Aufschrei. Zela Sol
gute Absichten auch. Aber sie fragen nicht, warum wir so sensibel geworden sind. Sie sagen nichts zu unserem stillen Weinen. Ach, stimmt. Sie wissen es ja nicht. Zu den Interviews und den Studien haben sie uns nicht mit eingeladen.
Du suchst nach einer Matrix-Heilung. Die gibt es nicht. Du bist trotzdem müde. Den Schuldigen in der Gesellschaft zu suchen oder deine Eltern anzuklagen hat dich keinen Schritt weitergebracht. Was hast du schon alles ausprobiert, um dich wieder vollständig und ganz zu fühlen? Familienaufstellungen? Verhaltenstherapie? Schweigeseminar? Fühlst du dich jetzt besser?
Wer rettet dich? Wer fängt dich auf? Es ist ein dreckiges Schlamassel. Selbstbefreiung. Das kannst du nicht? Schaffst du nicht? Du weißt nicht wie?
Gemeinsam.
Du und ich.
Und all die anderen verwirrten Seelen. Wir können das. Uns gegenseitig stützen, uns anvertrauen und uns wieder zusammenflicken. Ein Leben führen, das frei ist von Verlustängsten, Verdrängungen, Aufmerksamkeitsdefiziten und dem ständigen Ringen um Liebe. Unsere Geschichte als das erkennen, was sie ist: eine Geschichte.
Selbstbestimmt und freudvoll leben klingt nach einem einfachen Spaziergang. Das ist es nicht. Wir springen gemeinsam in den tiefen Schlamm verdrängter Emotionen. Es kann uns nichts passieren, was uns nicht schon lange passiert ist. Lass uns loslaufen! Stell dich auf deine eigenen Füße und lauf! Die Stürme der So-gelingt-Patchwork-Inquisition werden ordentlich durch deine Gehörgänge pusten, gesellschaftliche Konditionierungen werden sich an deine Fersen haften wie Pech. Du musst mit Widerstand rechnen. Trotzdem: Raus aus den schweren Fesseln deines Opferbewusstseins! Schluss mit Selbstsabotage! Selber denken ist unbeliebt und Verantwortung übernehmen unbequem. Du brauchst Mut für neue Entscheidungen und Ausdauer bei der Umsetzung. Womöglich potenziert sich dein Leid. Für den Moment.
Erstverschlimmerung.
Kein leichter Weg.
Warum also jetzt mit der Ehrlichkeit anbändeln? Was gibt es zu gewinnen? Welches Geschenk wartet auf dich, wenn du dich deiner inneren Wahrheit verpflichtest? Und was passiert, wenn du es nicht tust? Was erwartet dich dann? Ein Leben unter der Fuchtel der Verlustangst und unerfüllte Beziehungen. Das latente Gefühl, nicht gut genug zu sein. Nicht gelebte Wut in Form von körperlichen Symptomen: unerklärliche Rückenschmerzen. Entzündeter Magen. Krebsgeschwüre. Herzinfarkt. Die Medizin ist ratlos. Diagnose „Austherapiert“. Für Seelen-Burnout gibt es gar keinen Eintrag im ICD-Klassifikationssystem. Depressionen? Panikattacken? Ist es das, was du willst? Muss dein Herz erst kollabieren, damit du dich öffnest?
Es ist nicht nur eine Entscheidung zu deinem Wohle, sondern auch zum Wohle der Institution Familie. Zum Wohle der Gesellschaft. Zum Wohle kommender Generationen. Ja, du prägst das psychische Profil einer ganzen Kultur mit – so oder so. Du trägst Verantwortung.
Du wirst hier gebraucht.
Du bist wichtig.
Du bist richtig.
LIEBE STIEFMUTTER,
erzähl mir von dir. Was beherrscht und bewegt dich? Sei ganz offen. Lass nichts aus. Ich bin nicht schockiert über die geballte Wut in deinem Bauch. Ich empfinde deine angriffslustigen Emotionen nicht als fremdartig. Ich verstehe dich. Ich interessiere mich für dich und deine Geschichte.
Ich kenne deine Verbitterung und dein Leid. Wie lange geht das jetzt schon? Seit wann hältst du durch? Erträgst dieses ganze Theater, in dem du immer nur das bedauernswerte fünfte Rad am Wagen bist. Die Schuldige. Ohne deren Anwesenheit alles besser wäre. Die Kinder müssten nicht mehr um ihre Vormachtstellung kämpfen. Dein Mann wäre nicht mehr in Loyalitätskonflikte verstrickt, müsste sich nicht mehr zerteilen. Und du, du müsstest nicht mehr die liebevoll aufopfernde Zweitmutter spielen, die du nicht bist. Nicht in diesem Familienkonzept.
