Aufschrei. Zela Sol

Aufschrei - Zela Sol


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er das tat, weiß nur er.

      Gerne erinnere ich mich an die Zeiten, in denen ich kränklich war. Es war meistens ein Papajob, mich in diesen Tagen des Unwohlseins zu betreuen. Dann gab es für das kranke Kind eine leckere Nudelsuppe mit Ei und viele Streicheleinheiten. Diese Stunden habe ich sehr genossen.

      Mit Papa allein.

      Allein in Papas starken Armen.

      Glückskind.

      Die Suche nach genau diesem Schutz und der vertrauten Zweisamkeit währte viele Jahre meines Erwachsenen-Daseins. Mit Schmerzen und Krankheit verfolgte mich sein Verlust. Auch heute noch gibt es Symptomzeiten, in denen ich mir nichts sehnlicher wünsche als den Beistand und die Fürsorge meines Vaters. Obwohl mir seit über dreißig Jahren bewusst ist, dass mir diese Seelsorge in Augenblicken des Leidens verwehrt bleibt, wünsche ich sie mir umso energischer. Ich kann nicht ablassen von dem Bedürfnis, von Papa getröstet zu werden, und nähre es weiterhin durch viele krankhafte Zustände. Doch er kommt nicht. Und ich versinke in meinem eigenen Mitleid. In meinen schlimmsten Phasen fühle ich mich grauenvoll verlassen. Allein gelassen. Mein Herz will sich nicht damit abfinden.

      Kind der Sonne.

      Im Schattendasein.

      Die Vater-Tochter-Beziehung: Einzigartig soll sie sein. Prägend für immer. Papa – die Verkörperung meines Männerbildes. Wie stark sich diese besondere Verbindung auf mein Leben auswirken sollte, zeigt die Jahrzehntezeit meines ständigen Suchens und Erfahrens. Versuch und Irrtum. Tiefes Graben in unzähligen verhaltenspsychologischen Wahrscheinlichkeiten – (fundamentaler Inhalt dieses Buches). Eine spannende und herzzerreißende Reise in meine eigenen seelischen Abgründe. Ängste. In den vielen Jahren meines Vaterseelenalleinseins habe ich jeden Aspekt dieser eingewurzelten Bindung analysiert, zerpflückt und neu zusammengesetzt. Ich war Forscherin, Wissenschaftlerin, Biologin und Therapeutin. Die Vater-Tochter-Symbiose, ihr frühzeitiges Zerreißen und ihre herrische Fuchtel über meinem Lebensweg habe ich akribisch zu meinem Lebensinhalt gemacht.

      Nicht freiwillig.

      Aus Not habe ich Tausende Seiten Literatur verschlungen, in der Hoffnung auf Beziehungserleuchtung. Meinungen von Psychologen und Ansätze von Familienexperten verglichen. Streckenweise empfand ich mich als Expertin für Genetik und Anatomie. Erschwerend hat die Philosophie penetrant ihren Senf dazugegeben. Die Gruppe der getrennten Elternteile war zu keiner Zeit um Ausreden verlegen, zumal völlig überfordert mit diesem Thema. Nirgends fand ich Antworten. Wo ich auch suchte, traf ich auf schwammige Theorien von Unbeteiligten, die sich jahrelang auf der Schulbank und in Hörsälen in dieses Thema vertieft, es aber nie selbst erlebt hatten. Verallgemeinerungen verschiedenster Couleur. Meine Wahrheit habe ich hinter all den Seminaren, Selbstfindungstrips und Familienaufstellungen nur an einem einzigen Platz gefunden. Dort ist sie immer gewesen. Ich habe noch eine Chance. Eine letzte Chance.

      Die Stimme des Herzens.

      Es ist ein Flüstern, dass zu mir durchdringt. Ein leises Sprechen. Eine versöhnliche Energie. Man hört es kaum. Ich mag es auch nicht hören. Noch nicht. Jetzt will ich laut und persönlich sein, schreien, poltern und meiner Wut Ausdruck verleihen. Also schreibe ich. Keine pikante Plauderei aus dem Patchworknähkästchen.

      Ein Aufschrei.

      Eine Beschwerde.

      Ein wahres Wort.

      Auch ich bin gespannt, was auf mich wartet, wenn der Zorn verpufft und das Feuer ausgespuckt ist.

       DAS SIEBTE LEBENSJAHR

      Die Zahl Sieben begleitet mich zuverlässig mein ganzes Leben. Sie ist eine Primzahl, nur durch eins und sich selbst teilbar. Die einzige Zahl, die sich für mich willkürlich und einzigartig anfühlt. Numerologisch steht die Sieben für Fortschritt und Sieg. Verkörperung des Überwindens. Mein siebtes Lebensjahr – ein Jahr, dass überwunden werden will. Muss. Weil es mit Wunden übersäht ist. Der Schock drin sitzt. Das Jahr der Abschiede.

