Aufschrei. Zela Sol

Aufschrei - Zela Sol


Скачать книгу

      Viele Fakten sprechen dafür, dass ich nicht dieses entartete Wesen bin, für das ich mich halte. Glänzende Pokale, schulische Auszeichnungen und gebündelte Urkunden für sportliche Höchstleistungen könnten vermuten lassen, dass ich gut gelungen bin. Meine erfüllende Partnerschaft gibt mir Anlass zu der Annahme, glücklich zu sein. Meine berufliche Bilanz mit eigenem Unternehmen könnte den Anschein erwecken, ein erfolgreiches Leben zu führen. Ein beachtlicher Freundeskreis, eine innige Geschwisterliebe und ein liebevolles Verhältnis zu meiner Mutter könnten mich als integres und zufriedenes Mitglied unserer Gesellschaft kennzeichnen. Die starke Zuneigung zu meinem Stiefpapa lässt selbst den stärksten Kritiker verstummen. Wieso sollte mit mir irgendetwas nicht stimmen? Erfolg auf der ganzen Linie, alles erreicht – oder wie es mir gelang, mit vorgetäuschter Sonnenscheinmentalität „Everybodys Darling“ zu sein. Alles in bester Ordnung, nicht nur im grünen Bereich, vorbildlich.

      Patchwork funktioniert also doch!

      Ja, Patchwork kann auch funktionieren. Gemeinsam ist uns vieles gelungen. Glückliche Momente waren nicht selten, überhaupt habe ich viel Glück gehabt in meinem Leben und auch Erfüllung gefunden. Ich verdanke dem Umstand der Trennung meiner Eltern viele wichtige Erfahrungen und eine Steilkurve in der persönlichen Entwicklung. Offensichtlich wäre das in einer „ganzen“ Kindheit nicht möglich gewesen für mich. Aber noch schwebt der Schleier des Trennungsbewusstseins wie ein bedrohlicher Schatten über meinem Leben. Oder mehr denn je. Das innere Loch ist umso größer geworden, je mehr ich selbst geglaubt habe, ich wäre ein charismatisch-starker Berg. Paradox. Aber diese Welt ist per se voller Widersprüche. Die Wahrheit ist: Ich ertrinke an meiner Lebenslüge. Der Selbstverrat drückt mich auf allen Ebenen gefährlich nah an den Rand des Lochs. Meine Wunden sind ausgeleckt, sie glotzen mich erwartungsvoll an und fordern mich zum Handeln auf. Fordern mein Geständnis.

      Die Maske fällt. Ich bin zutiefst erschrocken über das, was ich nicht sehen wollte, verdrängt und abgelehnt habe. Traurigkeit und Verzweiflung kriechen aus ihrem Versteck und lechzen nach meiner Aufmerksamkeit. Aus jeder Pore strömt der Rauch meiner emotionalen Verbrennungen. In jeder Zelle hockt das Ohnmachtsgefühl. Mein Rücken schmerzt unerträglich, Paniken attackieren mich scharf und mein überspanntes Nervensystem kracht in sich zusammen.

      Ausdruck meiner zerfetzten Seele.

      Den Löwenanteil meiner Leuchtkraft hat mein Vater mit sich genommen, als sich meine Eltern trennten. Da war ich sieben Jahre alt. Er hat mich einfach alleingelassen, zurückgelassen in einer Welt, die sich von der grausamen Seite zeigt, sobald die beschützenden Arme des Vaters fehlen. Bis dahin war ich seine Prinzessin gewesen. Danach spielte ich viel geringere Glanzrollen. Jetzt bin ich eine einsame Frau. Halb entwurzelt. Ich will nicht mehr halb sein. Lieber bin ich gar nichts. Lieber bin ich tot.

      Mit der Zeit habe ich völlig vergessen, wie sehr ich dieses Leben liebe. Seit Jahren versuche ich, meine Strahlkraft zurückzugewinnen. Die Authentische. Der kleine Schatz, der ich einmal war. Das Licht dringt kaum noch in mein Herz, noch weniger Helles steigt daraus auf. Es ist dunkel, bitter und kalt. Ich bin in dem Loch gefangen und finde keinen Ausgang. In meiner Verlassenheit irre ich umher und versuche, die zerfledderten Teile meines Selbst wieder zusammenzuflicken. Es gibt natürlich auch lichtvolle Momente, in denen ich fest glaube, das Leid überwunden zu haben. An vitaleren Tagen fühle ich mich frei und unbeschwert – das nährt schon all die Jahre meine Hoffnung, irgendwann vollständig ganz und heil zu sein – und lege mein Urvertrauen in die Hände der seelestreichelnden Augenblicke. Ich werde nicht müde, sie auszukosten. Dann bricht das Dunkel wieder über mich herein, ausgelöst von einem Bild, einer Situation oder einem einzigen Wort. Dann bin ich wieder das kleine verletzte Kind. Loch.

      Ich hasse es.

      Die Identifikation mit meinem Trennungskind-Dasein ist so stark, dass ich mich selbst zerstöre. Nach vier Jahrzehnten lasse ich immer noch zu, dass sie mein Leben beherrscht. Egoistisch wälze ich mich in meinem Opfer-Sein, leide qualvoll, still und heimlich. Keiner soll wissen, wie elend es mir geht. Mitleid ist das Letzte, was ich jetzt noch ertragen kann. Es geht mir doch blendend. Schau mich doch an: täuschend echt. Bis ins kleinste Detail ausgefeilt. Tschakka.

