Aufschrei. Zela Sol

Aufschrei - Zela Sol


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       GROSSMUTTERSCHUTZRAUM

      Ich bin das Kindeskind meiner Großmama. Zwischen uns liegen zwei Generationen, und das schafft eine gesunde und fruchtbare Nähe. Unsere Verbindung auf Blutsebene lässt uns im gleichen Takt schwingen und mit den Lebenssituationen tanzen. Eine der größten Konstanten in meiner Kindheit: meine Muttermutter. Kleine Partikel des Glücks leuchten in meiner Bauchmitte bei dem Gedanken an unsere gemeinsame Zeit.

      Omazeit.

      Qualitytime.

      Teamplayer.

      Ein Lobgesang wäre schnell angestimmt. Er würde diese Zeilen mit Liebe überschwemmen. Meine Oma, mein Fels in der Ahnenbrandung. Ihr Leben, von vielen Schicksalsschlägen und Leid geformt. Ab dem Tag meiner Geburt bekam ich als Lieblingsenkelin ihre bedingungslose Liebe und Aufmerksamkeit. Ich – das Glückskind. Die Gewissheit, im Großmutternetz aufgefangen und gehalten zu werden, ließ mich wachsen und gedeihen. Hier konnte ich sein, ruhen und Kraft tanken. Das kompromisslose Angenommensein in meinem Wesen genoss ich bei beiden, Oma und Opa. Es ließ mir Flügel wachsen und panzerte mich für die Zeit in der Leistungsgesellschaft. Jeder Besuch bei ihnen stärkte meinen Selbstwert und nährte in mir das Bewusstsein, dass ich richtig bin, genau so wie ich bin. Ich durfte unbegrenzt Liebe empfangen und kindliche Lebendigkeit zurückgeben.

      Gnade.

      Win-win.

      Als Konstrukt unterschiedlicher Interessen und Meinungen waren sich meine Großeltern doch zeitlebens in einem Punkt einig: Sie liebten ihre Enkelin abgöttisch. Und sie liebten authentisch. Maskerade und Heiligenschein entsprachen nicht ihrem Ehekonzept. Ihre gegenseitigen Erwartungshaltungen und Bevormundungen wurden lautstark auch in meiner Gegenwart ausgetragen. Es wurde angeklagt, verurteilt und beschuldigt. Problemorientiert und aus Prinzip. Den Inhalt konnte ich mit Leichtigkeit soufflieren. Es war ein Schauspiel, das traurig und berührend, aber in seiner Wahrhaftigkeit lebendig und ehrlich wirkte. Das Ende jedes Stückes war gleichlautend Einsicht in die idiotische Zeitverschwendung. Sie schmunzelten. Lagen sich versöhnlich knutschend in den Armen und versicherten sich gegenseitig ihre Zuneigung. Auch ich lächelte innerlich. Schlief später friedlich in der Bettritze zwischen meinen Großeltern ein. Vergessen waren die Streitereien.

      Triade desselben Blutes.

      Mein Enkelindasein hatte wertvolle Vorteile: Erzieherische Maßnahmen ragten nicht bis in den Verantwortungsbereich meiner Großeltern. Stattdessen war ich für begrenzte Zeiträume frei. In einem weitläufig gesteckten Verhaltensrahmen hatten mein Geist und mein Körper genügend Auslauf für Experimente und eigene Erfahrungen. Dankbar für diesen Entwicklungsplatz kletterte ich in den Gipfel des großen Walnussbaums, sprang übermütig auf den Garagendächern umher, dekorierte den Schuppen um oder zog mit dem Nachbarsjungen um die Häuser. Dreckig und schlammbeladen kehrte ich glücklich in die Arme meiner Großmutter zurück.

      Nach der Trennung meiner Eltern waren ihre Arme wichtigste Zuflucht und notwendigster Rückzug. Kraftspender und Seelentröster. Viele Wochenenden und einen Großteil meiner Ferien verbrachte ich in meinem Großeltern-Paradies. Es war eine Flucht vor dem Scheiden, ein Hin zu einem „intakten“ Gefüge. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten waren meine Großeltern noch zusammen, als Mann und Frau, als Eltern meiner Mutter.

      Stabilität und Sicherheit.

