Still schweigt der See. Tina Schlegel
Fridays-for-Future-Bewegung geworden war.
Unten auf der Uferstraße sah sie eine kleine Gruppe Enten über den Weg watscheln. Ein Radfahrer hielt an und ließ die Gruppe passieren. Er sah zu ihr nach oben. Lachend zuckte er mit den Schultern. Die Entenmutter schnatterte ungeduldig.
Sibylle griff nach dem Band, das vor ihr auf der Fensterbank lag, und machte sich einen Pferdeschwanz. Hellblau leuchtete die Schleife in ihren dunklen langen Haaren.
***
Die Pressekonferenz war kurz und schmerzlos und hatte nur wenige Minuten in Anspruch genommen. Längst war landesweit über eine Eilmeldung verbreitet worden, dass sich in Konstanz an der Universität in den frühen Morgenstunden eine Geiselnahme ereignet habe. Den Kommissaren Marc Busch und Paul Sito sowie dem Polizeipräsidenten Simon Jäger blieb nur die Bestätigung des Tatbestandes. Sie versicherten, dass alle notwendigen Schritte in die Wege geleitet würden, um die Geiseln nicht zu gefährden, dass ab sofort aber aus eben diesem Grund eine polizeiinterne Nachrichtensperre verhängt werde, da man nicht wisse, wie die Geiselnehmer mit der Außenwelt in Kontakt stünden. Man bitte die Presse, sich zurückzuhalten, auch wenn die Geiselnahme quasi live im Internet mitzuverfolgen sei.
»Denken Sie an Gladbeck«, mahnte Jäger, und Sito konnte Augenrollen im Publikum sehen. Sätze wie »Das waren andere Zeiten« und »Heute wäre das alles ganz anders« und »Überhaupt ist dieser Fall hier ohnehin schon öffentlich« standen den Anwesenden ins Gesicht geschrieben.
Derzeit sei leider nach wie vor unklar, wie viele sich an der Universität verschanzt hatten. Dafür habe die Polizei eine Hotline eingerichtet, hier könnten besorgte Menschen anrufen, wenn sie Angehörige unter den Geiseln vermuteten. Diese Bekanntgabe könne die Presse selbstverständlich immer wieder teilen. Bedauerlicherweise bestehe zum jetzigen Zeitpunkt noch völlige Unklarheit über die Forderungen. Man versprach, spätestens um zwölf Uhr eine weitere Meldung herauszugeben. Die Demonstration sowie der Klimaschutzgipfel seien nicht gefährdet, sondern schon seit Langem minutiös geplant und absolut sicher.
Noch während Jäger sprach, piepste Sitos Smartphone. Unter dem Tisch warf Sito einen flüchtigen Blick darauf, dachte, es könnte von Miriam sein, die irgendwo in Gaienhofen am Seeufer saß und womöglich noch keine Ahnung hatte, was hier bei ihnen los war. Ein schönes Foto von ihr, ein lieber Gruß, das hätte ihm auf jeden Fall Mut gemacht. Aber es war eine Nachricht von Enzig. Sito zuckte zusammen. Auf den ersten Blick konnte er nur ein Buchstabenchaos erkennen, aber sofort gab er Busch und Jäger ein Zeichen, dass sie dringend an dieser Stelle abbrechen müssten.
»Ein Notfall«, erklärte Jäger und verließ eilends den Raum, Busch und Sito folgten im Laufschritt. Um neun Uhr einundfünfzig saßen sie an Sitos Schreibtisch und studierten Enzigs Nachricht.
»Wir wissen also, dass der Kollege sein Dienst-Smartphone behalten hat. Das ist schon mal gut«, stellte Jäger fest und beugte sich über Sito.
Busch fuhr mit dem Finger die Zeilen nach. »Was könnte das heißen?«
»Ich nehme an, er hatte nicht viel Zeit«, erklärte Sito unnötigerweise und mit einem ernsten Blick auf Busch.
»Ts«, machte Busch und verdrehte die Augen, »das ist mir auch klar. Ich wollte nur sagen, dass ich es nicht lesen kann.«
»Das finden wir raus«, erklärte Jäger. »Hoffentlich kann Enzig sein Smartphone eine Weile behalten.«
»Das hoffe ich auch«, sagte Sito. Er machte sich Notizen und tauschte die Buchstaben, die in der Reihe standen, sinnvoll aus und um. »Hier: Es sind sechs Geiselnehmer, und hier, das heißt sicher bewaffnet. Unklar … Was soll das heißen?«
»Anführer«, rief Jäger, der die Buchstabenkombinationen im Kopf durchgespielt hatte. Er kannte das Problem, wenn er seiner Tochter WhatsApp-Nachrichten schrieb, da kamen oft wilde Sachen heraus.
