Aufschrei. Zela Sol
Deal.
Ich lieferte Bestleistungen in Schule und Sport. Dafür bekam ich anerkennend Urkunden und Medaillen. Es gab wenige Bereiche, in denen ich nicht mit „Ausgezeichnet“ brillierte. Und wieder – dafür – wurde ich geliebt. Von meiner Mama. Und in meiner Hoffnung auch von meinem Papa. Ich stellte mir vor, wie meine Erfolge ihn erreichten und er stolz auf seine Prinzessin wäre. Ganz fest glaubte ich daran, dass er mich aus der Ferne für meine Siege liebte.
Es muss so gewesen sein.
Mama war stets stolz auf mich. Es gab genug Gelegenheiten. Immerzu. Kaum erfolglose Atempausen. Ich habe mich geliebt gefühlt. Ja. Auch wenn der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit von meinem Bruder Daniel beansprucht wurde. Ich bin mir sicher, sie hat bemerkt, was für eine tolle Tochter ich bin.
Es muss so gewesen sein.
Daniel war superanstrengend. Auf Widerstand gedrillt. Er verfolgte eine andere Strategie. Eine ehrlichere. Sein Dagegen war deutlich und unmissverständlich. Ungehorsam, Wutausbrüche und tägliche Aggressionen richtete er gegen alle. Sein Wesen übernahm die Verhaltensauffälligkeiten. Er war dreieinhalb, als der Vater ging, das passte nicht in seine magische Kleinkindvorstellung. Ich glaube, seine Überspanntheit war ein Ausdruck seiner Angst. Angst, Mama könnte ihn auch verlassen. Ich könnte ihn auch verlassen. Diese Verlustangst hat womöglich ein Ventil gesucht und gefunden. Überspanntheit. Eine permanente Hyperaktivität. Kein großer Unterschied zu mir, ich habe die Energien nur zielgerichteter auf Leistung gelenkt.
Berechenbarer.
Bewusster.
Daniel war dafür noch zu klein, zu zart, zu rein. Er hat Rebellion gewählt. Ich die Verdrängung. Heute ist er gelassener und ich innerlich permanent überspannt. Er hat frühzeitig Frust abgelassen. Ich habe angestaut. Die Methode spielt unterm Strich keine Rolle, gefrustet oder entfrustet – die Lücke bleibt. Und auch der Widerstand.
Auch heute gibt es in meinem alltäglichen Leben Dinge, die ich einfach nicht akzeptieren kann. Die ich ablehne als einen Teil von mir. Es gibt gegenwärtig Momente, denen ich ihre Berechtigung verweigere. Ein Beispiel, eine Begebenheit aus meinem kategorischen Abendmahl. Du erinnerst dich an mein Mahlzeiten-Dogma. Nun, ich bereite mit größtmöglicher Freude die Zutaten für ein gemeinsames Essen mit meinem Mann zu. Eine zuversichtliche Grundstimmung wiegt mich in der Annahme, mein Gatte erscheine pünktlich neunzehn Uhr, wie vereinbart. Punkt sieben sitze ich vor der gedeckten Tafel, alles ist hübsch angerichtet. Noch atme ich ruhig. Das akademische Viertel. Von mir aus, aber eine schwachsinnige Erfindung. Ich hätte Zeit zu googeln, wer diese gesellschaftlich akzeptierte Anstandslosigkeit entworfen und legitimiert hat. Das wäre noch blödsinniger als der Blödsinn selbst. Neunzehn-Vierzehn. In einer Minute ist der akademische Zauber vorbei. Die Wut steht schon in den Startblöcken. Wärmt sich auf. Neunzehn-Fünfzehn. Sie bricht erzürnt über mich herein. Ich greife an. Meinen Mann. Egal, wo er sich aufhält, er wird sie spüren. Der Raum ist erfüllt mit schändlichen Beleidigungen und übler Nachrede. Meine Aura dehnt sich über unser Grundstück aus. Sie leuchtet rot. Ich spucke Feuer. Der Adressat ist mir inzwischen völlig egal. Die Ordnung meines Kosmos ist gestört und ich kippe aus dem Gleichgewicht. Überspanntheit. Aggressive Schübe.
Das ist unakzeptabel. Widrig.
Neunzehn-Achtundzwanzig. Mein Dämon ist aktiviert. Was zum Teufel kann wichtiger sein als unser gemeinsames Abendessen und die natürliche Ordnung? Was? Mir will nichts einfallen. Niente. Nada. Ich verzweifle und zweifle an allem. Ist das wirklich der richtige Mann für mich, wenn ihm ничего wichtiger ist als ich? Meine innere Argumentationskette ist wirklich kindisch. Angefixt. Angedockt an alle traumatischen Prägungen. Das macht mich noch wütender. Das Narbentier grüßt täglich. Der Ablauf – immer derselbe. Und doch. Ich bleibe dabei und akzeptiere es nicht. Weil es mich zerstört. Weil ich zulasse, dass es meine heile Welt zerstört. Ich habe es einmal zugelassen. Das werde ich nie wieder tun. Schwur. Versprochen ist versprochen und wird niemals gebrochen. Ich brauche dieses gemeinsame, geordnete und natürliche Abendessen. Ich kann nicht ohne. Mehr Ohnes vertrage ich nicht.
