Aufschrei. Zela Sol
dem Vorbild à la Gebrüder Grimm bist du ein weiblicher Barbar. Böse, böser, am bösesten. Dieser Prototyp hat sich seit den Gute-Nacht-Märchen in den Köpfen festgesetzt. Textpassagen wie „Die Stiefmutter schlägt uns alle Tage. Und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns mit dem Fuß fort“ aus dem Märchen Brüderchen und Schwesterchen oder „Was macht der garstige Unnütz in den Stuben, sagte die Stiefmutter, fort mit ihr in die Küche“ aus dem Märchen „Aschenputtel“ infizierten den Geist der Patchworkzeit.
Dreizehn skrupellose Stiefmütter kommen in den Hausmärchen der Grimms vor. Diese abschätzige Rolle scheint immer noch Anklang und Begeisterung zu finden. Die Rolle, die du dir gegenwärtig ausgesucht hast. Nur die Hexe ist noch schlimmer. Wobei diese wenigstens magische Fähigkeiten hat. Was ist deine Fähigkeit? Deine Qualität? Aushalten? Runterschlucken? Zusammenflicken? Wut speichern? Ablehnung ertragen?
Wie lange kämpfst du noch für etwas, das du nie wolltest? Wann hörst du endlich auf, die Anweisungen seiner Ex zu erdulden und deinem Mann dabei zuzusehen, wie er vor ihr zu Kreuze kriecht? Wie lange erträgst du diese Demütigungen noch? Wie hoch ist dein emotionaler Kredit? Hast du noch Kraft für dieses schlechte Schauspiel?
Du entscheidest.
Magst du dich weiterhin selbst stiefmütterlich behandeln und behandeln lassen oder beginnst du, fürsorglich und liebevoll mit dir selbst umzugehen? Opferhaltung oder Selbstliebe. Willst du der Hass oder das Herz der Familie sein? Wie geht Familie? Wie geht Patchworkfamilie? Was willst du? Wer bist du?
Ich erzähle dir von mir und du mir von dir. Du darfst dich an meiner Schulter ausweinen und wir halten und tragen uns gegenseitig im Herzen. Unbekannt und doch verbunden. Wenn wir gemeinsam gehen, wird der Weg leichter. Komm in meine Arme und lass dir liebevoll ins Ohr flüstern: Ich verstehe dich. Du bist nicht alleine damit. Du schaffst das. Du machst das prima. Du gibst dein Bestes. Ich sehe es. Ich sehe dich.
Du tapferes Mädchen.
Du beeindruckende Frau.
Du wählst: das alte Stigma der bösen Stiefmutter oder einen neuen Weg. Du entscheidest, jeden Tag.
LIEBER STIEFVATER,
ich habe eine klitzekleine Idee davon, wer du bist. Nicht im geringsten kann ich mir vorstellen, was du fühlst. Hinter deinem Panzer kann ich emotional kaum etwas von dir erkennen. Du versteckst dich. Du willst überhaupt nicht gefühlt oder gesehen werden. So wichtig bist du nicht. Es ist nicht notwendig, dich ins Rampenlicht zu stellen. Da gehörst du nicht hin. Wer interessiert sich schon für dich? Du hast dich gut im Hintergrund eingerichtet. Im Background hast du deine Ruhe. Fühlst dich ungestört. Ich soll nicht so viel Aufhebens machen um die ganze Sache. Das ist schon in Ordnung für dich. Du kommst klar, hast ja auch kaum Ansprüche. Erfüllung, Zusammengehörigkeit und Geborgenheit brauchst du nicht. Das alles ist nicht so wichtig, du hast deine Arbeit, dein Hobby, deinen Computer und deine Werkstatt. Damit bist du zufrieden.
Und dieser kleine Knirps.
Der bringt dich nicht aus der Ruhe. Dein Stiefkind. Halb so wild. Du kriegst das gebacken. Irgendwann muss es auch mal ins Bett, bleibt ja nicht ewig munter. Seit der Trennung seiner Eltern braucht dein Stiefkind noch mehr Aufmerksamkeit und stundenlanges Gutenachtgeschichten erzählen von seiner Mutter. Deiner Frau. Du begnügst dich derweil im Wohnzimmer mit dem Abendprogramm. Du hast Glück, es läuft eine Spielübertragung deines Fußballvereinfavoriten. Da bist du allerdings Fan. Sport magst du sehr. Es macht dir nichts aus, dass du allein auf dem Sofa liegst.
Im Gegenteil.
Später sinkt die Kindesmutter erschöpft in deine Arme und legt den Kopf auf deine Brust. Du genießt die zehn Minuten, bis sie einschläft. Zehn Minuten von 1440 Tagesminuten, das genügt dir.
Plötzlich steht dein Stiefkind in der Tür, es kann nicht einschlafen. Du sagst ihm ruhig und bestimmt: „Geh wieder ins Bett!“ Als trotzige Antwort bekommst zu hören: „Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist nicht mein Vater.“ Aber das stört dich nicht. Das kennst du bereits. Es verletzt dich nicht, du bist der Fels in der Brandung. Unerschütterlich. Unverwundbar.
