Heute habe ich eine Energiesperre in meinem System, die mein Leisten in Erwartung von Liebe verhindert. Dafür steht keine Kraft mehr zur Verfügung. Ein Überlebensmechanismus, nehme ich an. Ich darf dagegen stundenlang schreiben, ohne müde zu werden oder erschöpft zu sein. Weil die Ausrichtung eine andere ist. Von dir will ich keine Liebe. Du würdest sie mir sowieso nicht geben, für all das, was ich dir zumute. Ich werde selbsterhaltend geschont und meine Energie wird auf der Herzebene rationiert. Sobald ich in meinen alten Leistungsdruck zurückfalle, werde ich umgehend mit Schmerzen und Beschwerden bestraft. Schließlich bin ich jetzt groß, erwachsen und eigenverantwortlich. Bin ich das? Der Welpenschutz ist seit Jahren vorbei. Kurskorrektur. Da lässt meine Seele nicht mehr mit sich reden. Am Ende hat der Wille das letzte Wort.
Wort.
Auf ein Wort zur Entwicklung unseres Patchworkmodells: Der Wortstamm von Patchwork steckt in der Arbeit. Die bessere Begrifflichkeit wäre „Patchhardwork“. Denn genau das ist es: harte Arbeit. Darüber hinaus verlangt es allen Beteiligten ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft, Empathie und Bedürfnislosigkeit ab. Die Bedürfnislosigkeit ist die größte Investition und gleichzeitig eine Gabe. Mein Bruder und ich durften das Bedürfnis nach dem sicheren Schoß der Elterneinheit loslassen, den Rundumschutz. Meine Mama musste sich von dem Bedürfnis glücklich aufwachsender Kinder und einer intakten Familie lösen. Mein Ziehpapa ist ein Sonderfall in der Bedürfnispyramide. Wo kaum ein Bedürfnis befriedigt wird, kann auch keins abgelöst werden. Er kann am wenigsten auf Befriedigung hoffen. Überhaupt sind es viele Bedürfnisse, die nun unerfüllt bleiben und die ich als Kind auch nicht selbst beleben kann. Mein Grundbedürfnis nach Harmonie und einer natürlichen Ordnung ist gestört. Mein seelisches Gleichgewicht ist instabil und mein Sinn für Gerechtigkeit verletzt. Zuspruch, Rückhalt und Ermutigung finden nicht mehr den Weg zu mir. Dringen nicht mehr zu mir durch. Das Gefühl der Zugehörigkeit und des eigenen Platzes weichen meiner Ohnmacht und Orientierungslosigkeit.
Nebel.
Austausch und Kommunikation über das innere Erleben dieser Zeit findet nicht statt. Verbindlichkeit und Geborgenheit schwirren wie leere Worthülsen umher. Beständigkeit steht zum Verkauf. Und die Verlässlichkeit winkt mir zu und sagt Adieu, meine Liebe! Viele kleine schmerzhafte Einbrüche in meinen seelischen Haushalt. Leere Regale im Kaufmannsladen. Bedürfnis-Schizophrenie. Eine Zeit der tiefen Prägung von emotionalen Mustern. Davon bleibt kein Kind auf diesem Planeten verschont. Aber müssen es gleich so viele sein? Mein Prägemechanismus kommt kaum hinterher mit dem Abspeichern von unerfüllten Bedürfnissen und Strategien für einen Ausgleich.
Es herrscht Chaos.
Das ist Psychoterror.
Kein Wunder, dass die Praxen von Therapeuten überlaufen mit Erwachsenen, die überfordert sind mit ihrem verletzten „inneren Kind“ – eine psychisch problematische und hartnäckige Instanz. Auf der Ledercouch erwartet sie die nächste harte Arbeit. Wird es auch irgendwann wieder leicht? Wann darf es einfach sein? Ist Leichtigkeit nicht vorgesehen im Fahrplan von Trennungskindern? Ständig schieben wir die Karre Mist mit uns herum. Auf welcher Schulter dürfen wir sie endlich abladen? Nun gehört nicht mehr den Bauern die Zukunft, sondern den Psychologen. Ich selbst habe ein Psychologiestudium in Betracht gezogen. Als Heiland für meine kaschierten und kompensierten Bedürfnisse. Angeblich keine seltene Motivation für diesen Studiengang. Neben den Trennungskindtraumas gibt es zahlreiche andere Psychosen und Neurosen, die nach Hilfe schreien. Aber das ist jetzt wirklich ein anderes Thema. Ich stecke meinen Kopf wieder in meinen eigenen Schlamm:
Ich war auf dem besten Weg, ein gesellschaftskonformer Mensch zu werden. Angepasst und unauffällig. Die Illusion des glücklichen Kindes wurde immer fester verankert, und mein Umfeld bekam das Abziehbild eines strahlenden Mädchens präsentiert. Keiner kam auf die Idee, dass mit mir etwas nicht stimmte.
„Sie hat das gut weggesteckt mit der Scheidung.“
„Schau sie dir an, ein ganz normales Kind.“
„Und so lebendig.“
Ich gab keinen Anlass, mich und mein Seelenleben zu hinterfragen. Auch wenn jemand nachgebohrt hätte, wäre meine Antwort verleugnend gewesen. Genau diese Verleugnung nutzen viele verletzte Kinderseelen bis ins hohe Erwachsenenalter zum inneren Selbsterhalt. Weder als Kind noch als erwachsener Mensch nehmen sie Hilfe an, wenn sie ihnen geboten wird. Weil sie um die Nichterfüllung wissen. Der Mangel durch den fehlenden leiblichen Elternteil kann nicht therapiert werden. Lediglich im Umgang mit diesem Wissen kann die Reaktion darauf verändert werden. Das bedeutet aber auch zu akzeptieren, dass bei Kindern eine Hilfestellung fast unmöglich ist. Auch Linderung oder Entlastung ist ein austherapierter Mythos.
Es braucht neue Wege. Unbetretene Pfade. Ganzheitliche Ansätze. Kollektive Heilung. Das Herumdoktern am Einzelnen bleibt nachhaltig wirkungslos. Wenn das die Lösung ist, im Erwachsenenalter zermürbende Stunden auf der Psychocouch zu verbringen, um danach wieder nur „halb“ in diese Welt zu wackeln, in der an jeder Ecke und selbst in meinem trauten Heim bei meinem trauten Partner eine Projektionsfläche für meinen Schmerz wartet, dann möchte ich bitte mein Problem zurück. So einfach ist das nicht.
Ich hätte es gerne einfach.
Eine Abkürzung. Schleichweg. Trickserei.
Zauberei.
Ich habe alles probiert, um dieses Gefühl der Trennung vom Hals zu kriegen. Da sitzt es immer noch und lacht mir schadenfroh ins Ohr. Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich mir der Königin ihr Kind. Ich habe der Trennung Namen, Farben, Formen gegeben. Sie bleibt hocken wie ein achtzigjähriger Skatspieler in seiner Stammkneipe.
Stubenhockerin.
„Ich habe dich nicht gerufen“, sage ich.
„Trotzdem bin ich da“, antwortet sie frech.
„Du