Aufschrei. Zela Sol

Aufschrei - Zela Sol


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deine Position zu behaupten. Jedes Mittel ist dir recht, um Aufmerksamkeit zu erhalten und das Fehlen, die Lücke, auszugleichen. In deiner Not bist du einfallsreich, raffiniert und hinterhältig.

      Du bist im Krieg.

      Da ist alles erlaubt.

      Du bedienst dich eines liebevoll angepassten Verhaltens oder wählst Aggressivität und Rebellion. Dein Waffenlager ist generalstabsmäßig gefüllt.

      Du musst dich verteidigen.

      Du hast keine Wahl, also kämpfst du.

      Du kämpfst um Liebe, Geborgenheit und Schutz. Doch du musst dich selbst beschützen. Mehr als dein Geburtsrecht willst du nicht: eine liebende Mutter und einen liebenden Vater.

      Beide.

      Ich bewundere dich sehr für deine innere Kraft und deine starke Haltung. Gleichzeitig leide ich mit dir. Du hast dich nicht willentlich entschieden für diese familiäre Unordnung. Jetzt stehst du auf dem Patchworkspielfeld, nackt und ohne Schutzschild. Du trägst keine Schuld, hast nichts falsch gemacht. Die Umstände sind das Feld, die Verursacher die Spieler und du bist der Ball.

      Mit jedem Jahr wird dir bewusster, was dir fehlt und all die Zeit über schon gefehlt hat: eine unbesiegbare Ritterburg, in der du der beschützte kleine Prinz, die liebevoll umsorgte Prinzessin sein kannst. Stattdessen humpelst du wie einbeinig und orientierungslos durch dein Leben. Du bist nur halb. Es gibt dich nur zu fünfzig Prozent. Du fühlst dich unvollkommen, müde und ausgelaugt. Du willst endlich Ruhe im Kopf, willst endlich ganz sein. Du beschließt, dass einzig Sinnvolle zu tun, um dich selbst zu schützen:

      Dichtmachen.

      Andererseits. Inzwischen. Du bist jetzt erwachsen, wirst reichlich beschenkt – mit Liebe, Zuneigung und Anerkennung – von deiner eigenen Familie und deinem großen Freundeskreis. In dem Glauben, die Liebe vieler anderer Menschen könnte dich tragen und heilen, hast du um jeden Schnipsel Aufmerksamkeit gekämpft, bis zur totalen Erschöpfung. Du bist am Ziel: Jeder liebt dich, doch du fühlst dich leerer denn je. Es reicht nie aus, um das Riesenloch zu stopfen, um den Mangel auszugleichen und das fehlende Stück zu ersetzen. Für die Abwesenheit eines leiblichen Elternteils gibt es kein seelisches Heftpflaster.

      Auf meine Frage nach deinem Wohlbefinden weichst du mir selbstschützend aus, windest dich. Wie oft hast du schon behaupten müssen, du wärst im Frieden damit, dass dein Vater keinen Kontakt zu dir wünscht, obwohl er in derselben Stadt wohnt? Wie viele Male hast du formuliert, dass es dich nicht stört und auch in keinster Weise tangiert, dass du keine Verbindung zu deiner Mutter hast? Wie lange schon sagst du trotzig, dass es dir gleichgültig ist, wie es dem Elternteil geht, das dich verlassen hat? Wie lange willst du das selbst noch glauben? Schau mich an! Nein, natürlich schaust du mich nicht an.

      Du schämst dich für deine einstudierten Ausreden. Verlegen blickst du zu Boden und bittest innerlich darum, dass ich aufhöre nachzufragen. Zu bohren. In deiner Wunde. Du weißt, ich sehe die quälende Traurigkeit in deinen Augen und spüre deine Verzweiflung. Meine leidgeprüften Sensoren empfangen deine Trotzsignale und aktivieren dein Schmerzpotenzial. Du willst dich verstecken. Flüchten. Wohin? In deine uneinnehmbare Isolationsfestung? Die ist längst abgebrannt und du schwimmst im Wassergraben um dein Leben.

      Du kannst mich nicht ausstehen.

      Ich soll weggehen. Weit weg.

      Du hast Angst, dass ich an deiner Schutzmauer kratze. Die Angst freilege. Deine Angst vor Ablehnung. Deine Angst, verlassen zu werden. Du fühlst dich in jeder Sekunde, jeder Situation alleine. Egal wie schön es gerade ist. In den Armen deines Partners, beim Plaudern mit deiner Freundin, auf dem Festival, beim Abendessen mit deinen Kindern. Du fühlst dich trotzdem alleine. Du wünschst dir Zuneigung, traust ihr aber nicht, wenn sie da ist.

      Schau mich an. Bitte. Eben schienst du noch so selbstbewusst und standhaft. Jetzt schwankst du wie ein dünnes Blatt an einem morschen Ast im Wind hin und her. Du verlierst an Bodenhaftung, das ist nicht schwer zu erraten, bei deinen kaputten Wurzeln. Lass dir nicht einreden, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt. Bleib stark! Aber du bist nicht mehr stark, natürlich nicht. Auch wenn dein Herz Wahrhaftigkeit von dir fordert. Es wünscht sich, dass du offen und aufrichtig bist, nicht zwanghaft angepasst an ein ideales Patchworkbild, das nur in Köpfen existiert.