Ein unverletzlicher Magier.
Du liebst die Mutter dieses Kindes abgöttisch. Du musst der Zauberer sein, sonst verlässt sie dich. Und das macht dir allerdings etwas aus.
Also zauberst du: Du flickst kaputte Fahrradschläuche, machst deinen Computer kindersicher, spitzt Buntstifte und spielst Torwart auf deinem geliebten Rasen. Später: Früh halb drei stehst du mit dem Privattaxi vor dem Haus, in dem die Party läuft, auf der dein Stiefteenie rockt. Noch später sitzt er selbst am Lenkrad deines SUVs. Immer gibst du.
Forderst nichts.
Erzwingst nichts.
Verbietest nichts.
Du bist der Freizeitvater in Vierundzwanzig-Stunden-Bereitschaft, mal abgesehen von deinen zwei goldenen Händen. Du machst alles möglich, dreimal geschickter als der leibliche Vater. Aber dich liebt er nicht. Du bist der Auswechselpapa auf der Ersatzbank. Sofort zur Stelle, wenn Not am Mann, am Vater ist. Der große neue Kumpel, der alles macht für das Kind – als harmonisierender Beziehungspfleger.
Die Liste deiner selbstlosen Aktivitäten ist unendlich lang, dein Stiefvaterrucksack ist immer prallvoll. Du bist immer erreichbar, ständig belastbar. Verfügbar. Du ähnelst einem Blasebalg, dem nie die Luft ausgeht, auf dem aber jeder herumtritt. Aber dir macht das ja nichts aus. Du investierst gerne Zeit und Verständnis in deine stiefkindlichen Nachkommen. Vielleicht kommen ja noch eigene nach, mit deinem genetischen Abdruck. Das wünschst du dir, aber es muss auch nicht sein. So klar ist dir das nicht. Das Haus ist ja schon voll.
Früher standen deine Vorfahren auf dem Feld und haben Auge um Auge, Zahn um Zahn gegeneinander gekämpft. Dein Schlachtfeld, heute, ist inmitten deiner Familie ausgebreitet, die Kampftaktik ist subtiler, hinterhältiger und kränkender. Du duckst dich ab, gehst in die Defensive. Verhältst dich ruhig und harrst der Dinge. Du hast zähes Sitzfleisch, schließlich bist du Gast in deinem eigenen Heim. Existierst irgendwo am Rande des geflickten Geschehens und darfst dich in Einfühlung, Rücksichtnahme und Verzicht üben – allesamt weibliche Attribute. Die Eier in deiner Hose nützen dir nichts, wenn du abends in der Küche stehst, bekleidet mit einer rot-weiß karierten Schürze mit dem Aufdruck „Küchenfee“. Statt ein Machtwort zu sprechen in heiklen Erziehungsfragen, hörst du dem pädagogischen Gesäusel zu, das dir deine Partnerin für ihr Kind aus einem Elternratgeber vorträgt. Zuhörendes Mitwirken, ja. Mitspracherecht, definitiv nein. In deinem Oberstübchen hast du ihr Regelwerk zum Umgang mit deinem Stiefkind längst Wort für Wort abgespeichert.
Intimität, Zeit, Aufmerksamkeit und Fürsorge von deiner Liebsten zu bekommen existiert nur noch als schwache Vorstellung in deiner Fantasie. Zweisamkeit als Fremdwort. Die Zahl der Glücksmomente schrumpft, aber die Herausforderungen werden täglich größer. Viel zu viel wird von dir erwartet. Zu wenig bekommst du zurück. Allgegenwärtig das Argusauge, das dich ständig auf deine Kindertauglichkeit prüft. Ganz sicher ist sich deine Partnerin nicht, ob es eine gute Idee war, dich als Ersatzpapa auszusuchen? Sie kommuniziert es ständig: Ihr Kind ist ihr das Wichtigste.
Du kommst erst danach.
Aber dir macht das ja nichts aus. Da bleibt eben genug Freiraum für den kleinen Hobbykeller, wo du obendrein auch selbst bestimmen darfst. Wo du Chef bist. Wo dein Wort noch etwas gilt. Aber Vorsicht: Sobald du die Modelleisenbahn aufgebaut hast, kommt dein Stiefkind und setzt sich ans Pult. Nach drei Stunden darfst du auch mal fahren, aber nicht zu schnell und nicht überholen, sonst leidet der Selbstwert des Kindes. Du weißt doch, dass es sehr unter der Trennung leidet! Sei rücksichtsvoll, lass es gewinnen. Es braucht Zuspruch, das verstehst du doch.
Du verstehst es.
Du bist wirklich ein außerirdisches Wesen. Ich habe keinen Schimmer, wie du das schaffst. Wer spricht dir Mut zu? Wer sorgt sich um dich? Wer hört dir zu? Ziehst du jemals irgendwen ins Vertrauen? Ist da jemand? Verstehe, du machst das alles mit dir alleine aus. Frisst diese demütigende Position so, wie aufgetischt. Wie hoch