      Bye bye, Papa.

      Bye bye, Glückskind.

      Ich entscheide mich, von nun an zu leiden und zu vergessen. Keine Alternativen in Sicht. Keine helfende Hand. Vergessen ist das bessere Erinnern. Folglich weist mein Gedächtnis große Lücken auf. Der Speicher reicht nur bis zu meiner Schuleinführung. Danach Black Hole, oder wie die Wissenschaft es nennt: eine retrograde Amnesie. Spezielle Diagnose. Legitim. Eine Person ist nicht mehr in der Lage, sich an sämtliches Geschehen vor einem bestimmten Ereignis zu erinnern. Meist ein traumatisches. Ja was denn sonst?

      Trennung meiner Eltern.

      Die Zeit der ersten bis dritten Klasse in der Schule – einfach weg! Film gelöscht. Nicht ganz. Die Kopie ist abgelegt in einer düsteren Ecke meines Unterbewusstseins. Unter Verschluss gebracht. Verriegelt und verrammelt, mit einem gordischen Knoten gebunden. Bewacht von dem Militärkorps der Schweizergarde. Versteckt hinter den sieben Bergen.

      Nie wieder fühlen.

      Gut so.

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       DIE TRENNUNG

      Ich habe lange nach einer ausdrucksstarken Überschrift für dieses Kapitel gesucht. Eine Headline, die meinen Schmerz direkt zu dir transportiert. Eine Wortverbindung, die dich in Sekundenschnelle in mein finsteres Tal befördert. Ein gewaltiger Ausdruck. Ohne Erfolg.

      „Trennung“.

      An der essenziellen Begrifflichkeit komme ich nicht vorbei. Sie ist für sich selbst stark genug, um allein zu stehen. Die Deutungsmöglichkeiten sind begrenzt. Getrennt ist getrennt. Ein neues Zusammenfinden kann entstehen. Ja. Ein Familienmodell mit interessanten Möglichkeiten. Ja. Ein großes Spielfeld für persönliche Entwicklung. Auch ja. Persönliche Vorteile. Aber ja doch. Wieder ganz werden? NEIN!

      Nie wieder.

      Egal, was in diesem Universum voneinander getrennt wird, es wächst nie wieder heil zusammen. Die Schweißnaht bleibt lebenslang sichtbar. Oder unsichtbar. Verborgen, nach innen gestülpt. Verwächst sich.

      In meinem siebenjährigen Susannebewusstsein gab es kein Häkchen für die Option „Trennung meiner Eltern“. Das stand schlicht nicht zur Wahl. Auch in meinem Freundeskreis gab es diese Erfahrung nicht. Da war alles tutti paletti. Es gab keinen Spielraum in meinem System für solch eine Eventualität. Meine Seele war an dieser Stelle nicht dehnbar. Mein Herz nicht flexibel. Es ist gebrochen. Glas.

      Mein emotionaler Zugang zu dieser Lebensphase ist mir dank Amnesie versperrt. Ein psychischer Abwehrmechanismus, der das tatsächliche innere Erleben vom Bewusstsein abgespalten und rigoros weggepackt hat. Kluges Ding. Aber es nützt nichts. Im Gegenteil. Wenn ich es da heraushole, wird das erneute Empfinden meine Psyche definitiv überfluten und mein Hirn in der Luft zerreißen. Man erlebt es ja nicht einfach nur nach, sondern ganz real noch einmal. Dazu fehlt mir die Kraft. Ich bin ein Halbkind. Halbstark. Stoße einen Medizinball gegen einen einbeinigen Menschen. Was passiert? Genau.

      Meine Kraftreserven sind streng rationiert. Vor Situationen, die mir Kraft abverlangen, flüchte ich. Mit Recht. Wenn ich muss, tauche ich ultravorsichtig ein. Ich brauche die Sicherheit einer Notbremse. Rückzug. Langsam wieder vor. Schritt für Schritt, und viel Raum für alles, was dann herauskommt aus dem Keller. Was ich noch nicht kenne. Ich befürchte die Apokalypse. Hoffe auf die Offenbarung.

      Apropos Kraft. Du gibst mir Kraft. Jetzt, genau in diesem Moment und unbekannterweise. Ja, du! Du hörst mir zu, ermutigst mich. Dein Lesen trägt mich. Du machst es mir leichter. Dafür danke ich dir.

      Tränen.

      Eine Zigarette.

      Widerstände weiterzuschreiben. Seele und Ratio im Zwiespalt. Die miese Stimme: Du kannst das nicht. Du schreibst nicht gut genug. Du dramatisierst. Du bist so albern, wie du dasitzt mit deiner Vergangenheit. Was soll das bringen? Bleib im Hier und Jetzt. Du retraumatisierst dich.

      Die


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