Aufschrei. Zela Sol

Aufschrei - Zela Sol


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verbogen hat er sich nie. Heute weiß ich: Michael hat seine Sache so gut gemacht, wie er konnte. Er hat uns all das gegeben, was ihm möglich war – und manchmal noch mehr. Seine „Leistungen“ verdienen Respekt und Dankbarkeit. Merci. Gracias. Kiitos. Ich verbeuge mich.

      Teilweise darf ich von Spitzenleistungen sprechen – spitze Leistungen, in die all deine Energie fließt, während du nichts zurückbekommst. Stell dir den Schauplatz vor: Zwei aufsässige, rotznäsige, verletzte, aber willensstarke Kinder, die in dir ein Ventil finden, um all ihre Wut und Enttäuschung abzuladen, dich bis an deine Grenzen malträtieren. Du bist ein permanenter Blitzableiter. Arsch vom Dienst. Ein Parasit.

      Kannst du dir das bitte für mich vorstellen. Tust du das, bitte? Dir vorstellen, wie sich das für einen Menschen anfühlen muss. Hast du es? Bist du drin in diesem Gefühl? Traust du dich, es zu benennen? Wenn es einen Namen bekommt, wird es noch schmerzhafter.

      Und jetzt schwenke mit deiner Aufmerksamkeit zu meiner Mama. Was spürt sie, wenn der Mann, den sie liebt und bei dem sie ihr neues Heil gefunden hat, von ihren Kindern massiv abgelehnt wird? Was fühlt sie?

      Was fühlt sie?

      Und was passiert im Innern einer Kinderseele, die glaubt, diesen Eindringling bekämpfen zu müssen, weil sie mit jeder Zelle spürt, dass das nicht richtig ist? Kinder im Krieg gegen das Leben.

      Gift.

      Für alle.

      Nervengift.

      Den Begriff „Ziehpapa“ zu verwenden entschied ich erst in meinen Mittzwanzigern, als ich selbst eine Stiefmutter wurde. Ziehmutter. Das Wort „Stief“ habe ich schnell zum Teufel gejagt. Es ist so negativ belastet, dass es in seiner Umgebung nur Schaden anrichtet, besonders bei Kindern. Das Wort „Stief“ wird im Allgemeinen so selbstverständlich benutzt, wie man Butter auf eine Scheibe Brot schmiert. Unreflektiert und wiedergekäut, ungeachtet dessen, dass der „Stief“ gesellschaftlich abgewertet, ignoriert und bedauert wird. Eine hemdsärmelige Mischung. Ein Mensch dritter Klasse.

      Zu übertrieben formuliert, findest du? Gegenfrage: Hast du andere Erfahrungen gemacht? Der „Stief“ ist ein Außenseiter. Paradox, wo es doch so viele gibt in dieser Welt. Wie viele? Eine Dunkelziffer. Studien über Stieffamilien finden sich nur schwer unter dem kleinen Zeh des Weltweitnetz. Ausgelagert. Nicht von Interesse. Den Stiefeltern ist’s recht. Sie wollen nicht unnötig auffallen, zur Zielscheibe werden und zugeben müssen, dass es Konflikte gibt. Damit stünden sie als Schwarzer Peter oder Schwarze Petra im Fokus und böten dem Publikum Raum, auf ihnen rumzuhacken. Ständig belauert. Eindringlich beobachtet.

      Immer auf der Stiefhut.

      Nach langem digitalen Wühlen bin ich auf die germanische Form „step“ (beraubt) gestoßen und lasse diese treffliche Möglichkeit einer Bedeutungsherkunft für dein eigenes Empfinden hier stehen. Vielleicht hast du eigene Gedankenimpulse dazu. Mitmachen ist ausdrücklich erwünscht.

      Wie war er so, mein Ziehpapa? Anders. Mit anders meine ich eine gewisse Tendenz zum Eigenbrötler. Kein Wir-Mensch. Eigenartig in dem Sinne, dass er seine eigene Art hatte. Wie wir alle. Unkonventionell. Dabei oft doppeldeutig. Er liebte feste Prinzipien, spielte aber ebenso mit tausend Möglichkeiten. Heute starr, morgen beweglich. In Anstand und Moral sehr anspruchsvoll, war Michael bei persönlichen Verhaltensweisen eher freizügig. Zu Tisch gab es hohe Anforderungen an unsere Manieren: Nicht mit vollem Mund sprechen. Am besten ganz still sein während der Mahlzeiten. Das Wasserglas gehörte in die linke Hand, nicht in die verschmutzte rechte, mit der wir unser Brötchen aßen. Im Gegensatz dazu war ihm unsere Unordnung im Kinderzimmer schnuppe. Dort war er ein seltener Gast. Unsere Fernsehausdehnungen wurden mittels Zeitschaltuhr eingehegt. Überhaupt hatte er skurrile Methoden in Sachen Kindererziehung. Darüber wurde mit meiner Mama oft und viel gestritten. Eigentlich hatte er im Umgang mit uns kein Mitspracherecht, Mama ließ ihn ab und zu gewähren, des lieben Friedens wegen oder weil sie zu müde war zum Streiten.