Unakzeptabel.
Erfolgreich vom Thema Patchwork abgeschweift. Das kann ich gut, unter anderem. Ich mogele mich schon lange an diesem Zeitraum vorbei – dem Zeitraum der ersten Patchworkgehversuche. Lieber bringe ich die Einleitung in Reinform oder korrigiere an kaputt korrigierten Kapiteln. Ablenkung findet sich reichlich. Diese Zeit, jene Zeit der Neuordnung, schmerzt mich in der Erinnerung am meisten. Es gibt nur wenige Frequenzen, die in meinem Langzeitgedächtnis überlebt haben. Familiäre Schnipsel. Auch Fotos gibt es kaum aus dieser Zeit, und trotzdem empfinde ich sie als die intensivste. Der Umbruch. Ein unbewusstes Einsinken in Begebenheiten, denen ich nicht willentlich zugestimmt habe. Ich hatte keine Wahl und machte das Beste daraus.
Bevor du was sagst, es war deswegen nicht alles schlecht. Im Gegenteil. Ich habe meine Kindheit geliebt und bin ein Freund des Lebens. Ich hatte glückliche Stunden zwischen den Plattenbauten und aufregende Zeiten im Wald, auf dem Feld, in der Natur. Es war ein freies und ursprüngliches Leben. Ein lebendiges Kindsein. Meine Frohnatur fand viele Ausdrucksmöglichkeiten. Ich musste weder Hunger leiden noch Krieg erleben. Ich hatte alles, was ein Kind braucht, und noch mehr. Auf dem großen Spielplatz des Lebens durfte ich mich uneingeschränkt austoben und ausprobieren. Meine Mama hat jede meiner Neigungen, und waren sie noch so verrückt, unterstützt. Oft waren es fixe, unbedachte Ideen und voreilige Entschlüsse. Typisch für mein hitziges Gemüt. Voller Energie habe ich mich in jedes neue Abenteuer gestürzt, euphorisch und unaufhaltsam. Um dann nach kurzer Zeit festzustellen, dass mein Herzblut zu überschießend war und ich mich nun langweilte.
Angefangen hat alles mit Leichtathletik. Hier bewies ich Ausdauer, weil es abwechslungsreich war. Aber es gab noch einen bemerkenswerteren Vorteil: Hier konnte ich schnell Erfolge erzielen. Mein Körperbau war athletisch, drahtig, sehnig. Meine Reaktionen blitzschnell, die Techniken raffiniert. Wenig Anstrengung notwendig, ein gefundenes Fressen für meinen halbierten Selbstwert. Meine Trainerin war Punkt, nicht Komma. Unerbittlich forderte sie nach einem strengen Regelwerk. Ich genoss ihre Zuneigung und erhielt eine maßgefertigte Ausbildung. Sie führte mit einer straffen Hand. Das gefiel mir, hier wusste ich, woran ich war. Sie bot mir Orientierung und trieb mich zu Höchstleistungen. Die Ergebnisse folgten prompt.
Gold.
Silber.
Gold. Gold.
Die Goldmedaille als emotionaler Ausgleich. Es gibt Schlimmeres. Dreimal die Woche Training, dreimal die Woche Auszeit von der Neuordnung. An den Wochenenden Wettkämpfe.
Damals gab es noch keine Helikoptereltern, die ihre Schützlinge auf Schritt und Tritt überwachten. Die Leichtathletikgruppe fuhr elternautonom mit dem legendären Barkas B 1000 zum Ort des Wettgeschehens. Hinterher wurden die Medaillen präsentiert. Meine Trainingsgruppe – mein Hort der Aufmerksamkeit und der Wertschätzung.
Ich war Repräsentantin unseres Bezirkes. Die Fackelträgerin mit Kampfauftrag. Sozialistisch einwandfrei.
Ich hatte Spaß daran, an meine Grenzen zu gehen. Gleichzeitig habe ich mich körperlich ausgetobt, ein guter Ausgleich zu meiner emotionalen Schwere. Eine Sportart reichte mir bald nicht mehr, ich wollte größere Schauplätze. Die Suche danach begann beim Judo, bog beim Ballett ab, interessierte sich für Tischtennis, hatte mehrere Absacker beim Karate und endete schließlich beim Tennis.
Tennis hatte international die größte Reichweite und den präsentesten Status, warum also sollte ich mich mit Pingpong am Tisch zufriedengeben. Gesagt, getan. Schon stand ich neu ausgerüstet und mit hoher Erwartung auf dem roten Platz. Ich hatte auch hier durchaus Talent. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich meine sportlichen Siege nur mit Talent und Training errungen habe. Reflektierend waren Präsenz und Wille meine wertvolleren Triebfedern. Mein Auftreten hat damals viele Mädchen eingeschüchtert, die wahrscheinlich glaubten, dass solch ein Selbstbewusstsein nur auf dem Fundament von Talent wachsen kann. Heute weiß ich, dass nichts unmöglich ist. Erfahrungsgemäß. Ich habe einige Male Talent durch meinen starken Willen installiert.
Mein starker Wille war und ist das beste Element in meinem persönlichen Werkzeugkasten. Ein multifunktionaler Alleskönner.