Aufschrei. Zela Sol
unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Wir erkannten frühzeitig die Vorteile dieser Gemeinschaft. Währenddessen erreichten uns die wachsende Unzufriedenheit der Erwachsenen und ihre Missbilligung des politischen Systems nicht. Für unsere Kinderseelen waren es goldene Zeiten – voller Dankbarkeit blicke ich darauf zurück –, bis die ersten Wolken am Horizont aufzogen.
MAMA
Unser kleines Beton-Domizil war das Herz der Siedlung und eine großzügige Auffangstation. Alle liebten meine Mama. Ihre Fürsorge reichte für alle Siedlungskinder. Sie schuf die Aura eines überfamiliären Klimas. Mama – Passion und Begabung – die Rolle, die ihr auf den Leib genäht war. Die Übermutter. Liebevoll streng, mehr liebevoll als streng. Verspielt, aber achtsam bei jedem Schritt ihrer geliebten Sprösslinge und Leihkinder. Lebensziel: Familien- und Gesellschaftsmensch.
Ein Sommertag ist tief verankert in meinem Herzen. Wir Kinder spielten unbeschwert in unserem Gemeinschaftsvorgarten Hüpfekästchen. Meine Mama kam mit einem Tablett voll beladen mit Nutellabrötchen zu uns und verteilte sie wie eine Königin, ganz selbstverständlich, unters Kindervolk. Alle stürzten sich auf die Leckereien. Wir liebten Nutella und meine Mama liebte leuchtende Kinderaugen. Win-win. Geben ist seliger denn Nehmen. Meine Mutter wusste um diese Schlaumeierei. Nutella war exquisit. Dank der Pakete unserer Westverwandtschaft war uns diese Delikatesse vergönnt – mir und der großen Kinderschar.
Meine Mutter wurde vergöttert und ich suhlte mich unter ihrem Heiligenschein. Ihre engelsgleichen Energien sind teilweise auf mich übergeschwappt und machten mich zur Geberin, zur Gönnerin. Großzügigkeit liegt in unserer Ahnenkette. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Motivationen. Auf den zweiten Blick sind die Erwartungen dahinter gleich: geliebt zu werden. Liebe geben und dafür Liebe erhalten.
Das Spiel des Lebens.
Jeder spielt es anders.
Mama war großartig. Dazu sah sie liebreizend aus und verströmte immer den Flair einer jugendlichen Unschuld. Ein bunter Schmetterling, der direkt in mein Tochterherz flatterte und dort Seelenbalsam verstrich. Ihre Gegenwart bedeutete Strahlkraft und hinterließ Feenstaub. Das Gegenüber war ihr wichtig. Nächstenliebe und Mitgefühl waren keine Phrasen für sie. Sie lebte beides und besaß die Gabe, andere zu inspirieren. Zu erheben, wenn sie sich niedergeschlagen fühlen. Eine Botschafterin des Himmels. Segensreich. Ätherisch schön, innen wie außen.
Wo ein Engel wirkte, steckte aber auch ein Teufelchen drin. Die Verwandlung geschah oft in aller Kürze. Eben sah ich noch die weißen Flügel am Mutterleib, als plötzlich zwei rote Hörner aus dem Schädel wuchsen. Alles in Deckung! Sie machte keine halben Sachen, fackelte nicht lange, wenn man ihre Großherzigkeit ausnutzte. Wer es dennoch wagte, wurde abgestraft. Ihr eigenes Kind wagte es nicht. Ich war mir der riskanten Stelle bewusst, wo der glänzende Horizont in die finsteren Tiefen stürzte. Mutig war ich, aber nicht dumm.
Mama in Feuerform. Das war nicht weniger beeindruckend als ihre Engelsgestalt. Sie konnte herrlich aufbrausend sein, immer mit dem Zepter fest in der Hand. Eine Frau mit Format. Ich gab ihr wenig Anlass, verärgert zu sein. Artig blitzten meine weißen Zähnchen, mit dem Ziel, ihr Strahlen zu locken. Und ich wurde oft und viel angestrahlt.
Mama.
Sie segnete meine Welt mit anmutiger Bemutterung. Mein Gefühl des Daheim-Seins war allgegenwärtig. Wir waren eine kleine glückliche Familie, entsprechend den Werten unserer demokratischen Republik und im Sinne des unendlich guten Geistes. Ich war der leibhaftige Beweis für die Gunst des Schöpfers. Süßes Leben. Warum hast du mich verlassen?
PAPA
Ein Mordskerl. Ein Typ mit Charakter. Unwiderstehlich. Unbestreitbar die erste große Liebe meines Lebens. Wie meine Mama bin ich diesem Weiberhelden gnadenlos verfallen. Ich behaupte, alle Vaginas unserer Plattenbausiedlung waren scharf auf ihn. Papa, ein Womanizer. Ein Papagallo. Charmant und gewitzt. Dazu ein Freigeist und intellektueller Tausendsassa. Beeindruckend vielseitig.