»Stimmt«, sagte Busch. »›Unklar, wer der Anführer ist‹, schreibt Enzig.« Busch richtete sich auf. »Wir haben also sechs bewaffnete Männer im Audimax und laut Sekretärin rund fünfzig Menschen. Das sind schlechte Voraussetzungen für einen Sturm.«
»Absolut«, ereiferte sich der Polizeipräsident, »aber so weit sind wir auch noch lange nicht.«
»Ich hab nur laut gedacht«, sagte Busch. »Wir müssen alles durchspielen.«
»Ich weiß.« Jäger schnaufte schwer, dann nickte er. »Sie haben vollkommen recht. Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Wir werden auf jeden Fall auch einen Plan ausarbeiten. Für einen Sturm, meine ich. Hatten Sie schon Kontakt mit dem SEK? Wer ist denn der Einsatzleiter heute?«
Sito nickte. »Georg Moller. Ich hab mit ihm telefoniert, er hat bereits alles, was er braucht – Baupläne, Infos von Zimmermann aus dem Netz. Sie arbeiten bereits an den möglichen Szenarien. Aber wir haben jetzt einen Mann inside, das könnte uns einen Vorsprung verschaffen.«
Jäger stemmte die Hände in die Hüften. »Er riskiert sein Leben.«
»Ich weiß«, sagte Sito. Er hoffte, dass dieser Mann inside cool genug war für diese Aufgabe. Er wusste, dass Enzig klar sein würde, worauf es ankam, aber er wusste eben auch, dass Enzig nicht der nervenstärkste Kollege war, eigentlich besaß er überhaupt keine Nerven. Am besten war er, wenn er allein an seinem Schreibtisch denken und arbeiten konnte, dann war er wirklich überragend, aber so? Sito rieb sich das Kinn. Er spürte einen unangenehmen Druck in der Magengegend.
»Du machst dir Sorgen, nicht wahr?« Busch legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Sito sah nach oben und hob die linke Augenbraue. »Roman ist nicht gerade –«, begann er.
»Hören Sie, haben wir irgendeine Möglichkeit, mit einer Drohne in die Universität zu gelangen? Irgendein Zugang für eine Kamera?«, fragte Jäger. »Ich will wissen, was da vor sich geht. Und für den Fall, dass wir stürmen –«
Sito drehte sich in seinem Schreibtischstuhl um und sah zu Jäger auf. »Sie sprechen jetzt doch schon vom Ernstfall?«
Jäger nickte. »Sie wissen, dass das hier keine normale Geiselnahme ist. Die werden nicht gleich ein wenig Geld und ein Fluchtauto fordern.« Er kramte in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch und schnäuzte. »Und ich will nur gute Vorarbeit geleistet haben, wenn das SEK hier eintrifft. Lang wird es nicht mehr dauern, oder?«
Sito sah zur Uhr und schüttelte den Kopf. »Nein, Sie haben vollkommen recht. Es geht sicher nicht um Geld.« Er stand auf und holte sich eine Tasse Kaffee. »Ich hab mit Moller schon gesprochen wegen der Drohne. Die Möglichkeit besteht natürlich, aber noch nicht jetzt. Der Einsatzleiter vom SEK hat eindeutig davon abgeraten, vor der ersten Forderung hier aktiv zu werden. Wir müssen erst wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
»Ja, verstehe.« Jägers Atem klang rasselnd.
Ein Klingelton verkündete eine weitere Nachricht. Sie sahen alle gleichzeitig auf das Smartphone von Sito, das mitten auf dem Tisch lag. »Roman Enzig«, stand da. Sito ballte kurz die Fäuste. Er wusste, dass er ab jetzt bei jedem Klingeln seines Handys zusammenzucken würde, immer mit dem Gefühl, Roman sei aufgeflogen. Die neue Nachricht von Enzig war schon klarer verfasst: »Ein Geiselnehmker nent sic Hnas. Mitihn kannman reden. Ein alter Mann ist hier. Merkwürddg. Passt niht dazzzu.«
Sito sah von Jäger zu Busch.
»Das war schnell«, sagte Busch anerkennend.
5
10 Uhr bis 11 Uhr
Der Blick aus dem Fenster auf den Rhein war ihr nicht mehr genug. Fast kam es ihr so vor, als sei das Zimmer in der Pension kleiner geworden. Sie sah noch einmal nach unten auf den Uferweg, grinste und entschied sich für die Freiheit. Schnell packte Sibylle ihre Geldbörse, eine Packung Taschentücher und ein Buch ein. Sie würde gewiss keine Ruhe finden zum Lesen, aber es vermittelte ihr ein Gefühl von Normalität.
Mit einer dünnen Jacke schlenderte sie am Schänzle entlang, betrachtete die Möwen und Enten zwischen all den Booten auf dem Rhein. Ein paar Radler kamen ihr entgegen,