      „Sei verletzlich!“, schreit dein Herz.

      „Verletzlich? Ich? Aber ich bin doch schon verletzt!“, sagst du.

      Gerade deshalb. Sei verletzlich, zeig deine tiefsten Gefühle. Trau dich! Sei der Erste, der zu dir sagt: Ich liebe dich. Sei der Letzte, der dir treu bleibt. Zwei Möglichkeiten: Selbstliebe oder Selbstzerstörung.

      Du kannst mit vielerlei Ablenkungen die Realität verdrängen, bis das Loch in deiner Seele so tief und groß geworden ist, dass es dich verschlingt. Du kannst versuchen, mit variablen Süchten einen Ausgleich zu schaffen. Mit Zigaretten, Alkohol oder Drogen dein Hirn vernebeln bis zum Umfallen. Oder du arbeitest, verausgabst dich geistig und körperlich bis zum Burnout. Die grandiose Wirkung ist immer Betäubung. Zieh deine Turnschuhe an und renne, als wär der Teufel hinter dir her, damit du dein Herz schlagen hörst, um zu glauben, dass du am Leben bist. Kauf dir etwas Schönes, ein schickes Kleidungsstück, ein großes Auto oder ein neues Handy. Das wirkt für einen kurzen Augenblick wertsteigernd. Mach das! Bis der innere Schmerz wieder anklopft. Bis deine Verletzungen sich wieder melden, noch lauter und noch eindringlicher. Was dann? Du könntest auf eine Party gehen und dein routiniertes Lächeln präsentieren, ausschweifend tanzen und feiern. Ja, das tut gut. Das ist der Beweis: Es geht dir blendend. Es fühlt sich tatsächlich toll an. Auch alle anderen sehen, wie super es dir geht.

      Glaubst du das wirklich?

      Bist du dir sicher, dass keiner hinter deine affektierte Mir-geht-es-großartig-Maske blickt? Glaub mir, die meisten sehen dir deine Verwirrung an, glauben dir die strahlende Fratze nicht. Aber kaum einer will dir sein Mitleid antun. Schlechte Laune ist auch nicht in. Also lächeln sie zurück. Jetzt mach dich nicht lächerlich, du denkst wirklich, du könntest sie täuschen? Du hast ein großes Branding auf deiner Stirn: „Stiefkind – Zutritt nicht gestattet!“ Die ganze Welt weiß es. Nur du nicht. Du bist längst erwachsen und lässt immer noch zu, dass dein Trennungs-Patchwork-Stiefkind-Dasein dein Leben beherrscht. Du bist so stark damit identifiziert und so beschäftigt, es zu leugnen, dass du dich immer mehr darin verstrickst.

      Du wünschst dir, dass es endlich einmal nur um dich geht?

      Gut. Jetzt geht es um dich!

      Wieso hast du dieses Buch in der Hand? Was erhoffst du dir davon? Wer bist du? Eines der seltenen Stiefkinder, Trennungskinder, Patchworkkinder, die in zusammengewürfelten Familienkonzepten ihr Glück und ihren Frieden gefunden haben? Nein. Wahrscheinlich nicht. Du erkennst dich in meiner Geschichte wieder, auf die eine oder andere Art. Und du hast es so satt! Du weißt, die Sache ist akut und wir müssen reden. Schönmalerische Ratgeber wurden schon genug geschrieben. Eltern und Bonuseltern, ein Plus. Fast ein Zuviel des Guten. Über unsere besondere Position wurde schon genug gesagt. Besonders? „Deine Kinder – meine Kinder: Wie Patchwork-Familien eine stabile Gemeinschaft werden.“ Kommen wir dabei etwa je zu Wort? Hat uns irgendjemand dazu befragt, wie wir uns fühlen? Nein, du und ich, wir bleiben in den Patchworkdebatten die Nebendarsteller. Gefangen in der stieffamiliären Zwangsjacke unter der Flagge des hochgelobten Kindeswohls.

      Wer gibt uns eine Stimme?

      Stillschweigen.

      Sag jetzt bloß nichts, niemand will, dass du dich ernsthaft mitteilst. Keiner will es hören, sehen. Wissen. Am wenigsten will es jemand fühlen. Verhalte dich ruhig. Sei ein braves Kind. Dramatisiere nicht. Das ist doch schon so lange her. Ist das wirklich nötig? Wühle nicht in alten Geschichten. Du bist wirklich zu sensibel. Was jammerst du denn, du hattest doch eine Familie, immerhin.

      Fühlst du dich privilegiert? Ich nicht.

      Die Erwachsenen machten es damals unter sich aus – angepasst, gesellschaftlich und politisch korrekt. Für sie war die Trennung eine Befreiung, doch uns brachte die neue Unabhängigkeit unserer Eltern nicht nur kaschierende Leckereien. Wir sind die Leidtragenden – bewusst


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