Du wärst es so gerne: Mutter dieser Kinder. Du möchtest es von ganzem Herzen sein. Doch du kannst es nicht. Es sind nicht deine Kinder. Du liebst sie nicht. Nicht so. Vielleicht ein bisschen. Anders. Du magst sie ein wenig. Ein wenig mehr? Gut, lass uns verhandeln. Ab und zu bist du gerne mit ihnen zusammen, aber dann lehnst du sie wieder innerlich ab. Ohne sie wäre dein Leben leichter. Manchmal hasst du sie auch. Das ist in Ordnung. Sie sind dir im Weg, da können sie noch so niedlich sein. Sie kommen nicht aus deinem Bauch. In ihren Adern fließt das Blut einer anderen Frau.
Es zerreißt dich innerlich.
Dein Mann bekommt davon natürlich wenig mit, es wäre das Aus für eure Beziehung. So spielst du fleißig deine Rolle, bist verständnisvoll, bringst dich ganz ein. Gibst mehr, als du zu geben imstande bist. Du gibst dich auf. Erkennst dich selbst nicht mehr. Was ist aus dir geworden? Du hättest nie geglaubt, dass es böse Stiefmütter wirklich gibt. Ein Märchen. Ein Märchen?
Deine Realität.
Deine Stiefmütterlichkeit beschränkt sich auf Popos abwischen, Frühstücksbrote schmieren, Kinderzimmer aufräumen und den Hol- und Bringservice. Dafür bist du gerade gut genug. Das kann man dir als nicht leibliche Mutter zutrauen. Du bist die Haushaltsmanagerin. Du bist die Putzfrau ohne Weisungsbefugnis. Für alles andere fehlt dir die Nabelschnur. Ein Erziehungsmandat steht dir nicht zu. Deine Einmischung in das kindliche Benehmen ist unerwünscht. Deine Anregungen zur Entwicklung des Stiefkindes bleiben ungehört. Dein Mann will sein Kind vor deinen Erziehungsmaßnahmen beschützen. Du bist so streng, so laut, so ungehalten. Die Kinder können doch nichts dafür. Richtig, aber der Spruch quillt dir trotzdem aus den Ohren. Deine Stiefkinder mutieren zu wahren Kotzbrocken – sie können nicht anders, weil sie sich selber schützen und verteidigen müssen.
Sie tun dir leid.
Du tust dir aber auch leid.
„Du verstehst das nicht“, wiederholt dein Partner als Endlosschleife. Selbstverständlich verstehst du es nicht. Wie soll man diese unnatürliche Symbiose auch verstehen. Er versteht es auch nicht. Die Kinder verstehen es nicht. Keiner versteht diesen familiären Kokolores, dieses zerfetzte Durcheinander. Jeder kämpft mit seiner eigenen emotionalen Verwirrung. Jeder in dieser Fetzenfamilie hält sein Leid für das Wichtigste. Du auch. Du weißt es, aber du kommst auch nicht darüber hinaus. Schließlich hast du eigene Bedürfnisse.
Wo sind die eigentlich geblieben? Kannst du dich selbst noch spüren? Wer warst du, bevor du dich entschieden hast, Stiefmutter zu sein? Was ist aus deinem Traum von der eigenen kleinen Familie geworden? Was ist mit deinem Anrecht auf persönliches Glück? Was genau hat das Universum falsch verstanden? Du hast dich bis über beide Ohren verknallt, in diesen Mann – den Kindsvater. Den Mann mit Anhängsel. Ihr liebt euch. Natürlich liebt ihr euch. Die Liebe zu deinem Partner ist so stark, dass du, ohne groß darüber nachzudenken, in die Rolle der Bonusmutter geschlüpft bist.
Bonusmutter – eine unerträgliche Begrifflichkeit, findest du nicht auch? Sie beinhaltet, dass du für deine Rolle als Stiefmutter eine Treueprämie, einen Zuschuss für besondere Leistungen erhältst. Ein Profitgeschäft. Hast du deinen Zugewinn dieser zusammengewürfelten Gemeinschaft schon erkannt? Wann und wie wird dein Bonus ausgezahlt? Gibt es eine Sondervergütung für Patchworkgeplagte? Nichts dergleichen. Ein kleines Dankeschön und eine versöhnliche Geste wären dir ja auch schon Bonus genug. Ein einziger Mensch, der deine Bemühungen sieht und deine Haltung wertschätzt, der dich tröstlich und kraftvoll in den Arm nimmt und dir liebevoll ins Ohr flüstert: Ich verstehe dich, du bist nicht alleine damit, du schaffst das, du machst das prima, du gibst dein Bestes, ich sehe es, ich sehe dich, wäre der größte Bonus für dich.
Stattdessen weht dir aus dem Patchworknetzwerk ein kühler Wind entgegen. Keine oder wenige Umarmungen und noch weniger liebevolle Worte. Du fröstelst. Du wirst stiller und ziehst dich immer mehr zurück. Dein nächstes Wort könnte schon wieder als Schikane gedeutet werden. Alle Augen sind auf dich gerichtet und jede falsche Geste wird unverzüglich abgestraft. In den Augen der anderen bist du hartherzig, ihr Hirn ist auf „Böse Stiefmutter“ programmiert.
Die Messlatte liegt zu hoch.
Du kannst ihnen nicht gerecht werden, sie wollen dich so: böse. Eine gute Stiefmutter