Liebling der Frauen.
Mein Liebling.
Aber er hatte noch mehr zu bieten: Herz und Seele. Eine tiefe Seele, auch verletzt. Optisch ein Kraftstrotz, aber im Innern sehr empfindsam. So lieben wir Frauen die Männer. So wollen Töchter ihre Väter. Das Idealbild.
Bilderbuchpapa.
In seinen starken Armen war die Welt total in Ordnung. Er war mein Zufluchtsort, mein sicheres Zuhause. Bombensicher – sieben Jahre wohlbehütet und geschützt. Sieben Jahre Glitzerwelt. Danke.
Mein Vater hatte seine Prinzipien, und da ließ er keine Luft ran. Ein Revoluzzer, mit eigener Meinung und lauter Stimme. Das habe ich heimlich bewundert. Nachgeahmt. Ich liebte ihn heiß und innig, hatte aber auch Respekt vor ihm. Gar nicht so selten gab es eine Backpfeife für denjenigen, der danach bettelte. Ich fand das großartig. Mein Papa – ein Handlungstyp. Das machte Eindruck.
Anfangs. Später fürchtete ich mich davor.
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust …“ So betörend vital und robust mein Vater einerseits war, mit den Unberechenbarkeiten des Gefühlslebens kam er nicht so gut klar. Sein hohes Maß an Freiheitsliebe machte ihn unstet und unzuverlässig. Ein ausgefülltes Leben als Familienvater war nicht sein vorrangiges Ziel. Vergnügen und Abwechslung standen stattdessen auf seinem Tagesplan.
Augenscheinlich.
Als Tochter warf ich einen zweiten und dritten Blick. Tief in seine Seele. Sein warmes Herz. Ich spürte seine Liebe und direkt daneben seinen Schmerz. Nach außen tarnte er seine Gefühle unter einem charmanten Quatschkopf. Da liebte ich gleich noch mehr, diesen Narren und seine Verletzlichkeit. Egal in welcher Beziehung, dieser Mann konnte einem nicht gleichgültig sein. Seine Gegenwart war lebendig, er hatte eine einnehmende Präsenz und eine auffordernde Energie. Eine Dunkelheit dahinter konnte man nur schwer erahnen. Ich schon. Kräftig mitfühlend suchte ich nach einem Verständnis für den düsteren Schatten auf seiner Seele. Doch wie weit erlaube ich mir Anteilnahme? Andere verstehen, verändert das etwa den eigenen Schmerz?
Ablenkung von der eigenen Seelennot? Ist es Liebe?
Es ist, was es ist.
Vater verdiente sein Geld als Maurer. Nach seiner beruflichen Tätigkeit ging er zur Feierabendbrigade, oder wie man liebevoll sagte „zum Pfusch“. Staatlich geförderte Schwarzarbeit. Den zumeist höheren Lohn gab es bar auf die Hand. Der wurde oftmals unmittelbar in geistige Flüssigkeit umgesetzt. Meistens schon vor Ort. Mit zwei Promille eine Elektroleitung verlegen war keine Seltenheit. „Lass die Leute ein bisschen was dazuverdienen.“ Honecker, der Menschenkenner. Gefällt mir.
Der Nachteil der Feierabendbrigaden war eine regelmäßig spätnächtliche Heimkehr des Häuptlings in sein familiäres Nest. Meist schwankenden Fußes. Ich mochte den Geruch von Kaugummi aus dem Rachen meines Vaters. Den Pfefferminzlikör („Pfeffi“) hatte er pur getrunken. Überhaupt war er in diesem Zustand viel lustiger als sonst. Wenn ich denn schon noch einmal wach geworden war, veranstaltete er allen möglichen spaßigen Unsinn mit mir.
Für Blödsinn war ich immer zu haben.
Er auch.
Das besorgte Gesicht meiner Mama daneben nahm ich dabei kaum war. Ich erinnere mich an eine Begebenheit, wo sich der Spaß allmählich in Schrecken wandelte. Mein Vater saß trunken in der Küche und pfiff mich barsch heran. Im Schlafanzug stand ich vor ihm. Müde. Warum wächst du denn nicht schneller? Er goss mir die Worte und das Wasser aus der vollen Zimmergießkanne über den Kopf. Ich war völlig durchnässt und weinte. Ich verstand nicht.
Ich war enttäuscht.
Eingeschüchtert.
Er lachte lauthals. Mir war das Lachen vergangen.
Immer öfter ging er nach der Arbeit „auf ein Bier mit Freunden“. Meine Mutter erzählte mir später, dass er nach dem Schaffen nach Hause kam, ein ausgedehntes Bad nahm, sich