      Fast unverschämt ehrlich neigte er zur Geheimniskrämerei. Wir Kinder wussten kaum etwas von ihm. Vieles blieb spürbar unter Verschluss, war nicht für unsere Ohren bestimmt. Über seine Kindheit wurde nicht gesprochen. Die war tabu. Keine Fotos, keine Geschichten, keine Anekdoten. Mama hat uns heimlich ein paar Details gesteckt, nichts Aufregendes, aber besser als nichts.

      Michael war selbst ein Stiefkind.

      So wie wir jetzt.

      Für alle kein Ponyhof.

      Oft habe ich ihn distanziert und unbestimmt wahrgenommen. Gefühlen stand er skeptisch gegenüber. Dafür verfügte er über ein großes Repertoire an vernunftbetonten und stichhaltigen Argumenten. Er war ein Aufklärer, ein Mann der Ratio. Als Ratgeber war er immer präsent für uns und unermüdlich. Hier konnten wir auf ihn zählen. Bei ihm war darauf Verlass, dass unsere Freiräume gewahrt blieben und wir uns ausprobieren durften. Junges Blut lässt sich nicht aufhalten. Das hat er auch nicht versucht.

      Was mich betrifft, so glaube ich, war er stolz auf mich und meine Entwicklung. Gesagt oder gezeigt hat er es nie. Aber ich bin mir ziemlich sicher. Wie schon angedeutet, ist es schwer, mich nicht zu mögen. Und wenn doch, dann nur für kurze Sequenzen. Dafür umso intensiver.

      Dieser Mann hat sich entschieden, die Verantwortung für uns Kinder mitzutragen. Mit aller Energie und Fürsorge. Als Dank bekam er von uns Kindern stets die Versicherung, nur die zweite Wahl zu sein und es immer zu bleiben. Der Mann, der viel Kraft auf unser Wohlergehen konzentriert hat, stand immer im Seelenschatten unseres illusionierten Vaters, der aber nie da war – eine Nebelfigur im Nebelfeld emotionalen Grauens.

      Eine Anderswelt.

      Blass.

      Blutleer.

      Augenblicklich erscheinen mir die zahlreich versöhnlich stimmenden Wie-Patchwork-gelingt-Ratgeber vor meinem geistigen Auge. Mit ihrer Lilalaune-Energie. Den pädagogisch wertvollen Tipps, die wie Fettaugen an der Oberfläche einer Suppe schwimmen. Nippes. Unerträglich lächerlich. Schade ums Papier. Ich bin so verdammt wütend. Diese Kurzsichtigkeit macht mich aggressiv. Ich bin mir sicher, dass nicht ein Einziger Michael jemals ernsthaft und mitfühlend nach seinem Befinden in diesem Spektakel gefragt hat. Nicht einer. Seine ehrliche Antwort wäre zu gewaltig gewesen für den kleinen Kummersack der meisten. Zu dramatisch. Zu gesellschaftsskeptisch. Zu alles.

      Michael blieb alleine mit seinem Befinden. Seine Seelenangelegenheit ungehört. Wie viel meine Mama über sein inneres Erleben weiß, kann ich nicht beurteilen. Ich glaube, sie pflegen ein ehrliches Miteinander. Auch in vertrackten Situationen fanden sie immer einen Weg zueinander. Mama erlebte ich oft im Konflikt mit ihrer Vormachtstellung und ihrem eigenen Recht einerseits und Michaels Befindlichkeiten andererseits. Sie stand auf der Seite der Kinder, auf ihrer Seite. Oft so überdeutlich und vehement, dass für Michaels Gefühle kein Raum blieb. Verzwickte Geschichte auch für ihn, denn er wollte seiner Liebsten keine zusätzlichen Probleme bereiten. Wollte für sie da sein. Für uns. Unterstützend, nicht jammernd. Das tat er.

      Er hat es gut gemacht.

      Seine ehrliche Seelenlage bleibt geheim.

      Nichts für unsere Ohren.

       PLÖTZLICH PATCHWORK

      Diffuse Erinnerungen. Haltloses Sein.

      Nicht Fisch. Nicht Fleisch.

      Entwurzelt.

      Mama gab sich die größte Mühe. Michael gab sich Mühe. Alle waren mühevoll. Gereicht hat es nicht. Ich habe die Schotten dicht gemacht und mir ein Leben voller Illusionen aufgebaut. Musterschülerin. Klassenbeste. Athletin. Immer oben, auf dem ersten Platz. Goldmarie. Je höher ich sozial strebte, desto weniger fühlte ich. Erfolg statt Trauer. Aufmerksamkeit statt Verlust. Für mich ging die Rechnung auf. Es war ganz einfach. Ich habe meine ganze Konzentration auf Leistung gebündelt, meinen Blick auf die Wirkung gerichtet. Kausalität – das Gesetz von Ursache und Wirkung – ist komplex, aber eigentlich schlicht. Ein einfaches Werkzeug in Kinderhänden. Die Intuition ist noch stark ausgeprägt und die Vorstellungskraft ist enorm. Der Wille dazu


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