Der Wächter der goldenen Schale. Alexander Lombardi
hab dir doch gesagt, dass das keine gute Idee ist«, schimpfte Antonia. »Was hast du dir nur dabei gedacht, so einen Quatsch zu machen? Jetzt schau dir an, was passiert ist!«
Jaron flüsterte etwas, das wie »Entschuldigung« klang.
Aber Antonia achtete gar nicht darauf. Es tat gut, ihren Zorn an demjenigen, der ja offensichtlich schuld an dieser Katastrophe war, auszulassen. »Immer glaubst du, du bist der Größte, du arroganter Mistkerl!«, rief sie wütend. »Hauptsache, du stehst wie der große Macker da, hast die tollsten Ideen. Dass andere dabei zu Schaden kommen, daran denkst du keine Sekunde!«
In diesem Moment griff jemand von hinten nach ihrem Arm. Es war Franky, der mit Telefonieren fertig war. »Hey, Antonia, jetzt chill mal. Das hat Jaron ja wohl nicht mit Absicht gemacht.«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie sarkastisch.
»Jetzt ist aber gut!« Frankys Stimme klang energisch. »Hör auf. Der Krankenwagen ist unterwegs, hörst du? Und deine Eltern habe ich auch erreicht. Sie kommen, so schnell sie können.«
Antonia kniff ihre Augen zusammen und fixierte Jaron. Der stand stumm da, starrte ins Leere und wurde immer blasser, wenn das überhaupt möglich war. Als sie gerade noch einmal etwas zu ihm sagen wollte, drehte er sich abrupt um und ging die Straße hinunter.
»Jaron! Wo willst du denn hin?«, rief sie ihm nach.
Er antwortete nicht, sondern fing an zu rennen. Kurz darauf verschwand er um eine Kurve.
»Was geht denn mit dem ab?«, wandte sich Antonia an Franky.
»Keine Ahnung.« Er zuckte mit den Schultern. »Es sah aus, als hätte er einen Geist gesehen.«
Nachdenklich runzelte Antonia die Stirn, ihr Ärger war auf einmal wie weggeblasen. »Vielleicht hat er das ja tatsächlich«, murmelte sie.
Wenige Minuten später ertönte das Martinshorn und ein Krankenwagen brauste um die Kurve. Die Sanitäter überblickten die Situation sofort. Sie vergewisserten sich, dass den übrigen vieren nichts fehlte, und kümmerten sich umsichtig um die verletzte Sina.
Die hatte inzwischen aufgehört zu weinen und wimmerte nur noch leise, als die Helfer sie sorgfältig untersuchten, auf die Trage legten und zudeckten.
In diesem Moment kamen Gitti und Andreas Reihmann angefahren und hielten hinter dem Krankenwagen an.
Gitti stürzte aus dem Auto. »Was ist passiert?«, rief sie besorgt, während sie zu der Trage rannte, auf der Sina lag. Auch Andreas eilte zu seiner Tochter.
Einer der Sanitäter legte Gitti beruhigend die Hand auf den Arm. »Sie hat sich wahrscheinlich das Bein gebrochen, deshalb bringen wir sie in die Klinik. Wenn Sie möchten, kann einer von Ihnen mitfahren.«
»Ich fahre mit«, sagte Andreas schnell.
Gitti nickte. »Ruf mich an, sobald klar ist, was sie hat.«
»Natürlich, das mache ich«, versicherte Andreas.
Die Sanitäter schoben Sina in den Krankenwagen, und Andreas stieg hinten mit ein, wo er neben ihr sitzen und ihre Hand halten konnte. Dann schlossen die Sanitäter die Türen und fuhren los.
Gitti nahm Lukas in die Arme. »Und du, mein Lieber, geht es dir so weit gut?«
Lukas nickte. »Alles okay. Mein Arm tut schon gar nicht mehr weh. Mama, wird Sina jetzt sterben?«
»Aber nein, mein Schatz.« Gitti lächelte schwach. »Sie hat sich nur am Bein wehgetan, das ist sicherlich gar nicht so schlimm. Die Ärzte kümmern sich um sie und Papa ist ja auch bei ihr.«
Sichtlich beruhigt schmiegte sich Lukas an sie.