      Ja, ich darf behaupten, ich bin beliebt. Die Ursache ist mir schleierhaft. Das Ungleichgewicht zwischen meinem ausgeprägten Gemeinschaftssinn und dem Wunsch, mich der Herde auch schnellstmöglich wieder zu entziehen, macht mich nicht kategorisierbar für andere. Unberechenbar springe ich zwischen Exzentrik und Labilität hin und her. Sprühende Begeisterung. Hochsensibler Rückzug. Strukturlos und nicht zu greifen. Verwirrend für andere und für mich. Um mein vermeintliches Selbstbewusstsein und meine überschwängliche Lebensfreude beneidet, ziehe ich Menschen magnetisch an, die mich oft mit ihrer Liebe überschütten. Und genau das war ja auch mein Ziel: geliebt zu werden. Ich bin an meinem Ziel angekommen. Ich werde intensiv geliebt und gemocht. Leider bedeutet es mir zu wenig. Ich habe es erreicht, aber es erreicht mich nicht. Ich will nur diese eine Liebe – die ich nicht habe.

      Meine fröhliche Fassade beginnt zu bröckeln, mein Schauspiel kotzt mich selber an. Ich kann es nicht mehr ertragen. Wenn ich in den Spiegel schaue, grüßt mich ein fremdes Gesicht. Die Maske. Wer bist du? Ich weiß nicht, welches Bild ich mehr hasse: das aufgesetzte Lächeln oder die leeren, verheulten Augen. Letzteres drängt immer stärker in den Vordergrund und lässt sich nicht mehr mit einem Fingerschnippen wegschalten. Es will sich zeigen. Die Trauer über meine gespaltene Kindheit nimmt mich immer mehr in ihren Besitz und ich kann ihr nichts entgegensetzen. Ich bin von Traurigkeit durchdrungen, auch wenn ich fleißig weiter darüber hinweglächle.

      Der Ausbruch meiner unterdrückten Emotionen ist nicht aufzuhalten. Der Kessel brodelt. Die Lava rollt schon in meinem Innern und zerrt mich mit sich in Richtung dunkles Loch. Mein Kopf fühlt sich an wie ein qualmendes Epizentrum. Die Eruption steht kurz bevor. Ich habe Angst, mitgerissen zu werden. Ich habe Angst, unter meinen Gefühlen lebendig begraben zu werden. Nirgendwo Halt zu finden. Zu verbrennen. Im Schwarz zu verschwinden. Alle Welt spricht vom Loslassen, als wäre das ein Minimalausflug. Aber ich kann nicht loslassen. Ich weiß nicht, wo ich lande, wenn ich mich einfach ergebe.

      Es ist zu ungewiss.

      Viel zu riskant.

      Ich habe Angst.

       DER KLEINE SONNENSCHEIN

      Ein kleiner Sonnenschein erblickt an einem warmen Sommertag das Licht der Welt. Ein Strahlekind. Gewollt. Geliebt.

      Ein Wunschkind.

      Susanne.

      Voller Zuversicht und Optimismus bin ich in dieses Leben gepurzelt. Volle Kraft voraus! war schon als Baby meine Maxime. Meinem herzlichen und sonnigen Wesen gelang es sofort, die neue Umgebung zu erobern. Löwenkräftig und stolz präsentierte ich meine leuchtende Aura. Meine Wiege war prall gefüllt mit Lebensfreude und Selbstvertrauen. Und immer schon war da dieses gewisse Etwas – ein Strahlen, das jeden, den es erreichte, selbst zum Leuchten brachte. Wie pures Gold wurde ich mit günstigen kosmischen Kräften bedacht, geballter Energie und einer natürlichen Autorität.

      Es ist kein Geheimnis: Ich ließ mich gerne und oft bewundern. Licht an! Hier bin ich! Schaut her! Platz da!

      Ein Prachtkind.

      Es gab viel Raum für meine frühkindlichen Entwicklungen, wenig Störungen und keine Geschwisterrivalität. Ich war die Erstgeborene. Geliebte Tochter von Mama und Papa. Geliebt und geborgen. Ich glaubte fest, das würde immer so bleiben. Wohlbehütet lag ich im Schoß meiner Familie.

      Paradies auf Zeit.

      Als Kind hatte ich ein natürliches Anrecht darauf, glücklich zu sein. Mein Geburtsrecht. Das Schicksal hatte andere Pläne mit mir. Es vertrieb mich unerwartet von der Insel der Seligen, aus dem heiligen Land, aus der schützenden Umarmung meiner Eltern. Es gab keine Anzeichen oder Vorahnungen. Ich war mit zwei liebenden Eltern gesegnet und strahlte im Kinderwagen mit vorübergehenden Passanten um die Wette. Auf Fotos aus meinen ersten Lebensjahren wirke ich aufgeweckt, pfiffig und lebenslustig. Der Schalk saß mir Nacken. Ein liebenswerter Frechdachs. Zuckersüß. Bestimmend. Eine kleine Kommandozentrale mit Charme


Скачать книгу