Still schweigt der See. Tina Schlegel

Still schweigt der See - Tina Schlegel


Скачать книгу
Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte sie am Arm zurückgehalten, aber ihm war klar, dass sie dieses Manöver seinetwillen gestartet hatte.

      »Hören Sie«, sagte Miriam ruhig und senkte ein wenig den Kopf. »Ich wollte nur höflich fragen, ob Sie vielleicht Wasser organisieren könnten. Ich wollte keinesfalls Ihre Position hier in Frage stellen.« Sie lächelte. »Wie heißen Sie denn?«

      »Halt’s Maul«, erklang eine Stimme aus dem Hintergrund, und Enzig wusste nicht, wen der dazugehörige Mann meinte, Miriam oder seinen Kollegen, aber wahrscheinlich meinte er beide.

      »Ich kann Sie ja Jochen nennen.« Miriam sah an ihm vorbei zu dem anderen. »Und Sie könnte ich Gert nennen.«

      Gert kam auf das Podium zugelaufen, stapfte auf Miriam zu und baute sich vor ihr auf. »Dir hat man wohl ins Gehirn geschissen. Was soll der Mist von wegen stickig? Hältst du uns für blöd?«

      Die beiden am Rand Stehenden wurden unruhig.

      »Was ist denn da los bei euch?«, rief der eine, und der andere sah sich nach den Männern an der Tür um.

      »Ich wollte lediglich Wasser von Gert und Jochen«, rief Miriam trotzig zurück.

      »Hey.« Gert rempelte Miriam an, doch sie hatte sich gleich wieder gefangen. »Du hältst jetzt das Maul, sonst …« Er richtete die Waffe direkt auf sie. Plötzlich erhob sich der ältere Herr und hob beschwichtigend die Hand. Er kam zu Miriam und stellte sich schützend dazwischen. Enzig beobachtete die Szene und staunte über den Mut des Mannes. Ein Raunen ging durch die restliche Gruppe am Boden. Die zwei Männer, die vorhin ebenfalls versucht hatten, sich aufzulehnen, hielten sich bereit. Enzig hoffte inständig, dass sie nicht ein weiteres Mal versuchen würden, handgreiflich zu werden. Es wäre der falsche Zeitpunkt, auch für Miriam wurde es langsam Zeit, sich zurückzuziehen.

      »Ich wollte wirklich nur Wasser, ehrlich, Gert.«

      Gert holte tief Luft und öffnete den Mund, beherrschte sich aber.

      »Wir können Wasser bestellen«, rief einer vom Gang.

      Miriam nickte langsam. »Dann gehen wir jetzt einfach auf unsere Plätze zurück, in Ordnung? Sie haben hier das Kommando.« Sie drehte sich um und wollte gerade losgehen, hielt dann aber inne und wandte sich noch einmal an Gert und Jochen. »Ich bin Miriam. Vermutlich wäre es nicht schlecht, wenn Sie auch Namen hätten. Wir haben sicher einiges zu besprechen heute.«

      »Du vorlaute kleine –« Gert kam nicht weiter, der andere legte ihm die Hand auf den Arm. »Sie hat recht, oder?« Jochen sah zu dem älteren Mann. »Hat sie doch, oder?« Der nickte erschrocken.

      »Was wird das hier?«, raunte ihm sein Kollege zu.

      »Hey, was zum Teufel treibt ihr da auf der Bühne?«

      Enzig hatte auf einen Schlag ein etwas klareres Bild der Gruppe. Das hat Miriam großartig gemacht, dachte er, und professionell obendrein. Sie hatte dem anderen das Gefühl gegeben, die Kontrolle zu haben, und dennoch dafür gesorgt, dass die Geiselnehmer sich positionieren mussten.

      »Bist du von der Polizei oder was?«, fragte der Größere jetzt Miriam. Seine Stimme klang zornig.

      »Nein, Gert, ich studiere hier«, antwortete Miriam unaufgeregt.

      »Hör auf, mich Gert zu nennen.«

      »Dann verrate mir doch deinen richtigen Namen.«

      »Du blöde –« Wieder hielt ihn sein Kollege zurück. »Was denn? Die will mich nur aushorchen, die denkt, ich bin blöd.«

      »Vergiss meinen Freund hier. Nenn mich Hans«, sagte der andere mit ruhiger Stimme. »Wir reden, wenn es etwas zu besprechen gibt. Und du, alter Mann, setz dich endlich wieder hin, verstanden?« Er trat einen Schritt zur Seite und sagte etwas lauter zu allen Anwesenden: »Habt ihr das gehört? Sie ist jetzt eure Sprecherin.«

      Langsam ging Miriam zu ihrem Platz zurück. Enzig konnte sehen, wie die Anspannung von ihr abfiel. Er konnte auch die hasserfüllten Augen von Gert in ihrem Rücken sehen und fröstelte.

      Miriam warf ihm im Vorbeigehen einen Blick zu, der vor allem Hoffnung in sich trug, doch als sie sich setzte, sah Enzig, dass ihre Hände zitterten. Sie hatte sich einem der Geiselnehmer entgegengestellt, sich damit aus der Menge herausgehoben. Dieser Gert würde sie fortan kennen und mit Argwohn betrachten.