Nun wandte sich Antonias Mutter an die drei Freunde, die immer noch dastanden und nicht genau wussten, was sie jetzt tun sollten. »Was ist denn genau passiert?«
Antonia schilderte kurz, wie Jaron die Zwillinge aufs Rad genommen und dann in der Kurve gestürzt war.
»Und wo ist Jaron jetzt?«
Antonia zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Er ist einfach davongelaufen.«
Jaron rannte. Auf den Weg achtete er kaum, seine Füße trugen ihn automatisch hinunter zum Seeufer und dann die Treppen hinauf zur Seeburg. Sein Kopf war wie leer gefegt, kein klarer Gedanke blieb darin zurück.
Er lief durch das Portal und schließlich in sein Zimmer. Dort warf er sich bäuchlings aufs Bett und blieb einfach liegen. Ein gewaltiger Schluchzer stieg in ihm auf.
Später, irgendwann viel später klopfte seine Mutter an die Tür. »Jaron?«, fragte sie leise.
Er antwortete nicht.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und sie schaute herein.
Als er sich aber nicht rührte, schloss sie Tür wieder und bedrängte ihn nicht weiter.
Ihm war es recht. Er wollte mit niemandem reden, am wenigsten mit ihr. Wie hätte er auch die Verzweiflung erklären sollen, die ihn übermannt hatte?
»Holt sofort den Grafen!«, rief Cäcilie von Beilstein, als ihr Sohn blutüberströmt in den Salon trat. Völlig fassungslos bei diesem Anblick, sprang sie auf und lief ihm entgegen.
Das angesprochene Dienstmädchen im schwarzen Kleid mit weißer Schürze verließ eilig den Raum.
»Was um alles in der Welt ist passiert?«, stieß die Mutter aus, während sie nach Ludwigs Arm griff.
Ludwig schwankte ein wenig und schloss die Augen. Jetzt, da seine Mutter ihn festhielt und er wusste, dass sie sich um seine Verletzung kümmern würde, wurde ihm schlecht. »Michi hat mich angeschossen«, flüsterte er und hielt sich an seiner Mutter fest, weil seine Beine nachgaben.
Sie stützte ihn. »Hier, leg dich erst einmal hin«, sagte sie beruhigend und führte ihn zu einem der Sofas.
Dann wandte sie sich Michi zu, der hinter Ludwig den Salon betreten hatte. »Was hast du angestellt?«, zischte sie ihn an. »Angeschossen? Was meint er damit?«
Ludwig sah verschwommen, wie sein Freund zurückwich.
»Es war keine Absicht«, stammelte der Junge. »Wir waren auf dem Speicher und da lagen diese alten Armbrüste. Ich wollte sie mir doch nur näher anschauen und einmal in die Hand nehmen. Dass eine von ihnen geladen ist, habe ich nicht wissen können.«
»Geladen? Was geht hier vor?«, polterte auf einmal Graf Maximilian von Beilstein, der nun auch zur Tür hereinkam.
Hastig erklärte die Gräfin: »Die Jungs haben sich wohl auf dem Speicher herumgetrieben, und Michi hat mit einer der Armbrüste, die dort herumliegen, auf Ludwig geschossen. Er hat ihn am Kopf verletzt.«
»Was? Das ist ja wohl die Höhe!«, brüllte der Graf und packte Michi am Arm.
»Es tut mir ja leid!«, jammerte der und wand sich im festen Griff des Mannes.
»Verschwinde!«, donnerte Ludwigs Vater, schleifte den Jungen zur Tür und warf ihn hinaus. »Das wird noch ein Nachspiel haben, verlass dich drauf!«, rief er ihm hinterher, bevor er die Tür des Salons zuzog.
Ludwig nahm wahr, wie sein Vater ans Sofa trat und sich über ihn beugte. »Lass mal sehen, mein Sohn«, sagte der Graf besorgt und drehte Ludwigs Kopf sanft zur Seite, um sich den Streifschuss näher anschauen zu können. »Wir brauchen eine Schüssel Wasser«, sagte er dann über die Schulter zu seiner Frau, »außerdem das Jod aus dem Medizinschrank und saubere Verbände.«