Aufschrei. Zela Sol

Aufschrei - Zela Sol


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geliebt und geborgen gefühlt hast?

      Wer liest hier noch?

      Du bist ein Mensch, der helfen möchte, egal auf welcher Position du in diesem Spielfeld stehst. Du hast den starken Antrieb zu unterstützen. Tu es einfach! Halte dich nicht zurück. Hier, bei mir und all den anderen Stiefkindern, bist du damit wertvoll. Wir brauchen dich unbedingt. Wir schaffen das nicht alleine. Sei einfach da. Du wirst genau wissen, wie. Du bist eingeladen und herzlich willkommen, mich, dich oder andere zu begleiten. Wir schaffen es nur zusammen. Schön, dass du da bist, teilnimmst, mitfühlst … Du hast die vollumfängliche Erlaubnis, zu urteilen, zu bewerten und zu nörgeln. Selbstverständlich darfst du weinen, um dich, um andere oder um mich. Keiner sieht deine Tränen, außer mir. Ich bewahre dein Geheimnis.

      So lange es nötig ist.

       KEIN REZEPT

      Der ursprüngliche Beweggrund, meine Gedanken, Gefühle und Erfahrungen in diesem Buch herauszuschreien, wächst während des Schreibprozesses weit über jede Idee einer Selbsttherapie hinaus. Im Hinblick auf die Dringlichkeit und Aktualität dieses Themas scheint mein eigener Frieden zusehends eine fast untergeordnete Rolle zu spielen. Ein innerer Zwang, eine energische Aufforderung drängt mich dazu, dir meine Geschichte ganz zu erzählen, um dem einfallsreichen Schicksal einen Auftritt zu geben.

      Seit sieben Jahren sammle ich fleißig die Flicken meiner Kindheit in wilden Textdokumenten – ein erzählerisches Konvolut von Wut, Angst, Verurteilungen und Selbstzerstörungssequenzen.

      Kein Zuckerschmaus.

      Verständnis ist nicht das Ziel meiner Geschichte. Verstehen findet im Kopf statt. Dein Verstand, mein lieber Leser, meine liebe Leserin, interessiert mich nicht. Wenn du mich fühlen kannst, wenn du dich fühlen kannst, kommen wir dem eigentlichen Anliegen gemeinsam näher. Weder habe ich den Anspruch an Vollständigkeit, noch ist es in meinem Sinne, die Sichtweisen aller an einem Patchworkprozess Involvierten einzunehmen. Ich lasse kurze Sequenzen der Empfindung anderer zu, zu mehr bin ich nicht bereit. Ja, auch ich habe egoistische Motive. Ich bin durchdrungen von der Idee, die Stimme der Trennungskinder zu sein oder wenigstens ihr unterdrückter Husten. Ich ermächtige mich selbst, ihre traurigen und gekränkten Seelen zu Wort zu bringen.

      Freiheit erzeugt Trennung.

      Jede Medaille hat zwei Seiten.

      Ich konzentriere mich auf die, die im Schatten liegt.

      In Anbetracht der Komplexität, individuellen Herausforderung und jeweiligen Ausformung der persönlichen Identität in verschiedenen Lebensphasen kann es gar keine allgemeingültige Aussage über die Empfindungen von Trennungskindern geben. Genauso wie es auch kein universelles Rezept für gesunde Ernährung, Glücklichsein oder den Umgang mit Schicksalen gibt. Kein Lebenslauf gleicht dem anderen. Jeder Mensch ist ein einzigartiger und unverwechselbarer Kosmos. Es gibt Unterschiede in den Ausgangssituationen, den Familienkonstrukten und den eigenen Wahrnehmungen.

      Und doch: In meinem privaten Austausch mit Trennungskindern mache ich oft die Erfahrung, dass ihre Geschichten und Erlebnisse in verblüffender Weise meinen eigenen Empfindungen von Schmerz und Getrenntsein ähneln. Nach dem ersten Widerstand, sich zu offenbaren, folgen traurige Enthüllungen. Lange ging es den meisten von ihnen „gut“, sie waren „in Ordnung“, oder der getrennte Elternteil war ihnen „egal“ und der Umgang mit ihm „nicht wichtig“. Ein Blick in die Augen. Dumpf, traurig und erschöpft.

      Man erkennt sich.

      Eine empathische Tür zur Wahrheit öffnet sich. Zaghaft fallen die Masken und verdrängte Gefühle stürmen ins Bewusstsein. Trotz meiner Erfahrungen bin ich überrascht, wie groß die Verletzungen anderer Trennungskinder sind, jenseits meiner eigenen Geschichte. Die Resonanz ist umwerfend. Einer einfühlsamen Seite in mir und meinem Gespür für das Unbewusste offenbaren sich jedoch gegensätzliche Regungen in den noch nicht Ausgesöhnten. Traurigkeit und Verzweiflung kommen zwar zum Ausdruck, aber die Körpersprache zeigt mir auch, dass die kommunizierten Inhalte immer noch beschönigt werden. Dieses Versteckspiel der Verletzlichkeit ist mir vertraut. Erst wenn dann auch die letzten Flunkereien ihre Berechtigung verlieren, entstehen intensive Momente des Vertrautseins, basierend auf einem gegenseitigen Verständnis.