      Ich hoffte lange zuversichtlich auf die Versöhnung meiner Eltern. Beider Mütter und Väter machten es ihnen vor, so dachte ich. Die Streitereien wären für mich auszuhalten, die Trennung jedoch nicht. Alles würde sich wieder fügen und zusammenwachsen. Meine Oma musste es in mir „gelesen“ haben, so besonders liebevoll und fürsorglich war sie mit mir. Auch wenn ich mir äußerlich nichts habe anmerken lassen, wusste sie es doch besser. Sie kannte ihre Kleine. Mit Humor und Ablenkungsgeschick schaffte sie Dramapausen für mich, zum Durchatmen und Ausruhen. Ihr Lieblingszitat steht heute noch gerahmt im Wohnzimmerschrank meiner Mutter, die es ebenfalls als Lebenscredo übernommen hat:

      „Ich habe oft gelacht, um nicht zu weinen.“

      Meine Oma – du hättest sie gemocht – hatte letztlich selbst allen Grund, das Tränenweglachen täglich zu trainieren. Schon nach dem Tod ihrer Mutter und dann nach dem Ableben ihres Mannes war Humor ihre wertvollste Quelle, um den Schmerz und die Trauer nicht dauernd fühlen zu müssen. Erfolgreich. Erfolglos. Der Trauerberg in ihr wuchs und siegte über ihr Lachen. Die Schmerzen überrollten meine Oma wie eine Dampfwalze – unaufhaltsam. Der seelische Misthaufen quoll über und das pure Gift unterdrückter Emotionen bahnte sich seinen Weg in ihrem Körper.

      Tumore.

      Magen. Leber. Darm.

      Bauchspeicheldrüse.

      Sie hat um ihr Leben gekämpft – ein Leben, das nur noch wenig Glück und Freude versprach. Trotzdem wollte sie es nicht loslassen. Sie glaubte, es wäre ihr letztes, ihr einziges.

      Engel haben sie erlöst.

      Sie wohnt jetzt an einem besseren Ort.

      Ihr Platz hier ist jetzt leer. Unersetzbar. Oft habe ich mich zu ihr hin gewünscht. Wir könnten unsere Lieblingsplätzchen backen, Kokosmakronen, oder Witze erzählen, uns umarmen oder einfach nur festhalten. Lieben. Bis zu unserem Wiedersehen weiß ich mich beschützt. Eine Armada an Engeln und Helfern hat sie zu mir auf die Erde gesandt.

      Ein schwacher Trost.

      Aber ein Trost.

       DER ZIEHPAPA

      Die Einführung meines Stiefpapas in unsere Familie war chaotisch. In meiner Erinnerung kann ich nur auf einzelne Zeitfetzen zurückgreifen. Meine Eltern waren schon geschieden, und durch die partnerschaftliche Neuausrichtung entstand eine ungewöhnliche Wohnsituation. Vier Erwachsene und zwei Kinder tummelten sich auf zweiundsechzig Quadratmetern. Eine Konstellation mit Kommunencharakter. Mein Vater lebte zeitweise gemeinsam mit seiner neuen Madame in unserem Haushalt und mein Ziehpapa Michael wurde dazuquartiert. Geradezu brillant koordiniert.

      Eine illustre Runde.

      Eltern im Doppelpack.

      Die Stimmung untereinander war nach meinem Empfinden offen und liebevoll. Das erleichterte mir die Integration der neuen Gesichter in meine Welt.

      Mit gerade einmal einundzwanzig Jahren hatte Michael den Mut und die Bereitschaft, sich für eine Partnerin – sieben Jahre älter und mit zwei kleinen Kindern – zu entscheiden. Das ist beachtlich. Ob er sich der Herausforderung dieser Verbindung mit Anhängseln bewusst war? Ich glaube nicht. Für ihn war das auch nebensächlich, primär liebte er meine Mama. Und Liebe besiegt bekanntlich alles.

      Wirklich alles?

      Ein Platz im Familienkonstrukt war leer geworden und Michael hat ihn neu besetzt. So einfach ist das? Ist das so einfach? Er hat ihn nach seinen Möglichkeiten ausgefüllt und tut es heute noch. Nicht auf die Art, wie es ein leiblicher Vater für seine Kinder tut. Ein Papa zum Ankuscheln und Festhalten? Nein. Ein Schmusekater war er nicht. Wir begegneten uns immer aus einer gewissen Distanz heraus. Doch er bot uns Kindern praktische Unterstützung bei allen Problemen, Zuverlässigkeit in jeder freien Sekunde. Seine Toleranz gegenüber meinen Eigenarten zeichnete ihn aus. Im Gegensatz zu meinem Vater, der bald weit wegzog, war Michael für mich greifbar. Anwesend.

      Präsent.

      Mein Vater verlor mit der Zeit immer mehr an Gestalt in meinem Erleben, und doch ähnelten sich beide Männer auf verblüffende Weise. Sie verfügten über einen lebenspraktischen Sarkasmus, Geist und Prinzipien. Intelligenz und Belesenheit zählten zu ihren Eigenschaften. Ihr Zugang zum Leben war eher verstandesbetont als aus dem Bauch heraus. Auch in Erziehungsfragen waren sie sich einig: liebevolle Strenge gepaart mit ausgefeilten Argumentationsketten. Prinzipientreu und immer auf die Erweiterung ihres Horizontes bedacht, wurde ich von beiden gefordert und gefördert. Gehorsam wurde mit Respekt belohnt. Das Spiel hatte ich schnell verstanden.

      Michael war im Umgang mit uns Kindern oft bis an die Grenzen verständnisvoll


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