Aufschrei. Zela Sol
für den unteren Rücken. Die Wäsche. Das Abendessen vorbereiten. Tränen. Selbstmitleid: Ich bin nicht gut genug. Wieso schreibe ich eine Anklage, wo sich die ganze Welt im positiven Denken übt? Keiner will mein Gejammer hören.
Ein Glas Wein.
Herumirren in der Wohnung. Hübsche Möbelstücke. Das ganze Interieur ist harmonisch aufeinander abgestimmt. Das Chi fließt. Mein Partner fordert mit Nachdruck: Schreib endlich dieses Scheißbuch weiter! Drama. Drama. Drama. Was habe ich schon zu sagen, kleines, halbes Mädchen. Das Herz drückt. Der Rücken drückt. Druck. Druck. Druck. Eine Meditation zur Entspannung. Herrlich.
Zigarette.
Wein.
Weinen. Toilette. Duschen, unbedingt. Das Schreiben macht mich ungepflegt. Ein wenig Wimperntusche zum Aufhübschen für das Trennungskind. Fühlt sich bescheuert an. Alles. Blick in den Spiegel: Du kannst das nicht. Du armes Ding.
Die Ursache der Trennung? Zur Analyse stehen mir ein paar Satzfetzen meiner Mutter und die Kommentarlosigkeit meines Vaters zur Verfügung. Also nichts. Mir steht es nicht zu, Richter zu spielen und ein Urteil zu fällen. Hinterfragen und deuten – nicht mein Spielfeld. Bescheid wissen über Ursachen bringt mich keinen Schritt weiter. Also überlasse ich das meinen Eltern. Sie wissen es.
Der Alkoholkonsum ging bei meinem Vater über die Sozialverträglichkeit hinaus. „In keinem Land der Welt wurde so viel Schnaps getrunken wie in der DDR“, behauptet der Ethnologe Thomas Kochan. Recht hat er. In den Schnapsregalen gab es keine Lücken. Harten Stoff gab es im Überfluss. Mein Vater konnte den bunten Flaschen nicht widerstehen. Scheidungskomplizen. Wirklich? Der Suff bescherte ihm eine dreckige Weste. Der abstinente Teil der Gesellschaft zeigte auf ihn und degradierte ihn zum Bösen. Schuldig. Die Beweislage ist eindeutig. Ich habe es den anderen gleichgetan und meinen Vater dafür verachtet. Die Frage nach der Ursache seiner Sauferei bleibt noch unbeantworteter. Damals wurden solche Dinge nicht hinterfragt. Heute muss für alles eine Ursache gefunden werden. Ist heute das bessere Gestern?
Die Spirituosen spielten oft eine Hauptrolle. Auch an diesem Abend – achtzehn Volumenprozente erschütterten meine Kinderseele, installierten eine neue Emotion in meinem kindlichen System: Hilflosigkeit. Wir Kinder lagen wohlbehütet in unseren Betten. Alles war friedlich. Wohlig eingekuschelt beobachtete ich die kleinen Schneeflocken durchs Fenster. Beschützt in einem Wintermärchen. Die Bettdecke bis zur Nase gezogen lauschte ich dem süßen Schnarchen meines kleinen Bruders. Die Kinderzimmertür stand einen Spalt offen – eine liebevolle Geste meiner Mama, damit wir Kinder nicht vom elterlichen Feierabend ausgeschlossen waren. Ich mochte es. Innerlich musste ich oft kichern, wenn sie betont leise an unserem Zimmer vorbeischlich. Alle zehn Minuten schaute ein Lockenkopf vorsichtig durch den Türspalt.
Sicherheit. Frieden.
Plötzlich hörte ich einen lauten, alles durchdringenden Schlag im Hausflur Ohrenbetäubendes Klirren. Mein Herz setzte kurz aus. Meine inneren Alarmglocken waren sofort aktiviert. Das hieß nichts Gutes. Ich hatte panische Angst, aufzustehen und nachzuschauen. Meine Mama eilte zur Tür … und ich … Wäre ich doch lieber in meinem Bett geblieben. Dieser Anblick. Ich werde ihn nie vergessen.
Tränen.
Ausreden.
Bewusst entschiedene Schreibblockade.
Die Gartenplanung für unser Haus. Das kann nicht warten. Tränen. Eine dringende Angelegenheit. Natur heilt. Ein wichtiges Thema. Gedeiht der Japan-Knöterich neben der Mondviole? Ausdauerndes Silberblatt.
Keine Ausdauer.
Ausweichen.
Selbstvorwürfe.
Noch mal abducken, mich mir selbst entziehen. Leid. Schmerz. Leid. Dieser Anblick war grausam. Grausam, mich daran zu erinnern. Grausam, ihn mir erneut vorzustellen. Grausam, ihn jetzt mit dir zu teilen. Mein Vater lag blutverschmiert und bewusstlos auf dem Boden. Dutzende kleine Scherben stachen in seinen Kopf. Überall Blut und Panik. Mein Vater regungslos. Seine Tochter regungslos. Das Klicken im Schaltschrank, die einzige Melodie in diesem Horrorfilm. Klick. Klick. Dieser Anblick. Dieses Geräusch. Grausam.