      Tränenreich.

      Ohnmächtig.

      Gleichzeitig auch erfüllend, denn der mühsam versteckte Schmerz darf sich endlich doch zeigen und man ist mit seinen Empfindungen nicht mehr allein. Die Isolation entpuppt sich als fixe Idee und ist schnell durchbrochen. Es entsteht ein befreiender und befruchtender Austausch. Besonders die Ablenkungen, welche bis dahin die innere Leere ersetzen sollten, werden in ihrer Vielzahl und in ihrem Mechanismus sichtbar. Stummes Nicken. Erkenntnis. Hoffnungsschimmer.

      Erkennst du dich?

      Das Ende der Illusion, der Anfang von Heilung.

      Kein Rezept.

       EVERYBODYS DARLING

      Jeder Tag ist ein Kampf für mich. In mir tobt ein Krieg. Mein Widerstand richtet sich gegen mich selbst. Kraftlos schleppe ich mich durch mein Leben – wie blutlos. Ich kann nicht mehr.

      Mein Vater ist nicht da. Seit Jahren fühle ich mich allein. Das Loch seiner Abwesenheit wird größer und tiefer. Ich gerate immer mehr ins Unendliche. Dort ist es rabenschwarz und keiner macht das Licht an.

      Ich lasse los, gebe auf. Gebe die Hoffnung auf, jemals ein ganzer Mensch zu sein. Dann hört auch endlich das Leiden auf. Ein langer Schlaf scheint mir eine willkommene Lösung. Erlösung.

      Meinetwegen.

      Ich stimme zu.

      Endlich Ruhe und Frieden.

      Ich war ein strahlendes und lebenslustiges Kind: Susanne. Ich nenne mich Susanne, um eine Elle Abstand zwischen uns zu legen. Um mich selbst betrachten zu können. Erfüllt von der naiven Idee, die Welt sei ein vertrauensvoller Ort, eine sichere Bärenhöhle. Ich war frei und unbedarft. Die ursprüngliche Reinheit der Natur. Ein Quell an Kreativität und verrückten Ideen. Die Welt wartete darauf, von mir erobert zu werden. Nichts leichter als das, dachte ich. Schwerelos. Jetzt kann ich mich kaum noch an diesen seelenvollen Zustand erinnern. Es ist mehr ein Gespür.

      Heute bin ich die Art Mensch, die die Einsamkeit der Begegnung mit Menschen vorzieht. Schreibend, statt schreiend, sitze ich auf einem weich gepolsterten Stuhl, an einem großen massiven Holztisch, vor einem traumhaft grünen Panorama auf meiner großen Südterrasse. Die Grillen zirpen und die Sonnenstrahlen streicheln meine Wangen.

      Frieden.

      Meine gewählte Einsamkeit habe ich mir nett eingerichtet, mit allen erdenklichen Bequemlichkeiten. Es gibt nur wenig gute Gründe, diese heilsame und schützende Obhut zu verlassen. Hier bin ich sicher und von mir selbst wohlbehütet. Draußen pfeift der Wind der Zurückweisung. Hinter jeder Ecke könnte mir die Verletzung auflauern, mich angreifen: Menschen sind nicht vertrauenswürdig. Ich bleibe daheim. Eine Eremitin.

      Meine Freunde würden das bestreiten. Das dürfen sie. Aber ich weiß es besser. Nur wenige in meinem Umfeld erkennen hinter meinem herzlich extrovertierten Wesen die große Sehnsucht nach Ruhe. Versteh mich nicht falsch, ich bin kein Menschenfeind. Im Gegenteil, zwischenmenschlicher Austausch ist für mich so inspirierend wie notwendig. Ich bin ein Gemeinschaftstier. Aber ich brauche nach jedem Kontakt mit Menschen den elementaren Rückzug auf meine weiche Couch, wo ich eingehüllt in meine schützende Webpelzdecke und versteckt zwischen meinen samtigen Sofakissen verschwinde. Hier tanke ich Kraft. Die Kraft, die ich für den nächsten Umgang mit anderen brauche, die ich verschwenderisch verbrauche, weil ich gefallen, geliebt und auf keinen Fall abgelehnt werden will.

      Harte Arbeit.

      Mich aus dieser selbstverstellenden Konditionierung zu befreien ist Schwerstarbeit. Nur zögerlich gelingt es mir mit jedem Tag mehr, mich und meine Verletzlichkeit offener zu zeigen. Manchmal fühlt es sich nicht so schwer an, wie ich


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