      Enzig wusste, dass es Hans war, an den er sich halten musste. Der hatte beschwichtigt und eingelenkt, er war bereit zu reden, und deshalb mussten sie mit ihm verhandeln. Noch wirkte er sehr kontrolliert, andererseits war Enzig sicher, dass Hans nicht der Drahtzieher hier war. Doch Enzig dachte noch etwas anderes, nämlich dass er den älteren Herrn auf jeden Fall im Auge behalten sollte. Und eine weitere Sache hatte er in den letzten beiden Minuten ebenfalls entschieden: Er würde Sito nicht schreiben, dass Miriam hier war. Soweit er informiert war, hatte Miriam das spontan entschieden, und für den Fall, dass Sito nicht Bescheid wusste, sollte das auch so bleiben. Auch die Geiselnehmer sollten auf keinen Fall von ihrer Verbindung zum zuständigen Hauptkommissar erfahren.

      Das Smartphone in seiner Tasche fühlte sich hart und heiß an, doch das war nur Einbildung. Immerhin hatte er eine Nachricht schreiben können. Wer wusste schon, wie viele Chancen er dazu noch bekam?

      ***

      Sibylle Hundhammer saß in ihrem Hotelzimmer und ging ihre Rede noch einmal durch. Sie hatte schon einige Reden gehalten, aber das heute war eine Nummer größer. Das Fernsehen würde sie begleiten, auch hatte sie zivilen Personenschutz. Mehrere tausend Menschen wären dabei, der Ministerpräsident wollte kommen, es war ihr großer Tag. Greta hatte ihr am Morgen schon eine Nachricht geschickt und alles Gute gewünscht. Kraft und Mut und Nachhaltigkeit in ihren Worten.

      Sibylle atmete tief durch. Sie stand auf und ging zum Fenster, öffnete es und sah auf den Rhein hinaus. Ein schönes Zimmer mit Blick auf den See oder den Fluss hatte sie sich von den Veranstaltern gewünscht, etwas Kleines, nur nicht im mondänen Inselhotel, wo sie sich wie eine Betrügerin an der Sache vorgekommen wäre. Das ehemalige Dominikanerinnen-Kloster, das zum feudalen Hotel umgebaut worden war und den Blick auf die Uferpromenade bot, war kein Ort, an dem sich Sibylle auf eine Rede zur Nation über Mäßigung des Lebensstandards vorbereiten wollte.

      Der Duft des Wassers tat gut, befreite ihre Lungen. Möwen flogen vorbei und kreischten. Die kleine Pension im ehemaligen Fischerviertel von Konstanz bot einen Blick auf den Rhein und die gegenüberliegende Uferseite, wo früher Fabriken die Sicht zerstörten. Heute lagen dort Die Bleiche, ein schönes Restaurant mit Biergarten am Rheinufer, die Rheinterrassen des Volksbades, der Herosé-Park und seit ein paar Jahren auch die große Wohnanlage sowie das noch junge Bodenseeforum, in dem sie heute sprechen würde. Eindrucksvoll war es schon, ob es die Stadt Konstanz wirklich zu einer Kongressstadt werden ließ, war fraglich. So viel hatte Sibylle in der Presse mitbekommen. Elf Säle konnte man mieten im Bodenseeforum, der größte bot Platz für zweitausend Personen. Dort würde sie sprechen. Es gab außerdem eine Liveschaltung in andere Säle und nach draußen, denn sie rechneten mit wesentlich mehr Menschen.

      Sibylle legte den Kopf in den Nacken. Sie könnte jetzt auch wie ihre Freundinnen in einer Vorlesung sitzen. Ein Semester hatte sie in Freiburg Theaterwissenschaften studiert, dann aber feststellen müssen, dass sie nicht die innere Ruhe besaß, sich mit trockenem Lehrstoff abzugeben, während draußen aus ihrer Sicht die Welt den Bach runterging. Dieses Gefühl, das sie seit ihrer frühesten Jugend kannte, dass man doch etwas tun musste und dass es letztendlich doch darum ging, den Menschen da draußen die Augen zu öffnen, hatte sie nicht mehr losgelassen.

      Sie hatte Gretas Aufstieg verfolgt, und ihre Bewunderung für die fünf Jahre jüngere Greta war unermesslich. Nicht weil sie alles einfach so hinnahm, ihre Bewunderung richtete sich vor allem an die Bereitschaft, sich aufzumachen und die eigene Komfortzone zu verlassen. Ein Jahr war es nun her, dass Sibylle ihr Studium auf Eis gelegt hatte und sich ausschließlich um die Organisation der Fridays-for-Future-Bewegung in Deutschland kümmerte. Ihr Talent zu reden hatte sie von ihrem Vater, einem Soziologieprofessor, äußerlich war sie ihrer Mutter, einer Kinderärztin, ähnlich. Dass offenbar viele Menschen sie gern


Скачать книгу