Ein weiterer Anblick traf mich noch tiefer. Die Vogelperspektive auf mich selbst. Dieses Bild läuft so präsent auf meiner inneren Leinwand, lässt sich nicht verdrängen oder abschalten. Da stand ich. Versteinert. Das Blut wich aus meinem Körper und dunkle Gestalten fielen in mich ein. Das Sonnenkind im hübsch geblümten Schlafanzug, mit frisch geschnittenem Bubikopf, barfuß, frierend, angewurzelt – diese süße, kleine, reine Gestalt.
Zerbrochen.
Der Frieden ist ein mieser Verräter, er täuscht nur vor und hält sein Versprechen nicht. Nie werde ich ihm verzeihen. Fünf. Vielleicht war ich fünf, oder vier. Ich war unversehrt. Habe geglaubt: starker Papa! Papa, warum tust du das? Mama war sofort zur Stelle. Das war sie immer, sofort zur Stelle. Mama wusste, was zu tun war, kümmerte sich behutsam um den Angeschlagenen. Ihr eigenes Leid zählte jetzt nicht. Ein anderer brauchte ihre Hilfe. Und sie half. Sie rettete. Sie war die Retterin. Mein Vater der Gerettete, der nicht gerettet werden wollte. Das ganze Dilemma meiner Eltern lag in Blut getaucht vor mir. Etwas in mir wusste: Jetzt sind wir im Krieg! Es würde nur Verlierer und Verletzte geben. Hier kommt keiner wieder heil raus. Meine Welt lag auf der Treppe in Scherben. Meine innere Drohne filmte weiter: Verzweifelt zieht das kleine Mädchen eine dicke Mauer um sich hoch. In Sekunden. Dann fällt der Vorhang. Nichts ist mehr, wie es war. Etwas ist gravierend anders.
Gestorben.
Diese Situation war eingefroren und schlummerte in den Untiefen meines Hirnarchivs. Dort hat sie über dreißig Jahre geschlafen. Jetzt habe ich sie wachgeschrieben. Das Klicken des Schaltkastens frisst sich in mein Trommelfell. Ich konnte mitzählen, wie viele Nachbarn das Licht einschalteten, leise ihre Wohnungstür öffneten und teilhaben wollten am Drama im ersten Stock. Die Menschen lieben Dramen. Besonders die von anderen Leuten. Es macht ihre eigene kleine Welt heiler. Ich hasse das Klackern von Stromstoßschaltern. Es ist abscheulich.
Die Tage danach bleiben außerhalb meiner Wahrnehmung. Mit Stift. Ohne Stift. Mit Stift. Ein großes Nichts. Ein Notfallschutzprogramm. Aufzeichnungen gelöscht. Weder kann ich Bilder noch Gefühle abrufen. An meiner Schuleinführung habe ich selbst nicht teilgenommen. Ich erinnere mich nicht daran. Gedächtnislücke. Das blonde Mädchen mit Zuckertüte und schwarzen Lackschuhen auf den Fotos ist mir fremd. Ich erkenne mich nicht. Susanne lächelt trotzdem.
Das Schmerzempfinden meiner Mama muss bei dem Anblick ihres zerstörten Mannes und ihrer ängstlichen Tochter gewaltig gewesen sein. Wie kann ein Mensch das ertragen? Ich will ihr Leid abnehmen, etwas davon absorbieren. Aber mein therapeutischer Schwamm ist zu klein, reicht nur für meine eigenen traumatischen Verletzungen. Jetzt, wo die Tür auf ist. Es fühlt sich an wie eine Horde wilder Büffel, die über einen gepflegten sattgrünen Rasen rennt. Im Nu zerstört.
Die Zeit bis zur Scheidung meiner Eltern und die Scheidung selbst habe ich wie im Nebel erlebt. Verschwommen und diffus. Ich habe keinen emotionalen Zugriff auf dieses Zeitfenster. Nur ein Gefühl ist stark präsent: Widerstand. Ich widerstehe allem, was von der Institution und dem Heiland „geliebte Eltern“ abweicht.
Jetzt ist Mami der Mann im Haus.
FAKTEN
Trocken.
„13,6 Prozent der Haushalte in Deutschland mit Kindern unter 18 Jahren sind Stieffamilien; etwa 10,9 Prozent der Kinder unter 18 Jahren leben in Stieffamilien. Die Stieffamilie ist damit der dritthäufigste Familientyp nach der Kernfamilie und der Ein-Eltern-Familie (Alleinerziehende) mit einem Anteil von 16 % der Kinder unter 18 Jahren.“
Wikipedia. Interessant.
Im Familienreport 2017 des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend heißt es einleitend: „Die Familie ist für 79 Prozent der Bevölkerung der wichtigste Lebensbereich. (…) Bei Eltern mit minderjährigen Kindern sind es sogar 93 Prozent, die die Familie für den wichtigsten Lebensbereich halten. Für mehr als 90 Prozent der